Sommer im Zauberwald

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Sommer im Zauberwald
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edition lichtland

© edition Lichtland

Umschlaggestaltung: Edith Döringer

Bild: Unholy Vault Designs/Shutterstock.com Satz: Kölbl Satz & Grafik

2. Auflage 2021

ISBN: 978-3-947171-33-0

eISBN: 978-3-947171-34-7

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Verlag: edition Lichtland

Stadtplatz 6, 94078 Freyung

Deutschland

www.lichtland.eu

Marianne Loibl

SOMMER IM
ZAUBERWALD


„Möchtest du Kekse?”, fragte Mama.

Stella antwortete nicht. Kekse im Auto! Das hatte Papa noch nie erlaubt. Zu viele Brösel! Doch jetzt widersprach er Mama nicht, sondern lächelte sogar in den Rückspiegel.

Stella schloss die Augen. Kleine Lichtpunkte huschten über ihre Lider, spielten Fangen mit den Schatten.

„Wir sind bald da”, sagte Papa.

Kurve um Kurve. In Stellas Magen kribbelte es. Sie hatte noch nichts gegessen und hatte dies auch nicht so bald vor.

Sollten doch mal alle sehen, was sie davon hatten, sie einfach im Bayerischen Wald zu parken. Jawohl! Fünf lange Wochen Sommerferien im Bayerischen Wald! Die kostbarsten Wochen des Jahres in der Pampa. Einziger Trost waren ihre Großeltern, bei denen sie die Ferien verbringen sollte. Doch mit fast dreizehn Jahren konnte selbst Bauernhof-Romantik nichts retten. Schon gar nicht, wenn die besten Freundinnen zu den interessantesten Orten reisten:

Anna in die Toskana, Julia flog nach Mallorca und Lisa sogar in die USA! Julia und Lisa hatten sich gebogen vor Lachen, als Stella erzählte, dass sie zu den Großeltern aufs Land fahren sollte.

„Wieso nehmen dich deine Eltern nicht mit nach Tokio?”, fragte Julia.

„Sie behaupten, dort wäre es zu hektisch für mich. Außerdem haben sie keine Zeit, weil Papa dort ein Büro aufbauen will und Mama und er den ganzen Tag arbeiten”, hatte Stella geantwortet.

Nur Anna hatte zu trösten versucht. „Haben deine Großeltern nicht Pferde? Ist doch toll, dann kannst du reiten!”

Stella hatte sich auf die Lippen gebissen. Jetzt auch noch erklären zu müssen, dass sie Angst vor Pferden hatte, das wäre so peinlich, wie im rosa Blümchenlatzrock zur Schule zu gehen.

„Ja, das ist ein Vorteil”, hatte Stella deshalb möglichst lässig gesagt, weil sie wusste, das Julia verrückt nach Pferden war.

„Wir sind da!”, rief Mama und stieg aus. Stella verschränkte die Arme. Wie ein vergessenes Gepäckstück blieb sie im Wagen sitzen. Sie hörte die gedämpften Stimmen ihrer Großeltern und Eltern. Opa lachte.

Neben ihr wurde die Autotüre geöffnet.

„Will meine Seerosenfee nicht aussteigen?”, fragte Opa schmunzelnd.

Seerosenfee! Opa und Stella Hand in Hand im Zauberwald, dem Wald gleich hinter dem Dorf. Samtweiches Moos unter den Füßen, der Duft von warmem Holz und süßen Früchten. Geheimnisvoller, dunkler Waldsee mit Seerosen. Als sie vier Jahre alt war, hatte Opa ihr die Geschichte der Seerosenfee erzählt.

Stella unterdrückte den Wunsch, ihrem Großvater um den Hals zu fallen. Seine warme Haut zu fühlen, den wollig-weichen und doch stacheligen Bart zu spüren. In seinen Armen war sie sicher und geborgen. Sein Hemd roch nach Tabak, Heu und Stall – nach Opa eben. Aber mit fast dreizehn Jahren umarmte man seinen Großvater nicht mehr so wie als Kleinkind. Schon gar nicht, wenn man sauer war.

„Hallo Opa”, entgegnete Stella knapp und stieg aus.

Opa grinste und klopfte Stella auf die Schulter. Oma kam lächelnd auf sie zu und umarmte sie. Stella wurde schwach und legte ihre Arme um sie. Für einen Moment durfte auch eine junge Dame wieder klein sein.

„Lasst uns ins Haus gehen. Oma hat Lammbraten mit Knödeln gemacht”, sagte Opa.

