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Marco Rostek

33 TAGE

Der letzte Sommer

des alten Europa

ROMAN


ISBN 9783990402542


Wien – Graz – Klagenfurt ©

2014 by Styria premium in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Alle Rechte vorbehalten.

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

Lektorat: Elisabeth Blasch Layout: Marion Mauthe Covergestaltung: Bruno Wegscheider Bildnachweis: S. 328/​1: Deutsches Bundesarchiv, Bild 183 - 2004-1110 - 500/​Wikimedia commons. S. 328/​5: IMAGNO/​ÖNB. S: 329/​1: Bassano/​Wikimedia commons. 329/​5: Nicola Perscheid/​Wikimedia commons. S. 330/​3: Harris & Ewing/​Wikimedia commons. S. 330/​4: Carl Pietzner/​Wikimdia commons. S. 330/​5: The Times History of the War, New York, 1915. S. 331/​4: Koller/​Wikimedia Commons. Alle übrigen: Wikimedia Commons. Coverfoto: Foto Hofer, Ischl

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Montag, 29. Juni, Feiertag „Peter und Paul“

Dienstag, 30. Juni

Mittwoch, 1. Juli

Donnerstag, 2. Juli

Freitag, 3. Juli

Samstag, 4. Juli

Sonntag, 5. Juli

Montag, 6. Juli

Dienstag, 7. Juli

Mittwoch, 8. Juli

Donnerstag, 9. Juli

Freitag, 10. Juli

Montag, 13. Juli

Sonntag, 19. Juli

Montag, 20. Juli

Dienstag, 21. Juli

Mittwoch, 22. Juli

Donnerstag, 23. Juli

Freitag, 24. Juli

Samstag, 25. Juli

Sonntag, 26. Juli

Montag, 27. Juli

Dienstag, 28. Juli

Mittwoch, 29. Juli

Donnerstag, 30. Juli

Freitag, 31. Juli

Samstag, 1. August

Epilog

Anhang

Weitere Bücher

PROLOG

Für den Bruchteil einer Sekunde scheint es, als wäre alles Leben erstarrt. Für den Bruchteil einer Sekunde herrscht eine unheilvolle, atemlose Stille. Nur das monotone Brummen des Motors ist zu vernehmen. So plötzlich wie der erste folgt der zweite Schuss.

***

Die sommerliche Hitze hatte ein atmosphärisches Flimmern über die Straßen der Stadt gelegt. Die unangenehme Enge in der Masse und die staubige Luft erschwerten das Atmen, trotzdem hatten sich große Menschenmengen an beiden Seiten der Straße versammelt, um einen Blick auf die Wagenkolonne zu werfen. Viel Zeit war vergangen, seit der letzte Repräsentant der regierenden Familie mit seinem Besuch der Stadt und dem Land die Ehre erwiesen hatte. Zudem war der Sonderzug mit den hohen Persönlichkeiten verspätet eingetroffen und nach der Ankunft hatte es noch eine Weile gedauert, bis die seit dem Frühjahr Angekündigten endlich die Waggons verließen. Es folgte die dem hohen Rang des Besuchs entsprechende formelle Begrüßungszeremonie: Ehrenbezeugung, Hymne, Flaggenparade, Begrüßungsformeln, Abschreiten der Ehrenformation. Danach war man in sieben bereitgestellte offene Wagen gestiegen, die hohen Herrschaften, ein Mann und eine Frau, hatten im dritten Wagen auf den hinteren Sitzbänken Platz genommen. Der Besitzer des Wagens selbst saß ebenfalls im Fond, neben ihm der ranghöchste Offizier und örtliche Landeschef. Nach einer kurzen Einweisung zur Route hatten die Fahrer die Motoren angelassen und die Kolonne hatte sich in Bewegung gesetzt.

***

Kaum ist der zweite Schuss verhallt, gerät mit einem Schlag eine unheimliche Aktivität, ein hektisches Treiben in die Masse. Menschen schreien auf, Autotüren werden aufgerissen und knallen wieder ins Schloss, Befehle erschallen in einer für das Land fremden Sprache. Während die einen zum betroffenen Fahrzeug hindrängen möchten und von Uniformierten daran gehindert werden, stürzen sich andere auf einen jungen Mann, den man als den Schützen identifiziert hat, und reißen ihm die Waffe aus der Hand. Er hat sich schon früh am Tag entlang der Wegstrecke der Wagenkolonne postiert und auf seine von langer Hand vorbereitete Gelegenheit gewartet. Als er seine Chance kommen sieht, drückt er ab.

