Echnaton im Feuersturm

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Echnaton im Feuersturm
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Mario Monteiro

ECHNATON IM FEUERSTURM

Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

ISBN 9783957444875

Titelzeichnung © João Carlos Macedo

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Treibjagd auf Swobenka

Die Tigertatze

Rhapsodia Sudamericana

Kometen bringen Glück

Der Herr mit der goldenen Kette

Fracht nach Algier

Freiflug nach Antwerpen

Echnaton im Feuersturm

Fichte Natur mit Bittermandel

Wer den Gegner nicht kennt

Das Präparat aus der Hölle

Phantomina

Die Gitarristin von Montélimar

Der Alte auf Burg Falkenstein

TREIBJAGD AUF SWOBENKA

»Zum Teufel!« Bis ins Vorzimmer hörte man die Bärenstimme. Kaum war Roney Maxwell vom Mittagessen zurück, spannte die Hose schon wieder an allen Ecken und Enden. Wenn das so weiter geht, wird er bald wieder eine neue Uniform brauchen. Doch davon abgesehen, brachte ihn die Mitteilung des heutigen Vormittags völlig aus dem Konzept. Wutschnaubend landete seine Faust auf dem Schreibtisch, nachdem er den massiven Körper in den viel zu engen Sessel gezwängt hatte.

»Dass denen nichts anderes einfällt, als diesen Drecksprozess ausgerechnet in Sandstone durchführen zu wollen!« Die Stimme des Ortsgewaltigen dröhnte bis ans andere Ende seines Amtssitzes, und dies obwohl noch niemand wissen konnte, was innerhalb der nächsten 24 Stunden auf sie warten könnte.

Nur Sheriff Maxwell quälte sich mit dieser Geschichte schon seit Tagen, bis es ihn selbst in wirren Träumen plagte.

Und so wie es aussah, wird die Schießerei ganz unvermeidlich sein. Hier in Sandstone, in dem stets friedlichen Städtchen. Denn so viel war heute schon klar. Diese Kerle werden den Kronzeugen wie einen Hasen abknallen, bevor er ein einziges Wort zu Protokoll geben kann. Wenn diese Mafiosi den Burschen nicht vor dem Prozess liquidieren, dann wird sie Richter Johnson im Handumdrehen für mehr als zehn Jahre ins Gefängnis schicken.

Maxwell starrte verbissen auf die Uhr. Unaufhaltsam rückten die Zeiger vor. In knapp vierundzwanzig Stunden wird das halbe FBI mit dem Kronzeugen in Sandstone eintreffen.

Sheriff Maxwell zermarterte seine Neuronen. Den Doktor musste er rumkriegen! Daran tüftelte er jetzt schon den halben Tag herum. Schließlich hatte er sich durchgerungen. Wie von einer Wespe gestochen, riss er sein Handy aus der Jackentasche. »Verbinden Sie mich mit dem Hospital!«

*

Mit drei Stunden Verspätung brauste der Montana Express wie ein Orkan in den Süden. Maxwell stapfte auf dem Bahnhof hin und her. Technische Probleme an der Einfahrt in einen Tunnel habe es gegeben. Mehr konnte er vom Stations-Chef in Sandstone nicht erfahren. Und derlei Märchen kannte Maxwell schon lange. Mit hundert Möglichkeiten im Kopf, starrte er in die Dämmerung. Hinter der kleinen Kapelle zogen grauschwarze Wolken herüber. Minuten später prasselte strömender Regen auf die Dächer von Sandstone.

»All devil! Das fehlte ihm noch!« Mit den Nerven an der Reißleine raste er ins Büro und blieb dort am Stadtplan hängen. Wie wäre das Schlimmste noch zu verhindern?

Die Elfer-Gruppe vom FBI fragte sich das Gleiche, während der Montana-Express in den Süden schoss. Auch Eric Swobenka war sich klar über sein Schicksal. In dieser Nacht war er der gesuchteste Mann in den ganzen Staaten. Mit halb geschlossenen Lidern hockte er im Schneidersitz, mit einem dicken Filztuch umwickelt auf dem Boden des Gepäckwaggons.