Sofort wurde Stella trotzig. „Ich habe keinen Hunger”, brummte sie, obwohl ihr Magen knurrte und ihr das Wasser im Munde zusammenlief. Omas Knödel!

Papa zog verwundert die Augenbrauen in die Höhe.

„Du musst doch essen, Kleines! Bist eh’ so ein Klappergestell”, meinte Oma kopfschüttelnd.

„Lasst sie. Stella will sicher zuerst in den Stall”, sagte Opa und zwinkerte ihr zu.

Dann stand Stella alleine im Hof. Wie still es auf einmal war!

Insekten summten, dumpfes Stampfen von Hufen aus dem Stall und das Rascheln der Blätter, wenn der Wind durch die Äste fuhr, waren die einzigen Geräusche. Vertraut und doch auf einmal unendlich laut. Wie l a n g w e i l i g ! Fünf Wochen ödes Kuhdorf! Am liebsten hätte sich Stella wie ein Kleinkind auf den Boden geworfen und geheult. Tränen brannten in ihren Augen. Der Blick auf die Burg Altnussberg auf der bewaldeten Anhöhe über dem Dorf verschwamm. Stella fühlte sich wie eine Prinzessin, die man in ihre Gemächer eingesperrt hatte. Mit einem leeren Magen, der so laut knurrte wie ein angriffslustiger Wachhund.

Widerwillig folgte sie den Erwachsenen in die Küche.

Als sich Mama und Papa von Stella verabschiedeten, konnte Stella ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Kein bisschen Wut war mehr in ihr, sondern nur noch Angst. Was, wenn sie ihre Eltern nie wieder sehen würde? So ein Flug ans andere Ende der Welt, eine riesige Großstadt – was konnte da nicht alles passieren?

Mama lächelte tapfer und Papa setzte hastig seine Sonnenbrille auf – mitten in der Küche! Dann ging auf einmal alles ganz schnell.

Stella kam nicht mit auf den Hof hinaus. Sie hätte es nicht ertragen, die Eltern im Auto davonfahren zu sehen.

Oma kam in die Küche zurück. Wortlos fing sie an, das Geschirr aufzuräumen. Stellas Blick fiel auf eine Backform mit Apfelstrudel. Langsam ging sie zum Herd, auf dem er stand, immer dem verlockenden Duft nach. Irgendetwas in Stellas Bauch krampfte sich zusammen. Strampelte, polterte, forderte: Essen!

„Nimm dir ruhig ein Stück, Ela”, sagte Oma, ohne aufzuschauen. „Ich habe ihn extra für dich gebacken.”

Ela, ihr Kosename aus Kindertagen. Stella selbst hatte sich als kleines Mädchen so genannt. Kinderlachen. Wer ist zuerst in der Küche und berührt den Tisch? Der darf sich zuerst vom Kuchen nehmen.

Als könne Oma ihre Gedanken lesen, sagte sie: „Tom ist als einziger da. Ein großer Junge ist das jetzt schon mit seinen 14 Jahren. Den Bastian haben sie nach England geschickt, damit er besser Englisch lernt. Und die Laura ist letztes Jahr nach München gezogen. Leider haben sich ihre Eltern scheiden lassen.”

Oma beobachtete Stella und schüttelte den Kopf. „Sei nicht so traurig”, sagte sie, trocknete ihre Hände ab und schaufelte Stella eine riesige Portion Apfelstrudel auf einen Teller. „Auch wenn gerade kein Mädchen in deinem Alter im Dorf ist – es werden bestimmt trotzdem schöne Ferien für dich”.

Stella nickte. Der goldbraune Strudel ließ ihren inneren Widerstand dahin schmelzen. Innerhalb zwei Minuten war der Teller leer, kein Krümel mehr zu sehen. Lächelnd und wortlos legte Oma nach. Ein warmes Gefühl von Geborgenheit breitete sich in Stella aus. Vielleicht würde der Sommer tatsächlich gar nicht so schlecht werden.

In der ersten Nacht schlief Stella schlecht. Es war warm im Zimmer unter dem Dach und die Geräusche um sie herum waren ungewohnt. Irgendwo bellte ein Hund, eine der Kühe im Stall war so unruhig wie sie. Stella stand auf und beobachtete durchs Fenster, wie die Kuh zwischen den Boxen auf und ab lief und immer wieder klagend muhte. Einmal blickte sie sogar direkt durch die geöffnete Stalltür zu Stellas Fenster hinauf, als wollte sie ihr etwas mitteilen.

„Ich verstehe dich leider nicht”, flüsterte Stella. „Ich verstehe vieles nicht.” Bedrückt schlüpfte sie wieder in ihr Bett.