Wieder ertönen Rufe, Hälse werden gereckt, Menschen springen hoch, um sich einen Überblick über das Geschehen zu verschaffen. Der Mann auf der Rückbank des Autos greift sich an den Hals und versucht, das pulsierend herausströmende Blut zu stoppen. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er entsetzt seine Begleiterin an, die sich langsam nach vorne beugt und, die Hände auf den Bauch pressend, regungslos zusammensackt. Helfer eilen herbei, versuchen bei beiden die Blutungen zu stillen. Wieder erschallen Befehle, und während man den Attentäter verhaftet und vor der Lynchjustiz der aufgebrachten Menge in Sicherheit bringen muss, setzt sich der Wagen mit dem schwer verletzten Paar in Bewegung und rast davon.

In der Ferne ertönt der Glockenschlag einer Kirchturmuhr. Eine junge Mutter, die etwas abseits steht, nimmt ihren kleinen Sohn auf den Arm, damit er den Schwarm Vögel beobachten kann, der durch das plötzliche Läuten aufgeschreckt worden ist. Die Vögel ziehen steil himmelwärts, ändern abrupt ihre Richtung, stürzen wieder erdwärts, um sich endlich nach einigen Minuten Irrflug in einem Baum nahe des Konak niederzulassen. Kaum kehrt Ruhe ein, zwingen heranrasende Automobile mit heulenden Motoren den Schwarm erneut zur Flucht. Auch am Boden setzt hektisches Treiben ein. Während Männer wild gestikulierend aus den Fahrzeugen springen und rufend ins Haus hetzen, scharen sich andere um den ersten Wagen und starren hilflos auf die darin liegenden Personen. Ein Mann, aufgrund seiner Uniform als ranghoher Militärarzt zu erkennen, eilt herbei und untersucht die Verletzten. Während der Mann noch schwach atmet, kann bei der Frau nur mehr der Tod festgestellt werden. Der Sterbende und der Leichnam seiner Gattin werden ins Haus gebracht und man legt sie Seite an Seite in eine provisorisch eingerichtete Bettstatt. Fieberhaft kämpft man um das Leben jenes Mannes, der sein Land und seine Familie in die Zukunft führen soll. In der beklemmenden Atmosphäre weicht bei den zur Untätigkeit verurteilten Begleitern des hohen Paares langsam der Schock und wird durch eine alles durchdringende Fassungslosigkeit ersetzt, die unaufhaltsam die Gedanken in eine Richtung lenkt: „Es ist vermeidbar gewesen …“

 

***

Bereits kurz nach der Abfahrt vom Bahnhof hatte es den ersten Zwischenfall an diesem Tag gegeben, den die hiesige Bevölkerung seit dem Mittelalter als Feiertag zur Befreiung von einer Unterdrückung beging. Man hatte eine Bombe gegen das Auto der Besucher geworfen. Nur der Geistesgegenwart des Mannes, eines leidenschaftlichen Jägers, war es zu verdanken, dass der Vorfall glimpflich ausgegangen war. In meisterhafter Selbstbeherrschung hatte er die Bombe, die sein Leben beenden sollte, jedoch am Verdeck des Wagens liegen blieb, zurück auf die Straße geschleudert. Die Detonation hatte zu Leichtverletzten im nachfolgenden Automobil geführt, die umgehend in ein Krankenhaus gebracht wurden. Ein geplanter Empfang im Rathaus war zwar pflichtgemäß abgehalten worden, doch danach wollte man auf Wunsch des hohen Besuchs die Verletzten besuchen. Die drängenden Apelle der um die Sicherheit besorgten Begleiter waren abgewiesen worden. Daraufhin hatte man neue Anweisungen erteilt und trotz geänderter Fahrtrouten aber keine zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen befohlen. Um 10:45 Uhr war man vom Rathaus abgefahren.

Die Bevölkerung hatte davor geduldig gewartet, die Begeisterung war erneut aufgebrandet, als man vorüberfuhr. Nichts, so sagten die Augenzeugen später aus, hätte auf weitere mögliche Attentatsversuche hingedeutet. Doch als man kurz darauf aufgrund mangelnder Ortskenntnis falsch abgebogen und, den Irrtum bemerkend, stehen geblieben war, um zurückzusetzen, war ein junger Mann aus der Menge hervorgetreten und hatte eine Pistole gegen die Personen im Wagen gerichtet. Aus kurzer Distanz war der erste Schuss erfolgt.