»Immer mit der Ruhe«, beruhigte ihn Captain Fredric. »Wir werden das Kind schon schaukeln.«

Ein weiterer Becher Kaffee konnte nichts schaden. Hinter aufgestapelten Sandsäcken zählte Swobenka die Stöße der Räder unter den Schienen. Mit der Stoppuhr in der Hand zählte er Viertelstunde um Viertelstunde ab. Sandsäcke sind vollendeter Quatsch, redete er sich ein. Wie war das denn beim Prozess gegen die Manelli-Bande! Alles hatten sie damals vorgesehen. Und was nützte das Ganze? Ein paar Minuten, bevor der Express Chicago erreichte, hatten die Burschen den halben Express hochgehen lassen, nur um den wichtigsten Zeugen Stunden vor dem Prozess zu erledigen.

Okay, gab es nicht genügend Flugzeuge? Sicher, so lange sie nicht abstürzten. Aus unerklärlichen Gründen. So wie es immer war. Und in Sandstone hatten sie schließlich keine Landebahn.

*

Vierzig Minuten nach Mitternacht. Sie löschten die meisten Lampen im Bahnhof von Sandstone. Zu nächtlicher Stunde war hier so viel wie kein Betrieb. Noch vier Minuten; dann fuhr der Express, aus Richmond kommend, in Sandstone ein. Nur ein paar Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen vertrieben sich den Schlaf auf dem Bahnsteig. Sie standen in Gruppen zusammen und waren kaum von der Riege des FBI zu unterscheiden. Unauffällig, mit stahlharten Augen, in grauen Flanellanzügen verpackt, warteten sie auf den Mann, den es zu beschützen galt.

Keiner der Reisenden, die zu dieser Zeit in Sandstone aussteigen sollten, wird ihnen entgehen. Und solche Burschen, die Kronzeugen abknallen, kommen gewöhnlich nicht per Bahn.

Endlich war es so weit. Eric Swobenka trottete mit der ungewohnten Kugelweste, grau in Flanell bekleidet, den Hut tief ins Gesicht geschoben, hinter dem Elektrokarren her, umringt vom FBI. Er fühlte sein Herz unter der Gurgel pochen, während sie vier Minuten später vor der hölzernen Treppe standen. Alles war einfach in Sandstone. Siebzehn Stufen waren es bis in die untere Halle. Schalter und Automaten, eine abgeschlossene Gepäckaufgabe, bei Nacht außer Betrieb. Die Sicht nach draußen war durch massive Gittertüren blockiert. Swobenka blickte auf die Schatten der mit laufenden Motoren wartenden Wagen.

»Gehen Sie in der Mitte«, flüsterte ihm einer der Polizisten zu. Zwei Beamte des örtlichen Sheriffs flankierten ihn. Maxwells Leute, die jeden Quadratmeter von Sandstone im Kopf hatten. Swobenka hielt Schritt mit seinen Bewachern. Schneller noch, hin zu den Wagen, keine fünfzig Meter mehr.

Man wartete auf Eric Swobenka und auf keinen anderen. Wie war er nur in all dies hineingeraten?

Ein unerwarteter Blitz hüllte den Bahnhofsplatz in gleißendes Licht. Taghell für zwei Sekunden. Jenseits des Bahnhofs hatten sich Millionen Volt im Trafo entladen. Ein ohrenbetäubender Schlag und dann … alles in nachtschwarzer Dunkelheit.

Eric Swobenka wurde ganz kurz vom grellen Licht der Scheinwerfer geblendet. Schon stand er vor der Wagenkette. Was machte der Minitransporter knapp neben ihm?

Kreischende Bremsen, irgendwo aufgerissene Türen. Zwei weitere Fahrzeuge, ein Motorrad. Sie blockierten die Abfahrt der schwarzen Wagen. Mündungsfeuer automatischer Waffen blitzte durch die Nacht. Irgend jemand stieß Swobenka zu Boden. Neben sich hörte er gellende Rufe, Schreie, Befehle. Er wurde in einen Wagen gezerrt. Wo war er jetzt? Blut drang durch sein Hosenbein, dann versank er im Dunkeln.

*

Seit Stunden standen durchnässte Reporter vor dem Lazarus. Sie hatten nur noch eine knappe Stunde. Bis dahin mussten die Morgenausgaben ihrer Blätter auf den Straßen sein. Umfassende Berichte hatten die Redakteure verlangt. Was war in Sandstone geschehen. Wo war der Kronzeuge. Lebte er noch? Oder war er längst tot? Entführt? Natürlich nicht. Sie raubten keine Menschen. Sie schossen sie über den Haufen.

Kameras und TV-Geräte befanden sich schussbereit vor dem kleinen Hospital. Die halbe Nacht hatten sie sich vor der »Intensiven« um die Ohren geschlagen. Gerüchte wurden von Reporter zu Reporter weitergegeben. Alles umsonst. Zwei Sanitäter und eine Krankenschwester hatten eine Bahre in der Dunkelheit über den Hof geschoben. Ein regloser Körper unter dicken Decken. Jedes Aufsehen sei zu vermeiden – das war die Devise vom FBI.