Erst als fahles Morgenlicht den Himmel färbte, schlief Stella ein.

„Kommst du mit auf die Koppel?”, fragte Opa am nächsten Morgen.

Stella saß noch beim Frühstück, ihre Großeltern trugen schon längst ihre Arbeitskleidung.

„Ich bin in zehn Minuten fertig”, sagte Stella, obwohl sie gar nicht überzeugt davon war, dass sie wirklich zu den Pferden wollte. Sie hatte nie verstanden, wie Mädchen so verrückt nach diesen riesigen Tieren sein konnten. Was um alles in der Welt sollte so beglückend daran sein, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen? Stella hatte schon Angst, sich einem Pferd überhaupt zu nähern. Zumindest, wenn es nicht in einer Box oder hinter einem Zaun stand.

Genauer betrachtet gab es ziemlich viele Dinge, vor denen Stella Angst hatte. Stella aß einen Rest Apfelstrudel und trank heißen Kakao dazu. Viel zu hastig, als könne sie damit ihre unangenehmen Gedanken hinunterschlucken. Mit Opa zusammen konnte ihr ja eigentlich nichts passieren. Stella fing trotzdem an zu schwitzen.

Als sie zusammen im Geländewagen den Feldweg zur Koppel hochfuhren, fiel Stellas Blick wieder auf die Burg. Herrschaftlich ragte der Turm über die Baumwipfel. Neben Großvaters Koppel führte ein schmaler Wanderweg durch den Wald hinauf zur Burg. Gerade im Sommer besuchten die Touristen die gut erhaltene Ruine.

„Der Turm sieht ja aus wie neu!”, rief Stella überrascht gegen den Lärm des Motors an.

„Ja, die Gemeinde und der Verein haben ordentlich angepackt.

Auch im kleinen Museum gibt es einiges Neues. Zweimal die Woche ist es geöffnet. Du solltest es dir einmal ansehen. Ist sehr interessant.”

 

Opa parkte im Schatten einer Eiche.

„Du hast doch hoffentlich noch andere Schuhe dabei?”, fragte Opa grinsend nach einem kurzen Blick auf Stellas Sandalen. „Hier gibt es Zecken und vor zwei Wochen habe ich eine Kreuzotter auf der Weide gesehen.”

Stella verzog das Gesicht. „Klar, also ich … habe andere Schuhe.

Soll ich zurückgehen und sie holen oder gleich im Auto sitzen bleiben?”

„Nein, bleib einfach auf dem Feldweg.”

Als Opa sich der Koppel näherte, kamen die drei Pferde sofort auf ihn zu. Stella blieb vorsichtshalber hinter ihm.

„Da ist ja meine stolze Königin”, sagte Opa. Die schwarze Stute hob den Kopf. Ihr Fell glänzte in der Sonne.

„Das ist Diana. Ich habe sie seit drei Monaten. Sie ist zwar schon eine ältere Dame, aber edel und klug”, sagte Opa.

„Diana? Doch nicht wie die Prinzessin von Wales? Wie kitschig!”, rief Stella.

„Sie hieß schon so, als ich sie kaufte. Diana wie die Göttin der Jagd. Ein würdiger Name für eine stolze Dame”, sagte Opa. Er strich über Dianas Schopf und ihre Mähne.

„Verträgt sie sich mit den anderen? Ich meine, sind Maja und Molly nicht eifersüchtig?”, fragte Stella.

„Am Anfang schon, aber jetzt geht es gut”, erklärte Opa.

Auch die kastanienbraune Maja genoss Opas zärtliche Liebkosung an den Schultern. Molly legte ihren Kopf schief.

„Ja, ja, zwischen den Ohren magst du es am liebsten”, sagte Opa lachend und kraulte Molly ausgiebig.

Stella betrachtete Diana. Es sah aus, als wolle sie fragen, wer Stella sei. Plötzlich streckte Diana ihren Hals und Stella trat erschrocken einen Schritt zurück.

„Sie ist neugierig und möchte dich riechen. Hier, gib ihr das Stück Apfel. Keine Angst, sie beißt nicht.” Opa nickte ihr aufmunternd zu und drückte ihr ein Apfelstückchen in die Hand.

Stellas Herz klopfte schneller. Ihre Hand zitterte, als sie ihren Arm ausstreckte. Diana schnupperte und schnappte sich flink und behutsam das Apfelstück. Ihre Lippen waren weich wie Samt.

„Magst du sie streicheln?”, fragte Opa.

Er wusste, wie schwer ihr das fiel. Sie nickte.