***

Langsam erhebt sich der Arzt vom Bett, dreht sich um und blickt suchend zu den Umstehenden. Sein Blick fällt auf den ranghöchsten Offizier und Landeschef. Dessen Orden und Auszeichnungen auf der Galauniform weisen ihn als Offizier im Generalsrang aus. Sie heben und senken sich durch die hastige Atmung ihres Trägers in schnellem Rhythmus. Der Arzt tritt auf den Offizier zu und meldet mit brechender Stimme den Tod des schwer verletzten Mannes. Wieder, nun zum zweiten Mal, herrscht an diesem Sonntag atemlose Stille.

Der Offizier, Feldzeugmeister Oskar Potiorek, blickt, durch eine lange militärische Ausbildung geschult, reflexartig auf seine Uhr. In Sarajevo, am 28. Juni 1914, ist es soeben 11:10 Uhr geworden.

MONTAG, 29. JUNI, FEIERTAG „PETER UND PAUL“

„Schon wieder Verwicklungen mit Serbien!“ Der Gedanke, der immer wieder durch seinen Kopf geistert, klingt fast verzweifelt. Während er sich erschöpft auf die Rückbank des Automobils sinken lässt, fährt der Fahrer mit dem Wagen langsam die Schlossallee hinunter und biegt nach kurzem Stopp in die Straße Richtung Karlsbad. Von dort geht es weiter nach Wien, das sie nach drei Stunden Fahrzeit erreichen werden.

Graf Leopold Berchtold, der k. u. k. Minister des Äußeren, sitzt im Fond und versucht, seine Gedanken zu ordnen. Die bevorstehenden Stunden der Fahrt werden die ersten ungestörten sein, seit gestern am frühen Nachmittag die unfassbare Nachricht aus Sarajevo eingetroffen ist. Der Graf neigt seinen Kopf und blickt aus dem Fenster, lässt die Landschaft vorbeiziehen. Wieder schießt ein Gedanke durch seinen Kopf, der seinen Magen verkrampfen und die Atmung schwer werden lässt: „Ich muss mich jetzt endlich diesem Problem stellen …!?“ Obwohl er, seit er im Februar 1912 die Nachfolge des Grafen Aehrenthal als Leiter des Auswärtigen Amtes angetreten hat, schon einige schwierige Phasen bewältigt hat, scheinen nun die schwersten Tage seiner Amtsführung auf ihn zuzukommen. Der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, sind in Sarajevo von einem jungen Fanatiker ermordet worden. Immer wieder zieht diese Schreckensmeldung vor seinem geistigen Auge vorbei. Beim Gedanken an die letzten Stunden spürt Graf Berchtold, wie seine Schläfen pulsieren und ihn gleichzeitig die Müdigkeit übermannt. Die unruhige Fahrt wird durch die hohe Geschwindigkeit des Wagens noch verstärkt, denn er hat seinem Fahrer Anweisung gegeben, bis spätestens 17:30 Uhr das Ministerium in Wien zu erreichen. Immer wieder schreckt er aus seinen Gedanken hoch und erinnert sich an die Bürde seines Amtes. Seine Ausbildung und die Erfahrungen der letzten Jahre in Russland haben ihn gelehrt, auf katastrophale Ereignisse dieser Art vorbereitet zu sein. Mit der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers ist nun das bei Weitem Schlimmste eingetreten. „Dieses Mal muss ich Stärke zeigen!“ Sein Gesicht spiegelt sich fahl im Fenster des Automobils. „Ein weiteres Anzeichen politischer Schwäche kann ich mir in meiner Position nicht mehr leisten“, murmelt er vor sich hin, während er versucht, seine Gedanken zu sammeln. Er richtet sich auf, öffnet seine Aktentasche und beginnt, sich auf die bevorstehenden Treffen in Wien vorzubereiten.