 

Dann war das Heer der Presseleute, die seit den Schüssen auf dem Bahnhofsplatz das kleine Sandstone in Aufregung versetzten, unerwartet verschwunden. Wie stand es um Swobenka?

James, den erfahrensten Mann ihrer Gruppe, hatten sie in der vierten Etage vor Zimmer 711 postiert. Burt sollte ihn in zwei Minuten ablösen. Inzwischen war es kurz vor vier. Die Nachtschwester lächelte, als sie dem Sicherheits-Beamten eine Tasse Tee servierte. Ein schickes Mädchen. James war fasziniert. Die Schwester von vorhin war längst nicht so nett. Also hatten sie mittlerweile das Personal gewechselt. Selbst der Tee, den sie James servierte, schmeckte ganz anders.

»Damned!« Das fehlte ihm noch. Warum rebellierte sein Magen so plötzlich? James sah auf die Uhr. Nicht in ganz einer Minute musste Burt hier sein. James hielt die Hand vor den Mund und rannte los. Die Toilette war doch keine zwanzig Schritte entfernt. Und Burt war sicher schon im Lift. Das war er auch . Doch zwischen der zweiten und dritten Etage hielt der Aufzug wie von Geisterhand.

»Um Himmels Willen!« Burt haute gegen die Tür. Wo war der verteufelte Alarmknopf? Weshalb funktionierte er nicht? Nichts passierte. Er war im Lift gefangen und irgend einer hatte James in der Toilette eingeschlossen. Das konnte nur diese verdammte Nachtschwester gewesen sein. Der hämmerte gegen die Tür Zwei Fußtritte hinterher. Die Tür war aus Stahl.

Zwei Minuten später war es geschehen. Die Todesschützen traten die Tür zum Krankenzimmer ein und feuerten auf das Bett. Mit leeren Magazinen hasteten sie über den Gang in Richtung Feuertreppe. Der Kopf des Opfers war bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt.

*

Vor dem kleinen Amtsgericht drängten sich Tausende. Von überall her waren sie nach Sandstone gekommen. Wer wollte sich schon dieses Schauspiel entgehen lassen. Rundfunkstationen und Fernsehgesellschaften hatten zum Aufsehen erregendsten Prozess des Jahres ein großes Treffen arrangiert. Von New Mexico bis nach Montana gab es kein anderes Thema. Punkt neun war es soweit.

»Ich rufe den Zeugen Eric Swobenka«, verkündete Richter Johnson mit klarer Stimme.

Fünf Angeklagte, hinter eiligst aufgebautem Stahlgitter mit Handschellen aneinander gefesselt, sahen sich in ihre Gesichter. Dann grinsten sie und kicherten hörbar. Teuflischer Spott machte sich auf ihren Fratzen breit. Und dann erstarrten sie.

Gestützt auf einen Sanitäter, begleitet von Sheriff Maxwell und einem Assistenten hinkte der Schwerverletzte in den Gerichtssaal. Eric Swobenka trat in den Zeugenstand.

»Das war der schwerste Tag in meinem Leben«, murmelte er nach langem Schweigen, als er im Chevrolet des Sheriffs durch Sandstone fuhr. »Während Ihr mich in der Kinderklinik retteten, ist ein anderer für mich gestorben.«

Maxwell schwieg lange. Erst nach einigen Minuten fing er wieder an. »Wir haben die beiden noch erwischt, als sie hinter der Feuerleiter über den Stadtgraben flüchten wollten.«

»Wenigstens das«, antwortete Swobenka etwas erleichtert. »Na ja,« meinte der Sheriff. »die werden jetzt verurteilt … wegen Ruhestörung und verbotenem Waffenbesitz und natürlich … wegen Leichenschändung.«

Swobenka sah den Sheriff verständnislos an. »Leichenschändung?«

»Was denn sonst?« Maxwell schmunzelte seit langem wieder. »Wissen Sie, ich lasse in unserem Sandstone ungern auf lebende Menschen schießen. Nur deshalb hab ich mir im Kühlhaus einen toten Ganoven ausgeliehen.«