Opa lockte sanft: „Diana, darf ich dich mit meiner Enkelin bekannt machen?” Dann drehte er sich zu Stella um: „Lass sie noch mal an dir schnuppern, dann kannst du sie streicheln. Es wird nichts passieren.”

Diana stand ganz ruhig da. Stella spürte ihr warmes Fell unter ihrer Hand. Ein schönes Gefühl!

„Als deine Mama so alt war wie du, konnte sie reiten wie ein alter Indianer. Wir mussten ihr immer ins Gewissen reden, damit sie es nicht übertreibt”, erzählte Opa.

„Ich weiß”, flüsterte Stella. „Das hat sie mir wohl nicht vererbt.”

„Jeder hat so seine Leidenschaften. Du musst dich nicht entschuldigen. Oma hat es auch nicht recht verstanden, ihr waren die Pferde auch immer zu teuer. Aber man braucht etwas im Leben, an das man glaubt und das einem Freude und Kraft gibt.”

Stella sah Opa an. Seine Augen strahlten ganz anderes als noch eben im Auto oder auf dem Hof. Entspannt lehnte er am Gatter. Seine kräftigen Hände strichen sehr sanft über das Fell der Tiere. Die hellen Strähnen in seinen dunklen Haaren glänzten silbrig im Sonnenlicht.

Stella verstand seine Worte nicht ganz, doch sie spürte plötzlich etwas von seiner Kraft, die Opa hier bei den Pferden aufnahm. Ihr war, als hätte sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft ein bisschen Ruhe gefunden.

„Ich werde jetzt jeden Tag mit dir zur Koppel gehen”, sagte Stella leise.

Opa sah sie an und nickte. „Das ist gut”, sagte er nur. Er schien zu wissen, wie sie sich fühlte.

Am Nachmittag traf sie Tom. Sie hatte sich Omas Fahrrad ausgeliehen und war ein bisschen durchs Dorf gefahren. Da kam ihr Tom auf seinem Bike entgegen.

„Hallo”, sagte Stella.

„Servus. Deine Oma hat erzählt, dass du kommst. Wie lange bleibst du?”, fragte Tom.

„Fünf Wochen.”

Tom pfiff durch die Zähne. Dann grinste er so, dass seine Zahnspange in der Sonne blitzte. „Ist ja fast wie früher.”

Stella lächelte. Als sie vier Jahre alt war und ihre Mutter in München keinen Kindergartenplatz für sie ergattert hatte, hatte sie viel Zeit bei den Großeltern verbracht. Sie hatte mit den Kindern im Dorf gespielt und war hier wie selbstverständlich in den Dorfkindergarten gegangen.

„Ich bin mit ein paar Jungs zum Fußballspielen im Nachbardorf verabredet. Willst du mitkommen?”, fragte Tom.

Stella zuckte mit den Schultern. Zwar hüpfte sie nicht gerade vor Freude bei der Vorstellung, beim Fußball zuzusehen. Aber welche anderen Möglichkeiten hatte sie schon an so einem Nachmittag?

Schon hinter der Dorfgrenze bereute sie ihre Entscheidung. Omas Fahrrad hatte keine Gangschaltung und Tom flitzte weit voraus. Immer wieder blieb er stehen, um auf sie zu warten. Das war zwar nett von ihm, aber ausgesprochen peinlich für Stella. Mit hochroten Wangen und ziemlich außer Atem kam sie schließlich am Sportplatz an. Dort suchte sie sich ein schattiges Plätzchen und sah den Jungs beim Bolzen zu. Tom bewegte sich geschickt. Oma hatte Recht, er war gewachsen und inzwischen einen ganzen Kopf größer als Stella. Als er nach dem Fußballspielen sein verschwitztes T-Shirt auszog, kam ein durchtrainierter Oberkörper zum Vorschein. Er war kein dünner, kleiner Junge mehr. Beschämt sah sie weg, als Tom ihren Blick auffing.

„Ganz schön heiß heute”, stöhnte Tom, ließ sich neben Stella ins Gras fallen und trank gierig aus seiner Mineralwasserflasche. Dann zog er ein frisches T-Shirt aus seinem Rucksack. Sein Gesicht glänzte und an seinen dunklen Augenbrauen hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Eine tropfte auf seine langen, dichten Wimpern. Seine Haare waren dunkler als früher.

‚Wie gut er riecht, obwohl er so geschwitzt hat´, dachte Stella plötzlich. Sogleich schämte sie sich für ihre Gedanken und starrte verlegen auf ihre Füße.

„Dir ist bestimmt auch heiß, so rot wie deine Wangen sind”, sagte Tom lachend und hielt ihr seine Wasserflasche unter die Nase hin.