***

Er saß gerade im Arbeitszimmer im 2. Stock seines Schlosses in Buchlau und wollte sich auf den planmäßigen Ministerrat in der kommenden Woche vorbereiten. Die Stimmen der Kinder, die vom Garten zu ihm heraufdrangen, stellten seine Konzentrationsfähigkeit immer wieder hart auf die Probe und lassen nun im Rückblick ein Lächeln in seinem Gesicht erscheinen. Am frühen Nachmittag schließlich rang er sich dazu durch, das Fenster zu schließen, um sich voll auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Als er gerade am Fenster stand, fiel sein Blick auf eine Staubwolke, die durch ein heranrasendes Automobil verursacht wurde. Den Blick nicht davon abwendend, spürte er Unheil heraufziehen. Durch die abgelegene Lage seines ehemals als Jagdschloss erbauten Anwesens konnte die Notwendigkeit für eine derart lebensbedrohende Geschwindigkeit nur mit ihm und seiner Funktion als Minister des Äußeren in Verbindung stehen. Als der Wagen für einen Moment hinter einer Baumgruppe verschwand, schloss er die Fenster und ging die Treppen hinunter in die Empfangshalle.

Immer wieder musste er das Telegramm lesen und zwei Mal befragte er den Überbringer zur Richtigkeit. Mit voller Wucht traf ihn die Tragweite des Gelesenen. Einen Moment lang brach eine Gedankenflut über ihn herein, ließ ihn zweifeln und ob des Bevorstehenden Ratlosigkeit aufkommen, aber er fasste sich bewundernswert schnell. Seine Erziehung, die Ausbildung und die langjährige Erfahrung im diplomatischen Korps hatten dazu geführt, dass er diesmal schnell und umsichtig handelte.

***

Ruckartig bewegt sich das Automobil über die Straße, sodass Graf Berchtold immer wieder seine Notizen korrigieren muss. Er sieht hinaus und erkennt, dass sie bereits auf Pressburg zufahren. Mit Blick auf seine Uhr stellt er beruhigt fest, dass noch genügend Zeit bis zu seinem ersten Termin verbleibt. „Anton, ich danke dir für die zügige Fahrt bis hierher, aber nun ist die Raserei nicht mehr erforderlich. Bis Wien ist es nicht mehr weit und wir können es geruhsamer angehen. Bitte, bring mich direkt zum Ballhausplatz, die Fahrt in die Wohnung, wie ursprünglich vorgesehen, kann entfallen.“

Anton Brauer ist seit seiner Kindheit bei der Familie Berchtold und genießt daher ganz besonderes Vertrauen. Er hat als Stallknecht beim Vater des jetzigen Grafen Berchtold begonnen, und als die ersten Automobile ins Schloss gekommen sind, hat er sich dafür sofort begeistern können – entgegen dem Wunsch seines Vaters, wie er stets betont. Seit nunmehr fünf Jahren ist er der Fahrer des Grafen, wann immer er im Schloss ist. Das ist freilich selten genug, denn seit der Graf aus St. Petersburg wieder zurück ist, verbringt er zwar mehr Zeit als zuvor zu Hause, aber die Aufgaben als Minister des Äußeren schränken seine karge Freizeit stark ein. Die meiste Zeit des Jahres kümmert sich Anton daher um die Fahrzeuge des Grafen, ohne dass sie jemand wirklich benötigen würde.

„Jawohl, Herr Graf, ganz wie Sie wünschen“, antwortet Brauer und fragt nach: „Belieben der Graf vor der Ankunft im Ministerium noch was zu essen?“ „Danke der Nachfrage“, gibt Berchtold zurück und blickt von seiner Arbeit auf. Den Hintergedanken der Frage erkennend, beugt er sich vor und fährt fort: „Sobald du mich abgesetzt hast, kannst du dir den restlichen Abend freinehmen. Ich erwarte dich morgen um zehn Minuten vor neun vor der Wohnung.“ Einen Moment innehaltend, fügt Berchtold hinzu: „Und bitte bring mir die Morgenzeitungen mit!“ Erleichtert darüber, dass der Graf seine Andeutung wieder einmal richtig verstanden hat, reduziert Brauer die Geschwindigkeit des Wagens und steuert, Unebenheiten auf der Fahrbahn geschickt ausweichend, Wien entgegen. Leopold Berchtold vertieft sich wieder in die Unterlagen für seine abendlichen Termine. Um 18 Uhr soll der Chef des Generalstabes ins Ministerium kommen. Der Gedanke daran lässt Berchtold unruhig werden. Er legt den Stift beiseite und wischt sich eine imaginäre Haarsträhne aus der Stirn. Franz Conrad von Hötzendorf ist der Erste gewesen, der auf seine Telegramme nach Wien reagiert hat. Er, Berchtold, hätte es wissen müssen. Conrad, von der Haarspitze bis zu den Fußsohlen pflichtbewusster Soldat, hat ihn in seiner umgehenden Telegrammantwort wissen lassen, dass er jederzeit für eine Aussprache verfügbar sei. Conrad hat Franz Ferdinand zu den Manövern in Bosnien begleitet und ist der Letzte gewesen, der den Erzherzog vor dessen Aufbruch nach Sarajevo am 28. Juni gesehen hat. Jetzt ist ihm natürlich daran gelegen, dass man auf die Situation angemessen reagiert. Ihm, Berchtold, wäre in dieser angespannten Lage ein einfacherer Beginn der Unterredungen lieber, aber nun heißt es, sich darauf entsprechend vorzubereiten. Die Gedanken wandern einmal mehr zum gestrigen Nachmittag.