***

DIE TIGERTATZE

Der kunstvoll vergoldete Adlerkopf warf einen gespenstischen Schatten durch das Labor des weltweit bekannten Ägyptologen. Drei Stunden nach Mitternacht bewegte sich im unteren Teil des bekannten Hauses eine Tür. Der Professor, an häufige Nachtarbeit gewohnt, begab sich leise in die unteren Räume und richtete für eine halbe Minute den Lichtstrahl seiner Taschenlampe über Tausende von Jahren alte Figuren und pharaonischen Halsketten. Der Wissenschaftler griff zum Lichtschalter. Zu spät! Schnell wie ein hungriger Tiger, legte Bernhard Polle seine mächtigen Tatzen um den Hals des Professors. Der Atemluft beraubt, sank der Forscher in Sekunden zusammen. So kam es dazu, dass Heinz Birnbaum Millionen scheffelte und Polle zwei Jahrzehnte im Gefängnis verbrachte.

Zwanzig Jahre später

Das hochgewachsene gazellenhafte Mädchen flitzte zur Tür, um den unerwarteten Besucher zu empfangen.

»Blöder Kerl!«, rief sie dem Buben nach, der das Gartentor bereits zugeschlagen hatte und die enge Straße des eleganten Viertels hinunter rannte. Dann erst bemerkte die Privatsekretärin das flache Päckchen, das zugeklebt und gut verschnürt vor der Haustür lag.

FÜR HEINZ BIRNBAUM stand in unbeholfenen Buchstaben auf einem grünen Zettel, den ein Unbekannter auf das grobe Rupfentuch geklebt hatte.

»Was ist das?« fragte der Millionär, als seine Sekretärin mit der seltsamen Sendung in das elegante, holzgeschnitzte Büro zurück kam.

»Ich weiß es nicht.« Birnbaum wunderte sich über die knappe Information.

»Nun gut. Wer schickte es denn?«

»Kein Absender drauf«, antwortete sie kurz. »Genau so lag es vor der Haustür.« Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen, erzählte sie nichts von dem kleinen Jungen, der so schnell die Straße hinuntergerannt war.

»Seltsam«, murmelte Birnbaum. »Ich erwarte keinen.« Und dabei schien ihn irgend etwas zu beunruhigen. Der hagere, schon etwas gebeugte Fünfziger erhob sich vom Sessel und nahm die seltsame Sendung in die Hand. »Ich will mir das doch gleich mal ansehen.«

Doch zwei kurze Telefonate, die seine Absicht unterbrachen und der kurze Besuch des freundlichen Nachbarn hielten ihn zunächst davon ab.

Gegen Nachmittag zogen Gewitterwolken auf und bald dämmerte es.

»Gleich wird es anfangen zu regnen«, meinte das Mädchen. Ein greller Blitz zuckte durch Birnbaums Arbeitszimmer. Dann ein ohrenbetäubender Schlag, der sie zusammenfahren ließ.

»Du kannst jetzt gehen«, erlaubte er dem Mädchen, denn es war inzwischen kurz vor sechs. Dann erst, als er sich allein im Zimmer wusste, befasste er sich mit der geheimnisvollen Sendung.

Es war das Bildnis eines Mannes, das ihn an die Vergangenheit erinnern sollte und ihm nun drohend entgegensah. Wuchtige Kinnladen umschlossen einen großen, fast tierischen Mund mit blutrot aufgeworfenen Lippen und einer fleischigen Boxernase. Graugrüne Augen flackerten in tiefen Höhlen und dichte Brauen wölbten sich unter einer mächtigen Gorillastirn, die nichts verhieß als brutale Gewalt.

Alles in allem ein lebensnahes Bild von Bernhard Polle. Birnbaum begann zu zittern und starrte auf die riesenhaften Hände, die sich ihm entgegen streckten.

Friedrich Backhaus hatte von Anfang an nicht daran gezweifelt. »Das ist fast ein Drohgemälde«, flüsterte er seinem Vetter ins Ohr. »Die zwanzig Jahre sind nun eben um.«

Auch Vetter Backhaus studierte minutenlang die schreckliche Fratze auf dem Bild und blickte zuweilen in das bleiche Gesicht Birnbaums. »Polle ist jetzt ein freier Mann.« Wenn er sich wirklich rächen wolle, wird er nicht aufzuhalten sein, meinte Backhaus. Dabei fiel ihm die Uhr auf, die der Künstler des Bildes im Hintergrund gemalt hatte. Die Zeiger deuteten auf zwei und in der Ecke links oben entdeckten sie die Nummer 276. Backhaus schien das nicht zu verstehen. »Die Nummer?« fragte er seinen Vetter. »Was soll denn diese Nummer bedeuten?«

Birnbaum schien die Frage überhört zu haben. Backhaus gab nicht nach. »Heinz«, fragte er ein zweites Mal. »Sag mir schnell! »2 …7 … 6 Was soll denn das?«

Birnbaum sah auf. Wie abwesend starrte er vor sich hin. Befand er sich vielleicht zum zweiten Mal in jenem Zimmer, als sie sich den goldenen Adlerkopf holten. Damals vor 22 Jahren.