„Nein, danke”, lehnte sie ab, obwohl sie Durst gehabt hätte.

„Hast du Lust, morgen mit auf die Burg zu fahren?”, fragte Tom.

„Meine Mutter macht dort zweimal in der Woche eine Führung.”

„Deine Mutter macht das?”, rief Stella.

„Was ist daran so komisch?”

„Nichts. Ich finde das gut. Auch deinen Vorschlag. Hol mich doch einfach morgen ab.” Stella stand auf. „Ich fahre jetzt nach Hause. Kann dir doch nicht zumuten, mit mir durch die Gegend zu schleichen.”

Er lachte und es schien, als würden seine braunen Augen dabei noch größer.

„Das ist schon o.k. Aber wir spielen dann noch eine Runde weiter.”

Stella ging an den anderen Jungs vorbei und es kam ihr vor, als stakse sie dabei auf zehn Zentimeter hohen Absätzen. Sie fühlte die Blicke in ihrem Rücken. Hoffentlich hatte ihre Hose keine feuchten Flecken vom Gras!

Der Heimweg kam ihr viel kürzer vor. Sie hatte diesmal Rückenwind und keinen Begleiter, dessen Bike 21 Gänge besaß.

„Glaubst du die Geschichte, die deine Mutter eben den kleinen Kindern erzählt hat?”, fragte Stella. Tom saß neben ihr vor dem Häuschen, in dem das kleine Museum untergebracht war, auf einer Bank.

„Welche Geschichte?”

„Na, die Legende von dem kleinen Jungen, der jetzt als Gespenst spuken soll. Und wo ist eigentlich der Ausgang dieses Fluchtweges?”

„Angeblich hat es den Jungen gegeben. Er wollte seine Katze retten, als die Burg bereits brannte. Man hat bei Ausgrabungen das Skelett einer Katze gefunden, aber keine Menschenknochen. Wenn du willst, zeige ich dir den Ausgang.”

Stella und Tom stiegen hinauf zur Burg, ließen aber die Ruine der Hauptburg und den Turm rechts liegen. Hinter einer kleinen Burgschänke kletterte Tom einen schmalen Wurzelweg hoch. Im Schatten alter Fichten waren Mauerreste zu sehen, die zu einem kleinen Turm gehörten. Tom deutete plötzlich auf den Boden. Zuerst konnte Stella nichts erkennen. Dann entdeckte sie eine Öffnung in der Mauer, direkt über dem Waldboden, nicht viel größer als ein Schuhkarton für Winterstiefel.

„Das war der Ausgang des Fluchtweges?”, rief Stella entsetzt.

„Wie klein und dünn müssen die Menschen früher gewesen sein!”

„Na, für dich müsste es reichen”, sagte Tom lachend. „Außerdem war das ja beabsichtigt. Was nützt ein Geheimgang, den jeder gleich erkennt?”

„Stimmt. Bist du schon mal drin gewesen?”, fragte Stella.

„Klar, schon öfter mit meinen Freunden. Es ist dunkel und kalt und feucht da drin. Wir hatten Taschenlampen dabei.”

Stella kniete vor dem Eingang nieder, der eigentlich ein Ausgang war. Zuerst sah sie gar nichts, dann erkannte sie die Umrisse eines Ganges. Ein kühler Luftzug streifte ihr Gesicht. Fast wäre sie zurückgeschreckt. Langsam tastete sie eine Hand in die Öffnung. Mit jedem Zentimeter wurde es kühler und feuchter. Sie schauderte.

„Er wird innen etwas breiter. Willst du mal hinein?”, fragte Tom.

„Ich weiß nicht”, flüsterte Stella. Sie fühlte sich magisch angezogen von diesem Ort. Doch ihr Herz raste vor Panik bei dem Gedanken, in diesen dunklen, engen Tunnel einzusteigen.

„Wenn du Platzangst hast, zum Beispiel im Lift, dann ist das nichts für dich. Aber du könntest es probieren. Ich gehe zuerst”, schlug Tom vor.

„Gut”, sagte Stella entschlossen und ein bisschen erstaunt über sich selbst.

„Allerdings – deine Klamotten werden dreckig.” Tom grinste und fügte fast entschuldigend hinzu: „Mädchen haben damit manchmal Probleme.”

„Wahrscheinlich ist das mein kleinstes Problem da drinnen”, murmelte Stella. Es gelang ihr immerhin zaghaft zu lächeln.