***

Nachdem er das Telegramm in seiner umfassenden Konsequenz erfasst hatte, ging er zu seiner Frau und teilte ihr die Tragödie mit. Sie fiel ihm um den Hals und beide gaben sich für einen Moment der Trauer und dem Mitleid mit den hinterbliebenen Kinder des Thronfolgerpaares hin. Sie waren gute Bekannte des Erzherzoges und seiner Gattin. Ganz anders als sein Vorgänger hatte Berchtold ein gutes Einvernehmen mit Franz Ferdinand und die beiden Damen verstanden sich vorzüglich. Leopold Berchtold hatte sich am Tag zuvor extra Zeit für seine Frau genommen, denn die Familie war trotz seiner Karriere immer der wichtigste Bestandteil seines Lebens. Seine Gattin unterstützte ihn immer, so gut sie es vermochte, und die vier Kinder waren ihrer beider ganzer Stolz. Jetzt, so erkannte er, musste er ihr klarmachen, was bevorstand. Wenn die erschütternden Nachrichten stimmten, wenn sich die Gerüchte verdichteten, wenn noch Weiteres ans Tageslicht kommen sollte, dann, das wusste er von der ersten Sekunde an, dann stand das Schicksal der Monarchie auf dem Spiel. Und diesmal, dessen war er sich sofort im Klaren, durfte er nicht zaudern.

***

Der 51-Jährige blickt wieder nach vorn und atmet tief ein. Beim Gedanken an seine Frau und die Kinder erfüllt Wärme sein Herz. Nur mit ihrer Liebe und Treue, da ist er sich sicher, wird er das Bevorstehende durchhalten und Entscheidungen fällen können, von denen er jetzt schon weiß, dass sie getroffen werden müssen, auch wenn sie weitreichende Konsequenzen haben werden. Wenn er die Lage richtig einschätzt, dann wird der gestrige Moment mit seiner Frau der letzte innige für einen langen Zeitraum gewesen sein.

***

Für geraume Zeit standen sie wortlos, eng umschlungen im Salon des Schlosses, und als Leopold Berchtold seiner Frau schließlich einen zarten Kuss auf die Stirn gab, um in sein Arbeitszimmer zu gehen, wo ihn seine Pflicht erwartete, flüsterte sie ihm zu: „Vergiss die Kinder nicht …“

In seinem Arbeitszimmer schrieb er dann eine Vielzahl von Telegrammen an die unterschiedlichsten Verantwortungsträger im Lande, unter anderem an den Kaiser, den neuen Thronfolger Erzherzog Karl, den Ministerpräsidenten und eben an Conrad. Dieser antwortete umgehend, sodass bereits für den folgenden Abend ein Treffen vereinbart wurde.

***

Graf Berchtold macht sich Notizen über Conrad und das bevorstehende Gespräch. Als Botschafter in St. Petersburg hat Berchtold gelernt, sich auf seine Termine gewissenhaft vorzubereiten. Er hasst nichts mehr als unliebsame Überraschungen. Insofern ist das bevorstehende Gespräch mit dem Chef des Generalstabes ein leichtes Spiel, denn wenn man eines bei Conrad nicht befürchten muss, dann sind es Überraschungen. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1906 weiß die ganze Monarchie, wofür Conrad steht. Er hat seine Wertvorstellungen, Überlegungen und Ziele eins ums andere Mal in Denkschriften und Memoranden in aller Öffentlichkeit klargestellt. Nur mit Mühe und allerhöchsten Verfügungen hat Conrad immer wieder im Zaum gehalten werden können. „Nun, so wie es aussieht“, schlussfolgert Berchtold still in sich hinein, „hätten wir wohl besser auf ihn hören sollen …!“