»Es war am 27. Juni«, keuchte Birnbaum »… ein paar Stunden nach Mitternacht.«

Jetzt saß er zusammengefallen an seinem Mahagoni-Tisch und ließ die Finger langsam über die kostbare Platte gleiten. Kalter Schweiß perlte über seine Stirn, während der auf das schreckliche Bild stierte. War die Vergangenheit dabei, ihn einzuholen?

»Du bleibst doch bei mir, wenn er … kommt?«

»Das ist doch klar.« Friedrich Backhaus war der letzte noch lebende Verwandte des Millionärs. Dabei hatte ihm Heinz Birnbaum schon vor Jahren erlaubt, in der Villa zu wohnen. Viel mehr als das. Als eingefleischter Junggeselle hatte er sich das sogar gewünscht. Aus diesem Grund waren beide Vettern schon vor Jahren überein gekommen, Backhaus dürfe sich im oberen Stock eine kleine Wohnung einrichten. Jetzt jedoch, in der kritischen Stunde sieht Backhaus wie Birnbaum als wahres Nervenbündel durch das Haus schleicht. So versucht er seinen Vetter zu beruhigen. Beim Anblick des Furcht erregenden Bildes entschließen sie sich sofort, das Fernsehzimmer zu einer Festung auszubauen. Backhaus verschraubt als erstes die Fensterläden mit schweren Brettern. So wird es unmöglich sein, dass Polle aus dem Garten in das Zimmer eindringt. Mit einer alten Armeepistole in der Hand, lächelt er seinem Vetter zu.

»Lass ihn nur kommen!« Birnbaum starrt immer noch unentwegt auf die einzige Tür des Raumes, die sie mit einem schweren Eichentisch verrammeln. Bei Anbruch der Nacht beginnt es wieder zu regnen. Stunden verrinnen in qualvollem Warten. Hilflos und bleich kauert Birnbaum im Ledersessel, blickt auf die verrammelten Fenster, dann wieder zur Tür, sieht auf Backhaus, der inzwischen eingenickt ist. Im Morgengrauen, kurz vor vier, richtet sich Birnbaum auf und rüttelt an Backhaus’ Schultern. Es ist einwandfrei zu hören. Backhaus fährt aus dem Schlaf.

»Ich habe ihn gehört«, piepst Birnbaum »Er ist im Haus.«

Backhaus schleicht mit entsicherter Waffe an die verrammelte Tür, nimmt dort die Hand an sein Ohr, um genau zu hören. »Tatsächlich«, flüstert er. Auch Backhaus hört die Schritte auf der Treppe. »Er muss im Hause sein.«

»Pst. Er ist auf der Treppe, hörst du nicht?« Birnbaums Stimme ist nur noch ein leises Piepsen. Dann knarren Stufen. »Da wieder«, flüstert er hinter Backhaus stehend. Schweigend stehen sie vor der Tür und hören die Stufen knarren. Das konnte nur Polle sein.

Langsam, Schritt auf Schritt scheint er jetzt die Treppe herab zu steigen. Birnbaum zittert um sein Leben. Jetzt gleich, jetzt muss er unten sein, doch auf dem dicken Teppich in der Diele können sie schließlich nichts mehr hören.

Die beiden Männer im verrammelten Zimmer halten den Atem an. Birnbaum verkrallt sich im Ledersessel,. Backhaus sitzt mit entsicherter Waffe neben ihm und richtet den Lauf der Pistole auf die Tür. Wird der Unheimliche im nächsten Moment die Tür aufbrechen, dann über den Eichentisch springen, um Birnbaum anzufallen und sein Werk zu vollenden?

Kann Polle mit seiner Bärenkraft alles überrumpeln, selbst unter Bedrohung der Schusswaffe vor ihnen stehen und sie beide zerreißen? Schwach, wie ein nasser Lappen hängt Birnbaum vor seinem Vetter, während Backhaus nur unauffällig auf Birnbaums schlotternde Knie sieht.

»Sollen wir nicht nachsehen?« fragt Backhaus leise.