Auf dem Bauch liegend, mit den Füßen voraus, kroch Tom in den Tunnel hinein. Es sah aus, als verschlucke ihn eine steinerne Schlange. Nach unendlich vielen Herzschlägen war Stella an der Reihe. Sie legte sich wie Tom auf den Bauch und robbte rückwärts in den Gang hinein. Die Kälte kroch sofort durch ihre Kleidung. Ihr keuchender Atem hallte an den feuchten Steinen wider. Das Licht wurde immer dämmriger. Plötzlich wurde sie an den Füßen gepackt. Stella stieß einen schrillen Schrei aus.

„Alles in Ordnung, ich will dir nur helfen”, sagte Tom beruhigend.

„Hier ist der Gang zu Ende.”

Stella rutschte einen halben Meter tief auf festen Boden. Nun standen sie im Fluchtturm. Im Dämmerlicht erkannte Stella, dass zwei Gänge zu dieser Plattform führten.

„Weißt du, wohin diese Gänge führen?”, fragte sie Tom.

„Einer führt zur Burganlage. Der andere ist verschüttet, aber man nimmt an, dass er früher zu einem Ausgang hinter der Nordmauer geführt hat.”

„Lass uns den Gang ansehen”, flüsterte Stella plötzlich abenteuerlustig.

„Wir haben keine Lampen dabei”, sagte Tom warnend.

Stella starrte angestrengt in den dunklen Gang.

„Ich schaue nur ganz kurz”, meinte sie dann und tastete sich langsam vorwärts. Matte, graue Konturen der Steine zeichneten sich ab. Ein kühler Lufthauch streifte ihr Gesicht.

„Komm jetzt zurück”, rief Tom.

Stella hörte ihn nicht. Sie konnte einfach nicht umkehren. Ihre Füße wurden wie von einem Magneten vorwärts gezogen, Schritt für Schritt. Wie viele Meter hatte sie sich schon von Tom entfernt?

Plötzlich ein Flüstern, nah an ihrem Ohr.

Erstaunt drehte sich Stella um.

„Was hast du gesagt?”, rief sie Tom zu.

„Nichts. Komm jetzt!”

„Hast du wirklich nichts gesagt?”

„Nein. Wahrscheinlich hörst du den Wind”, raunte Tom ungeduldig.

„Du musst es ihm sagen!”

„Was soll ich sagen?”, schrie Stella erschrocken auf und schauderte.

„Nichts! Ich habe nichts gesagt”, rief Tom. „Jetzt reicht es! Ich glaube, du hörst Gespenster. Komm zurück!”.

Ein warmer Lufthauch strich über Stellas Gesicht, berührte sie so flüchtig wie ein Flügelschlag eines Schmetterlings.

„Sie ist bei mir! Du musst es ihm sagen!”

Stellas Herz raste. Plötzlich wurde ihr kalt. Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Langsam tastete sie sich zurück. Doch ein eisiges Gefühl lähmte jede ihrer Bewegungen.

Da packte Tom ihre Hand. Stella schrie auf.

„Wir müssen jetzt gehen!”, sagte er und zog sie sanft mit sich.

„Du zuerst!”, forderte er sie am Tunnel auf und half ihr, sich hochzustemmen.

Es war tatsächlich leichter, sich zum Licht hin zu bewegen.

Als auch Tom wieder auf dem Waldboden stand und sich den Schmutz abzuwischen versuchte, fror Stella immer noch.

 

Der Wind rauschte in den Zweigen der Bäume. Die Sonne warf bizarre, grelle Lichtflecken auf den mit abgestorbenen Nadeln übersäten Boden.

Auf einmal kamen Stella ihre Eindrücke im Tunnel unwirklich vor. Sie schämte sich plötzlich. Bestimmt hatte sie sich das alles nur eingebildet. Kein Wunder, hatte doch Gabi, Toms Mutter, so bunt und lebendig von einem Gespenst erzählt!

„Wie siehst du denn aus?”, fragte Opa lachend.

„Ich war mit Tom oben auf der Burg. Wir …”, Stella überlegte kurz, was sie sagen sollte. Anlügen wollte sie Opa keinesfalls.

„Also, wir waren im Fluchtturm. Und da gibt es einen …”

„…Geheimgang”, ergänzte Opa.

„Du weißt davon?”, fragte Stella erstaunt.

„Jedes Kind hier kennt ihn. Manche trauen sich sogar hinein. Donnerwetter, dass du dich gleich am Anfang der Ferien reinwagst! Oder soll ich besser sagen, dich hineinzwängst? Das hätte ich nicht gedacht!” Opa zog seine Kappe, die er immer bei der Stallarbeit trug, tiefer in die Stirn.