 

„Herr Graf“, Brauer reißt Berchtold mit einer Frage aus den Gedanken, „in der Zeitung steht, dass der Attentäter ein Serbe ist. Diese Schandtat dürfen wir uns doch nicht gefallen lassen, viele sind in Aufruhr. Werden wir gegen Serbien zurückschlagen?“ Leopold Berchtold klappt die Mappe zu, sieht seinen Fahrer an und entgegnet: „Lieber Anton, Entscheidungen mit dieser Tragweite sind nicht durch Einzelpersonen zu fällen, sondern erfordern krisengerechte Abläufe in den dafür geschaffenen Gremien. Und schließlich entscheidet zuletzt Seine Majestät, unser Kaiser. Nicht alles, was in den Zeitungen steht, kann man für bare Münze nehmen und ich bitte dich, ab jetzt mit deinen Aussagen ganz besonders vorsichtig zu sein. Besonders in Gegenwart anderer Personen.“

Berchtold hält kurz inne und überlegt, wie weit er seinen Chauffeur ins Vertrauen ziehen soll. Intuitiv entscheidet er sich dagegen und fährt mit einer allgemein gehaltenen Warnung fort: „Anton, eine neuerliche Balkankrise ist bei den Machtverhältnissen, wie sie in Europa derzeit vorliegen, eine sehr gefährliche Angelegenheit.“ Der Minister blickt gespannt über den Rückspiegel in Antons Augen. Wilde Entschlossenheit und die tiefe Furcht vor möglichen Konsequenzen lassen seine Stimme erzittern, als er fortfährt: „Durch die gegenwertigen Bündnisse, die die Großmächte in Europa eingegangen sind, kann unsere Reaktion auf diese abscheuliche Tat zu einer europäischen Krise führen. Und nur Gott allein weiß, wohin das führt!“

Brauer ist verunsichert. So emotional hat er seinen Chef schon lange nicht mehr erlebt. Die weitere Fahrt bis zum Ministerium, so überlegt er, wird er wohl besser schweigen. Mittlerweile haben sie die Stadtgrenze von Wien passiert und Brauer fährt mit gedrosseltem Tempo durch die Straßen der Stadt. Die Hitze an diesem Feiertag lässt die Temperatur im Fahrzeug rasch ansteigen, sodass Berchtold im Fond das Fenster öffnet und sich durch die Zugluft ein wenig Kühlung im Wageninneren erhofft. Das Treiben auf den Straßen, in den Cafés sowie auf den Plätzen, an denen sie vorbeifahren, lässt ihn keinen Unterschied zu anderen Tagen erkennen. Nichts deutet auf die Katastrophe von Sarajevo hin. Im Gegenteil. Als sie am Prater vorbeifahren, lässt Berchtold den Wagen anhalten. Er steigt aus, geht einige Schritte um den Wagen herum und stellt verwundert fest, dass selbst hier alles seinen gewohnten Gang nimmt. Keine Spur von Trauer und Fassungslosigkeit. Die Belustigungen und Vergnügungen werden dem Feiertag entsprechend ausführlich konsumiert und das schöne Wetter trägt das seinige zur allgemeinen Heiterkeit bei. Gedankenschwer steigt der Minister wieder in den Wagen. Es ist allgemein bekannt, dass Franz Ferdinand in der Bevölkerung nicht sehr beliebt gewesen ist, aber eine derartig geringe Resonanz auf seinen Tod hat er nicht erwartet.

Um 17:18 Uhr biegt Brauer vom Ring in Richtung Ballhausplatz ab, fährt am Hofburgtheater vorbei und erreicht kurz darauf das Ministerium des Äußeren. Die Ankunft des Ministers wird bereits erwartet, denn kaum hält das Automobil, stürmt ein Adjutant vor das Haus und öffnet die Wagentür, um Berchtold herauszuhelfen. Dieser nimmt seine Aktentasche mit den Notizen und verabschiedet sich von Brauer, nicht ohne diesen nochmals an die morgige Abholzeit und die zu besorgenden Morgenzeitungen zu erinnern. Als der Wagen abfährt, bleibt Berchtold am Straßenrand stehen und hält inne. Er blickt hinüber zur Hofburg. Die Hitze der Abendsonne lässt die Luft zittern, ein Windstoß wirbelt Staub und etwas Laub auf und lässt beides in kreisförmigen Bewegungen höher steigen, um alles schließlich in einer Hausecke sanft abzulegen. Sein Blick fällt auf die Fahnenmasten der Hofburg, wo seit gestern schwarze Flaggen auf Halbmast wehen. Tief durchatmend wendet sich Berchtold um und geht zügigen Schrittes ins Haus.

Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigt ihm, dass bis zur Ankunft des Chefs des Generalstabes noch circa eine halbe Stunde verbleibt. Auf dem Weg zu seinem Büro eilt ihm bereits ein weiterer Mitarbeiter des Außenamtes entgegen, um ihn, während sie die Treppen und Gänge entlangschreiten, über die Ereignisse der vergangenen Stunden zu informieren. Trotz des Feiertags seien bereits die meisten Mitarbeiter im Haus und verrichteten, dem traurigen Anlass entsprechend, ihren Dienst. Unzählige Telegramme seien eingegangen, unter anderem vom deutschen Ministerpräsident und vom deutschen Außenminister, von allen in Wien ansässigen Botschaftern und auch vom serbischen Geschäftsträger, wie der Assistent sich hinzuzufügen beeilt. Darüber hinaus kämen immer neue Nachrichten aus Sarajevo, die als Urheber der Tat immer stärker Belgrad ausweisen. Mittlerweile seien sechs Personen verhaftet worden. „Sechs!“, entfährt es Berchtold, während er überrascht stehen bleibt. „Aber das ist ja dann eine Verschwörung und nicht das Attentat eines Einzelgängers!“ Für einen kurzen Moment entweicht die Farbe aus seinem Gesicht und Berchtold sieht seinen Mitarbeiter fassungslos an. „Für sechs Personen braucht es Organisation, Koordination und einen Plan! Wehe uns, wenn dieser tatsächlich aus …“ Er spricht seine Gedanken nicht zu Ende, sondern hastet, gefolgt von seinen Mitarbeitern, ins Büro.

Hinter seinen Schreibtisch sitzend und auf die Uhr blickend, instruiert er seinen engsten Beraterstab: „Meine Herren, in 17 Minuten, Sie wissen, Conrad erscheint immer fünf Minuten vor der Zeit, wird dieser hier sein. Bis dahin wünsche ich einen präzisen Überblick!“ Berchtold schlägt seine Mappe auf und greift nach einem Stift. Der Reihe nach berichten seine Mitarbeiter über die Ereignisse in Sarajevo, die wichtigsten Meldungen aus den europäischen Hauptstädten sowie die Reaktionen in der Monarchie. Er hört dabei von der Festnahme eines gewissen Gavrilo Princip und weiterer fünf Personen. Zudem wird erläutert, dass man die Leichname von Franz Ferdinand und seiner Gattin von Sarajevo per Eisenbahn an die Küste transportiert und diese von dort mit der Viribus Unitis, dem Flaggschiff der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, nach Triest überführen wird. Von dort werden sie, abermals mit der Eisenbahn, nach Wien gebracht. „Erwarteter Ankunftstag in Wien ist der 2. Juli“, stellt ein Mitarbeiter abschließend fest. Leopold Berchtold stellt einige Fragen zu den Attentätern, die von seinen Mitarbeitern nur ungenügend beantwortet werden können. Man verweist auf die laufenden Untersuchungen und die stündlich eintreffenden Telegramme aus Sarajevo.

„Wie sicher sind die Angaben über die Verbindungen nach Belgrad?“, fragt Berchtold in die Runde, spricht dabei aber keinen Mitarbeiter direkt an. Mit dem Finger auf das Porträt seines Vorgängers zeigend, fügt er mahnend hinzu: „Und ich will eine zuverlässige Auskunft!“ Niemand antwortet. Berchtold steht auf und geht zum Fenster. Während er hinausblickt, erinnert er sich an den sogenannten Friedjung-Prozess, der schließlich seinen Vorgänger das Amt kostete. Man hatte damals versucht, Aufruhrbestrebungen in Kroatien mithilfe geheimdienstlicher Beweismittel mit Serbien in Verbindung zu bringen. Im Zuge des darauffolgenden Prozesses wurde man zum Gespött der Öffentlichkeit und der europäischen Mächte, als herauskam, dass die Beweismittel Fälschungen waren. Einem Desaster solchen Ausmaßes zu entgehen, ist nun Berchtolds erster Gedanke. Seine Mitarbeiter erahnen dies zwar, können zu diesem Zeitpunkt seine Bedenken jedoch nicht zerstreuen. Die Meldungen aus Sarajevo seien noch nicht überprüft, daher wäre es wohl besser, noch keine offiziellen Verlautbarungen zu machen.