Birnbaum fährt erschreckt zusammen. War sein Vetter total verrückt geworden? »Nein, um Gottes Willen. Nicht … bitte!« Nur mit dieser alten Pistole in der Hand. Was könnten sie damit gegen Polle ausrichten? Backhaus legt die Waffe beiseite. Kam es auf eine weitere Stunde an? So lehnt er sich zurück und schläft von Neuem ein. Vom nahen Kirchturm schlägt es fünf, als Backhaus die Augen öffnet.

»Noch etwas warten«, fleht ihn Birnbaum an. Als sie es schließlich riskieren, den Tisch leise beiseite zu ziehen, ist es halb sechs. Friedrich Backhaus tritt mit entsicherter Waffe hinaus auf den Korridor. Durch die Ritzen des Fensterladens schimmert das Licht des anbrechenden Tages.

»Schlafen gehen!«, raunt Backhaus und lief auf die Treppe zu. Birnbaum schlurft todmüde zum Ausgang in den Garten. Etwas frische Luft wird ihm gut tun, meint er jetzt. So riskiert er ein paar Schritte hinaus auf den Rasen. Nach und nach entweicht die Spannung der vergangenen Nacht. Ruhig blickt er auf den Rasen. Die glasklaren Perlen des taufrischen Grases waren das letzte, was Heinz Birnbaum von dieser Welt gesehen hatte.

*

Kommissar Hellwig kletterte mit denkbar mieser Laune aus dem Ranger. Ein Wunder war es nicht. Kurz vor Mitternacht war es ein blödsinniger Dirnenmord, der ihn aus dem Bett riss, kaum hatte er sich hingelegt. Als er dann auf Birnbaums Rasen erschien, traf er die Kollegen der Mordkommission schon vollzählig an.

»Guten Morgen die Herren«, mimte er Munterkeit. »So früh schon am Werk?«

 

»Na ja, Herr Hellwig, ein anderer war schon vor uns hier«, versuchte der Fotograf anzubringen, erregte jedoch nur Hellwigs Missfallen. Um dem Schlimmsten aus dem Weg zu gehen, knipste er noch ein paar Aufnahmen des Toten, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Rasen lag.

»Hier habt ihr das Opfer angetroffen?« fragte Hellwig als erstes. Daran hatte keiner gedacht. Doch der vor kurzem geschorene Rasen zeigte keinerlei Schleifspuren.

»Also nicht weit von jener Tür, die von der Diele in den Garten führt. Hellwig machte sich Notizen. »Übrigens Doktor. Sie sprachen am Telefon von Würgespuren?« Die Frage war an Dr. Bellinghaus gerichtet. »Stimmt das wirklich?« Der Arzt bestätigte. »Mir scheint übrigens, auf der rechten Seite hat er stärker zugepackt«

»Aufnahmen gemacht, junger Mann?« schoss der Kommissar auf den Fotografen zu.

»Jawohl, Herr Hellwig!«

»Sie sagten, er, Dr. Bellinghaus? Könnte es nicht eine sie gewesen sein?«

Dr. Bellinghaus war dabei die Frage zu verneinen, zog es jedoch vor, momentan zu schweigen und lediglich mit einer unsicheren Kopfbewegung seine Unsicherheit auszudrücken. »Sehen Sie mal hier rechts, sehen Sie sich das mal ganz genau an.« Aha, ich sehe schon etwas. Ist das nicht … so etwas wie …«

»Ein Ring … ein Fingerring«, flüsterte Dr. Bellinghaus.

» also keinerlei Handschuhe. Sehr interessant«, folgerte Hellwig, »keine Angst, identifiziert zu werden oder nur eine Affekthandlung. Nun ja, wir werden ja sehen.«

»Wann starb der Mann nach Ihrer Meinung?« Die Frage war an Dr. Bellinghaus gerichtet.

»Vor zwei Stunden vielleicht. Viel länger sicher nicht.«

»Hm, machte Hellwig und sah zu Bellinghaus hinüber. Wenn man als Arzt immer nur Tote angucken muss …« Aber wenn es darum ging, die Todeszeit zu ermitteln, dann war Bellinghaus einsame Spitze.

»Wer hat den Toten denn zuerst entdeckt«, wollte der Kommissar als erstes wissen.

»Der Gärtner, Herr Kommissar«, meldete sich ein Wachtmeister, der vom Nachtdienst kam und sich auf dem Heimweg befand. Der Gärtner sei auf die Straße gerannt und ihm geradewegs in die Arme gelaufen. Ganz kopflos sei der Mann gewesen, behauptete der Polizist.