„Weil ich ein Angsthase bin?”, fragte Stella und verschränkte ihre Arme vor der Brust.

„Nein! Weil ich denke, dass man dazu eine Menge Mut braucht. Beim ersten Mal hätte ich mir fast in die Hose gepinkelt vor Angst!” Opa lachte plötzlich nicht mehr.

„Es war keine Mutprobe, oder? Tom hat dich nicht …?”

„Quatsch!”, fiel ihm Stella ins Wort. „Ich wollte da rein. Oder besser, es zog mich da rein.” Sie biss sich auf die Lippen.

„Opa?”

„Ja?”

„Weißt du etwas über den Spuk? Es soll ein Gespenst geben.” Stella sah Opa forschend an.

„Nun, das haben sie uns früher auch erzählt. Ich nehme an, alle Eltern wollten vermeiden, dass ihre Kinder sich in der Burgruine herumtreiben.” Opa schippte weiter Kraftfutter in einen großen Eimer. „Seit Gabi das Museum leitet, erzählt sie allen Besuchern mit Kindern die Geschichte. Sie glaubt, Hinweise gefunden zu haben, dass es auf der Burg Kinder gegeben hat. Und ich denke – warum nicht? Warum soll vor fünfhundert Jahren nicht ein Junge auf der Burg gelebt haben, der seine Katze aus den Flammen retten wollte?”

Opa richtete sich auf.

Stella überlegte, ob sie etwas von dem Flüstern sagen sollte. Da fing eine Kuh im Stall an zu brüllen. Stella erschrak ein bisschen.

„Was hat sie? Ich habe gesehen, dass eine Kuh nachts im Stall herumläuft”, fragte Stella.

„Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kühe mal im Stall auf und abmarschieren. Wenn man sie denn lässt. Aber du meinst wohl die Lena. Ihr fehlt nichts. Nur ihr Kalb. Wir haben es vor einer Woche verkauft.” Opa nahm den Eimer und ging in Richtung Stall. Stella folgte ihm.

„Wieso hast du ihr Baby verkauft?”, fragte sie wie ein trotziges Kleinkind.

„Weil es mein Beruf ist, Kälber zu züchten, du Mondkalb!”, sagte Opa nicht eine Spur beleidigt.

Lena brüllte wieder. Die anderen Kühe blickten sie mit großen gutmütigen Augen an. Der Kummer ihrer Artgenossin schien sie nicht nervös zu machen.

Langsam trat Stella an die Box heran, in der Lena stand.

„Lena”, sagte Stella leise. „Psst. Ist ja gut. Ich verstehe dich.”

Sie streckte ihre rechte Hand aus und überlegte gleichzeitig, was Julia zu Hause wohl gesagt hätte. Mit einer Kuh reden! Das hätte Gesprächsstoff für mindestens zwei Schulpausen gegeben!

Lena hörte tatsächlich auf zu brüllen.

„Komm her, Dicke!”, lockte Stella. „Ich tue dir nichts. Ich kann dich verstehen. Dir einfach dein Baby wegzunehmen. Da wäre ich auch sauer! Hey, ich habe eine Idee! Lass deine Milch sauer werden! Dann würde keiner mehr Kälber verkaufen.”

Stella lachte und die Kuh trat einen Schritt nach vorne.

Ganz vorsichtig legte Stella ihr die Hand zwischen die Augen. Das weiche, warme Fell fühlte sich so vertraut an wie ein flauschiges Stofftier. Stella kraulte Lena.

„So ist es gut, nicht wahr?”, fragte sie leise.

Die Nähe gefiel auch Stella. Eine wohlige Ruhe ergriff sie. Das innere Flattern, das sie seit ihrem Ausflug zur Burg begleitet hatte, war verschwunden.

„Das machst du geschickt”, sagte Opa anerkennend. Er stand plötzlich neben ihr. „Sie ist sehr sensibel. Normalerweise sind Kühe nicht so traurig, wenn ihr Kalb weg ist.”

„Wer kann nur Kälber schlachten!”, fauchte Stella wie eine Wildkatze.

„Es wird nicht geschlachtet. Das Kalb war ein kleiner Stier und ich habe ihn an einen Züchter verkauft. Und er wird mal für viele Kälbchen sorgen, wenn er groß ist”, erklärte Opa.

„Dann hättest du doch noch ein paar Wochen warten können!” Stella blieb bockig.

„Das kostet Milch”, seufzte Opa.

„Wenigstens gibst du ihnen Namen”, murmelte Stella. Opa war schon früher von einigen Bauern im Dorf dafür belächelt worden. „Was atmet, muss auch einen Namen haben”, pflegte Opa zu sagen.