In diesem Moment erscheint ein Wagen vor dem Ministerium, ein Mann in Uniform steigt, ohne das vorgesehene Türöffnen eines Ministeriumsangestellten abzuwarten, aus und eilt ohne weitere Verzögerung ins Haus. Berchtold dreht sich zu seinen Mitarbeitern um. „Der General ist eingetroffen, ich bitte Sie, mich spätestens um 19:30 Uhr zu unterbrechen. Um 20 Uhr beginnt der Sonderministerrat, bereiten Sie dafür alles Weitere vor!“

Die Mitarbeiter verlassen das Büro. Berchtold stimmt sich auf die Unterredung ein und redet sich nochmals selbst ins Gewissen: „Ich darf diesmal keine Schwächen zeigen! Ein Feldzug, der sich womöglich zu einem europäischen Krieg auswächst, ist die letzte Option, darauf muss ich bestehen!“ Der Minister des Äußeren, stets auf sein Erscheinungsbild bedacht, rückt seinen Schlips zurecht und entnimmt aus seiner Aktentasche das Papier mit den Notizen, als es an der Tür klopft. Nach seiner Aufforderung tritt ein Mitarbeiter ein und meldet die Ankunft seines Besuchs. Graf Berchtold lässt bitten und geht einige Schritte zur Tür. Es ist 17:59 Uhr, als Franz Conrad von Hötzendorf, der Chef des Generalstabes der gemeinsamen Armee, das Büro von Leopold Berchtold betritt.

Berchtold bleibt stehen und streckt seinem Gast die Hand entgegen. Mit festem Händedruck, die Augen nicht voneinander lassend, stehen sich die beiden gegenüber. Conrad, einen Kopf kleiner als Berchtold, ist in seiner Generalsuniform erschienen, steht aufrecht und selbstbewusst vor Berchtold und blickt diesem argwöhnisch in die Augen. Berchtold, den Blickkontakt abbrechend, weist seinem Gast einen Sessel an der Besucherseite seines Schreibtisches zu, wartet, bis sich dieser gesetzt hat, und geht erst dann um seinen Schreibtisch herum. Dieses kleine taktische Geplänkel bewirkt, dass Berchtold noch steht und Conrad sitzend zum Minister des Äußeren aufschauen muss, als er, von diesen Nebensächlichkeiten unbeeindruckt, selbstbewusst das Gespräch eröffnet. Seine Stimmlage, seine Körperhaltung und sein Gesichtsausdruck weisen auf einen Mann hin, der gewohnt ist, die Führung zu übernehmen und die vollständige Verantwortung für seine Handlungen zu tragen. Conrad kommt daher gleich zu Sache: „Exzellenz, dass wir uns unter diesen Umständen wieder treffen, konnte keinesfalls erwartet werden, aber nun liegt ein Attentat auf die Monarchie vor, das den gesamten Staat in seiner Existenz bedroht. Wir müssen sofort handeln! Und …“, Conrad beugt sich nach vorne und legt seine Handschuhe auf Berchtolds Schreibtisch, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, „nach meiner Ansicht besteht dieser sofortige Schritt in der Mobilisierung gegen Serbien!“

Berchtold rückt beim Hinsetzen umständlich seinen Stuhl zurecht und bemerkt, den zweiten Satzteil Conrads ignorierend, dass mit diesem Attentat wahrlich nicht zu rechnen gewesen sei. Mit der Absicht, Zeit zu gewinnen, fragt er anschließend Conrad, wie sein Kenntnisstand über das Attentat sei und was Feldzeugmeister Potiorek aus Sarajevo berichtet habe. Conrad erläutert in knappen und präzisen Ausführungen seine aktuellen Informationen zu den Untersuchungen in Sarajevo und schließt mit den Worten: „Es ist unvermeidlich, dass wir auf diese Provokation reagieren, auch wenn diese der Monarchie zum aktuellen Zeitpunkt ungelegen kommt. Aber, das füge ich nachdrücklich hinzu, eine Tat wie diese ist niemals gelegen!“ Conrad blickt Berchtold geradewegs in die Augen.