Friedhold stand in seinen Gummistiefeln und mit der grünen Schürze an der Wand des kleinen Gartenhauses, den Blick starr auf den Kiesweg gerichtet. Kriminalassistent Besserer beobachtete ihn und vermutete, der Gärtner lausche angestrengt. Hellwig stopfte seine Pfeife und ging langsam auf den Mann zu.

»So, so. So war das also! Sie haben Herrn Birnbaum als erster gesehen?«

Der Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht und den kräftigen Armen traute sich nicht, sofort zu antworten. Vielleicht überlegte er lange, was er sagen sollte. Die Falten auf beiden Seiten der Mundwinkel vertieften sich. Endlich nickte er stumm.

»Und dann rannten sie im Eiltempo auf die Straße?«, drängte der Kommissar. »Warum denn so eilig?«

»Ich … ich wollte doch Hilfe holen.« Der Gärtner Friedhold zitterte und sah ängstlich in das Gesicht des Kommissars. »Polizei … Polizei holen wollte ich gleich.« Und plötzlich richtete er sich steil auf und flüsterte kaum hörbar: »Er hat Herrn Birnbaum umgebracht.«

»Umgebracht?«, fragte Hellwig schnell. »Woher wollen Sie wissen, dass Herr Birnbaum umgebracht wurde?«

Der Gärtner sah auf seine Gummistiefel, zog an seiner Mütze und fuhr mit beiden Händen aufgeregt über seine Schürze. Er wollte es doch sagen, wollte wirklich alles erzählen. Elfriede hatte ihm doch das mit dem Bild erzählt. Dieses schreckliche Gesicht von dem Kerl. Und dass Herr Birnbaum solche Angst gehabt hätte. Deshalb hätten die beiden Herren auch die Fenster so gut verrammelt.

»Warum sagen Sie nicht alles?«, fragte ihn Hellwig schroff. »Woher wissen Sie, dass Herr Birnbaum umgebracht wurde?«

»Ich … nein, Ich habe nichts getan.« Friedhold hatte solche Angst.

»Was ist mit dem Foto?«, machte Hellwig weiter.

»Kein Foto«, sagte der Gärtner leise. »So ein Bild … ein furchtbares Bild!«

Na ja, sagte sich Hellwig. Man muss ihm etwas Zeit lassen. »Was für ein Bild denn?«, hakte Hellwig nach.

»Aber ich weiß es doch nur von Elfriede«, sagte der Gärtner schnell.

»Wer ist Elfriede?«

»Die Köchin«, murmelte der Gärtner. »Sie kommt immer um acht.«

Hellwig sah auf die Uhr, betrachtete nebenbei die Schwielen an den kräftigen Händen des Gärtners. Wenn man sich diesen Mann genau ansah … Hellwig verjagte den Gedanken so schnell wie er gekommen war.

»Auf jeden Fall waren Sie als erster im Garten«, stocherte Hellwig weiter. »Vielleicht sogar zur gleichen Zeit, als Birnbaum sterben musste?« Hellwig sah ihn seltsam an, neigte den Kopf etwas zur Seite und stieß eine Tabakwolke aus. »Oder lebte er sogar noch, als Sie in den Garten kamen?«

»Nein Herr …« Ängstlich beteuerte er, nichts gesehen und nichts gehört zu haben und dabei fing er an zu weinen ohne vom Anblick auf den Toten loszukommen.

Ein greller Schrei riss Hellwig aus seinen Gedanken. Wie aus dem Boden geschossen, stand Elfriede plötzlich auf dem Rasen und sah sich der Truppe Hellwigs gegenüber, die hinter dem toten Birnbaum standen.

»Na erst mal guten Morgen«, wurde sie von Hellwig begrüßt. »Wie sind Sie denn hier hereinspaziert?«

»Mit dem Schlüssel natürlich«, japste sie. »So wie jeden Morgen.« Trotz des Entsetzens in ihren Augen, schien sie die Frage Hellwigs entrüstet zu haben. »Schließlich hab ich Schlüssel fürs ganze Haus«, sagte sie wichtig. »Und das seit zwanzig Jahren!«

Hellwig sah sie schweigend an, musterte nebenbei ihre Schuhe. Peinlich sauber geputzt, fiel ihm auf.

»So lange arbeite ich schon für Herrn Birnbaum.« Dann heulte sie los, nachdem sie erfahren hatte, was geschehen war. »Schrecklich, wie schrecklich das mit dem Herrn Birnbaum!«

»Aha«, meinte Hellwig leise. »Sie haben also Schlüssel für das ganze Haus?«, wollte Hellwig wissen.