„Kümmere dich ein bisschen um Lena. Du tust ihr gut.”

Opa gab erst dem Tier und dann Stella einen sanften Klaps auf die Schulter.

Stella streichelte Lena noch ein wenig. Dann ging auch sie hinaus auf den Hof.

„Wo ist Oma?”, fragte sie.

„Dorftratsch in der Küche. Die Frauen machen Obst ein”, rief Opa von der Garage her.

Stella ging ins Haus und beschloss, erst einmal ausgiebig zu duschen.

Nach dem Duschen band Stella ihr noch leicht feuchtes Haar zu einem Pferdeschwanz. Die goldenen Strähnen in ihrem hellbraunen Haar schimmerten, als hätte sie Glitter darüber gestreut.

In ihrem Zimmer lag noch der große Reisekoffer auf dem Boden. Stella angelte ihr blaues Lieblingsshirt heraus. Es brachte ihre blauen Augen noch mehr zum Strahlen. Dennoch streckte Stella ihrem Spiegelbild die Zunge heraus. Sie fand ihren Mund zu groß und die Nase zu stubsig.

Schwungvoll schloss Stella die Schranktür. Spiegel weg!

Dort, wo sich bei ihren Freundinnen schon weibliche Rundungen zeigten, blieb sie noch ziemlich flach. Gegen ihre schmalen Hüften hatte sie eigentlich nichts einzuwenden. Immerhin – ihre Brüste wölbten sich bereits sanft. Julia und Lisa waren schon dreizehn und BH-Trägerinnen. Stella würde in drei Wochen ihren 13. Geburtstag feiern.

Zaghaft öffnete sie die Schranktüre nochmals und versuchte ein Lächeln. ‚Doch eigentlich gar nicht schlecht, dass ich aussehe, wie ich aussehe’, dachte Stelle.

Dann räumte sie endlich den Inhalt ihres Koffers in den Schrank und machte sich auf den Weg in die Küche. Vielleicht hatte Oma ja wieder einen leckeren Kuchen gebacken.

„Na, also Hilde! Des is’ dei klein’s Enkerl?”, sagte eine Frau mit grauen Haaren in breitem Dialekt. Sie saß neben Oma am großen Küchentisch und zerkleinerte Obst.

„Ja, Maria – so vergeht die Zeit!”, antwortete Oma.

Stella lächelte. Den Dialekt hatte sie vermisst.

„Du bist ja scho a junge Frau. Darf ich überhaupt no’ Du sagen?”, fragte Maria.

„Natürlich”, rief Stella lachend. Sie spürte, wie ihre Wangen warm wurden.

„Wir machen gerade einen Rumtopf”, erklärte Oma. „Magst du helfen?”

Stella lächelte. ‚Klar, Obstschneiden gehört zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Wie aufregend!’, hätte sie am liebsten gesagt. Aber sie wollte Oma nicht enttäuschen.

Als plötzlich der Name Gabi fiel, wurde Stella hellhörig.

„Der Georg soll schon meckern, weil die Gabi immer nur für das Museum arbeitet. Ob die was mit dem Vereinsvorstand hat?”, sagte Maria. Ihre grünen Augen blitzten erwartungsvoll.

„Ach geh! Für Gabi lege ich meine Hand ins Feuer”, sagte Oma bestimmt. „Sie ist eben eine moderne Frau, die nicht nur für den Hof und die Familie arbeiten mag. Sie hat Freude am Museum. Und die Buben sind doch schon groß. In zwei Jahren macht Bastian sein Abitur. Weiß der Himmel, wo er studieren wird. Soll die Gabi dann auf dem Hof versauern?”

„Auf einem so großen Hof gibt es immer was zu tun”, polterte Maria. „Wahrscheinlich ist sie eingeschnappt, weil der Georg immer noch nicht auf Bio-Hof umstellen will.”

„Das muss jeder selbst wissen. Wir sind schon zu alt dafür”, sagte Oma und schob sich ein Stück Apfel in den Mund. „Josef wird in zwei Monaten 65 Jahre alt. Da stellt man nicht mehr einfach auf Bio um. Obwohl wir es gut finden.” Sie schüttelte sich. Der Apfel schien sauer zu sein. „Ach, Spatz!”, rief sie, zu Stella gewandt. „Ich habe es ja ganz vergessen: Mama hat vor einer Stunde angerufen. Sie sind gut in Tokio gelandet. Morgen ruft sie nochmal an. Tausend Bussis für dich.”

Stella biss sich auf die Lippen. Gerne hätte sie selbst mit Mama gesprochen.

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