»Natürlich … das heißt«, und damit verbesserte sie sich, »nur nicht zu den beiden Zimmern von Herrn Backhaus.« Es klang verbittert. »Der Herr Backhaus ist doch immer so komisch«, klagte sie.

Dann blickte sie ängstlich auf die Gruppe der Mordkommission und flüsterte Hellwig zu, dass Backhaus sie nur auf seine Zimmer lasse, wenn er dabei sei.

»Und wo ist denn dieser Herr Backhaus jetzt?«, wollte Hellwig wissen.

»Um diese Zeit ist er immer zu Hause«, setzte sie dreist hinzu und zeigte dabei auf die oberen Räume der teuren Villa. »Sein hellblauer Ford steht doch in der Garage.«

»Ach!«, rief Hellwig überrascht. »Da schläft der Vetter seelenruhig und im Garten liegt ein Toter!«

»Schläft wie ein Murmeltier«, bemerkte Kriminalassistent Besserer, als sie zum sechsten Mal an die Türen von Friedrich Backhaus klopften.

»Aufbrechen in diesem Fall!«, befahl Hellwig.

Dann standen sie vor dem Bett von Friedrich Backhaus. Der Gesuchte lag vollständig angekleidet auf dem Bett. Sein Mund war leicht geöffnet, doch er schnarchte nicht.

»Er kann nicht schnarchen«, erklärte Dr. Bellinghaus. »Denn er ist tot.«

»Ach du grüne Neune«, entfuhr es Hellwig und dabei blickte er auf die halb ausgetrunkene Tasse auf dem kleinen Ecktisch. Dr. Bellinghaus roch am Mund des Toten. »Wahrscheinlich ein schweres Alkaloid«, vermutete er sofort. »So vor knapp einer Stunde vielleicht.«

Elfriede saß weinend in der Küche, als sich Hellwig um sie kümmerte.

»Haben Sie endlich Herrn Backhaus geweckt?«, fragte sie leise.

Hellwig überhörte die neugierige Frage. »Sagen Sie mal, Frau Elfriede … wie ist das eigentlich mit dem Kaffee?«

Sie schien ihn nicht zu verstehen. »Ich meine, tranken die Herren denn morgens immer Kaffee? Sie hätten doch dann und wann auch Tee trinken können … oder Schokolade? Oder heiße Milch? Oder so etwas?«

»Nein, nein«, erfuhr er von Elfriede. »Kaffee, immer nur Kaffee«, bestätigte sie. »Immer Kaffee. Jeden Abend muss ich die Kanne vorbereiten. Kaffeepulver hinein geben und sonst nichts.«

Hellwig stützte sein Kinn in die Hand und überlegte. »Jeden Abend, sagten Sie?«

»Ja. Jeden Abend. Sehen Sie, Herr …«

»… Hellwig … sagen Sie immer nur Hellwig, das genügt.«

»Also abends, sehen Sie Herr Hellwig. In dieser Thermos-Kanne hier …« Elfriede wollte die Karaffe nehmen und offenbar fiel ihr erst jetzt auf, dass die Kanne auf dem Spülstein stand. »Das Ding steht doch sonst immer auf dem Küchentisch«, sagte sie nebenbei. »Haben Sie vielleicht …?«

»Nein.« Hellwig lächelte zum ersten Mal. »Ich habe nicht.« Warum wunderte sich die Frau? Warum stand die Kanne nicht auf dem Tisch? So wie immer?

»Nescafé«, erklärte sie. »Immer die gleiche Menge Pulver in die Kanne und kochendes Wasser drüber«, belehrte sie den Polizisten. »Jedes Kind kann das.«

Hellwig sah sie seltsam an. Jedes Kind kann das! Hatte sie nicht das gesagt? »Und wo haben Sie denn das Kaffeepulver stehen?«

Elfriede zeigte ihm die Dose.

»Die muss ich leider mitnehmen«, erklärte Hellwig.

Dann könne sie doch Herrn Backhaus keinen Kaffee machen, protestierte sie.

»Er wird keinen Kaffee mehr trinken«, sagte der Kommissar leise und entschied, ihr es jetzt zu sagen. Elfriede sank auf dem Küchenhocker zusammen und weinte wieder. Nun wird man sie wohl auch nicht mehr brauchen. Hellwig wartete, bis sie sich beruhigt hatte.