Taubenblut. Die Siedler

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Taubenblut. Die Siedler
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Maria Bosri

Taubenblut

Die Siedler

Eine sächsisch-polnische Familiengeschichte (1697–1939)

Sax-Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86729-574-1

Alle Rechte vorbehalten

© Sax-Verlag, Beucha • Markkleeberg 2019

1. Auflage 2019

Layout/Umschlag/Herstellung: Sax-Verlag

www.sax-verlag.de

Inhalt

Vorwort 4

Ins fremde Land 6

Der Erbhof 60

Der Erste Weltkrieg 78

Die zweite polnische Republik 141

Vorwort

Für die Buchautorin, 1951 in Sachsen geboren, beschränkten sich die familiären Wurzeln lange nur auf alte Geschichten vom Leben in Polen und einige verblichene Fotografien. Als Kind begeisterten sie zwar die Erzählungen ihrer 1898 in ­Wierzeje geborenen Tante, die u. a. drei Jahre im Haus einer adligen russischen Familie in Petersburg und Moskau lebte. Doch wurde das wie ein Geheimnis behandelt, wie es überhaupt in der Familie merkwürdig viele Geheimnisse gab. Wenn diese den Kindern nicht zu Ohren kommen sollten, sprachen Großmutter, Tante und Mutter miteinander Russisch oder Polnisch und erst später begriff die Autorin, dass das zu ihrem Schutz geschah, durfte doch zu DDR-Zeiten nicht öffentlich über Flucht und Vertreibung oder das dabei erlebte Grauen gesprochen werden.

Im Juli 1996 übernahmen die Autorin und ihre Schwester die Pflege ihrer im Sterben liegenden Mutter. Erst jetzt, fünfzig Jahre nach den ersten Andeutungen, begann sie zu erzählen. Es waren Geschichten ihrer gemeinsamen sächsischen Vorfahren, deren abenteuerliches Auswandern vor vielen Generationen nach Polen und schließlich die Lebensgeschichte der Mutter selbst. Was auf dem Sterbebett nun zum ersten Mal ausgesprochen wurde, erschütterte aufs Tiefste. Die 1908 nahe Petrikau (heute Piotrków Trybunalski) geborene Mutter hatte die Unmenschlichkeit und Gewalt beider Weltkriege erlebt, und auch jene subtilere Gewalt, die sich im angeblichen Frieden der den Kriegen folgenden polnischen und ostdeutschen Republik fortsetzte.

Die bruchstückhaften Erzählungen waren nicht chronologisch geordnet. Es gab Lücken und Ungenauigkeiten bei einzelnen Daten und genannten Personen. Doch niemand war mehr am Leben, der diese Details hätte richtigstellen oder bestätigen können. Stattdessen wuchs aus diesen späten Berichten der Mutter der vorliegende zeitgeschichtliche Familienroman, und er wurde ergänzt mit frei erfundenen Dialogen, Handlungen und Personen. Jede sich dabei erge­bende Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten und Personen ist nicht beabsichtigt, sondern allein Ausdruck der künstle­rischen Freiheit der Autorin.

Schließlich möchte sich die Autorin bei Frau Dr. Heidrun Popp bedanken, die ihr in allen Belangen, nicht nur als Lektorin, selbstlos und geduldig über Jahre hinweg half, das Buch in eine für den Druck geeignete Form zu bringen.

Die Gründer des Schlüterhofes und ihre Nachfahren

Martin Schlüter (1669–1716) und seine Frau Uta (1670–1740) – Hofgründer

Kinder:

Martha (*1688) verheiratet mit Franz

Emma (*1689) verheiratet mit Karl

Johann (*1700) verheiratet mit Sofie – Hoferbe

Anna (*1702) früh verstorben

Johann Schlüter (1700–1766) und Sofie (1705–1776)

Kinder:

drei Töchter geboren 1721, 1721 und 1723

Friedrich (*1724) verheiratet mit Charlotte (Lebedame) – Hoferbe, 1758 bei Duell tödlich verletzt, dessen Sohn Georg (*1750) – erbt den Hof

Georg Schlüter (1750–1815) und Frieda (1752–1781)

Kinder:

Gertraud (*1772) verheiratet mit Dietrich –Hoferben, drei Töchter im frühen Kindesalter verstorben

Luise (*1778) verheiratet mit Hermann (leben in Sachsen)

Gertraud Schlüter (1772–1843) und Dietrich (1770–1813) (1. Ehemann)

Kinder:

Hagen (*1795) – hat mit der Polin

Magda ein Kind (Johannes *1813)

Katharina (*1801)

Elisabeth (*1802) – Großmutter von Phillip, Hofbesitzer im 2. Kapitel

Gertraud und Christian (2. Ehemann; Hochzeit 1816), Christians Neffe Ferdinand Höfer heiratet Magda

In der Zeit von 1834–1893 wurde der Hof von Pächtern bewirtschaftet.

Phillip Rohr (1868–1929) und Marie, geb. Bobke (1873–1955)

Kinder:

Olga (*1894) heiratet 1914 einen belgischen Fabrikanten

Pauline (*1896) wird 1915 Kriegswitwe, zwei Kinder: Otto *1916 und Karl *1917

Helene (*1898) bleibt unverheiratet

Gerda (*1902) heiratet 1932 Walter, einen Deutschen, und zieht ins Reich, Tochter Ida *1932

Gottfried (*1904) heiratet 1933 Rose – Hoferbe, vier Kinder: Adolf, Cäsar, Marianne und Klara

Elisabeth (*1908) heiratet 1946 Richard, einen deutschen Kriegswitwer, zwei Kinder: Luise *1947 und Anna *1951

Thomas (*1911) heiratet 1932 Alma, zwei Kinder: Klaus *1933 und Lilly *1937

Arthur (*1915) heiratet 1946 in englischer Kriegsgefangenschaft die Britin Olivia und bleibt in Großbritannien – Sohn Harry

Ins fremde Land

Kartoffeln für den König

Mit der Wahl zum polnischen König erkaufte sich Kurfürst Friedrich August I. von Sachsen im Sommer 1697 seinen größten machtpolitischen Sieg.

Das Warschauer Königsschloss wurde seine zweite Residenz und August II., so nannte er sich als König von Polen, feierte seinen Aufstieg zur Majestät mit glanzvollen Festen. Im Gegensatz zum kunstsinnigen Dresdner Hofleben endeten Warschauer Feste oft als zügellose Besäufnisse, was das Wohlbefinden des neuen Regenten ab und an trübte. So auch am Krönungstag. Ausgerechnet während des Glaubensbekenntnisses, des für das katholische Polen wichtigsten Punktes der pompösen Zeremonie in der Krakauer Wawelkathedrale, ereilte den eben gekrönten Herrscher eine mehrere Minuten anhaltende Ohnmacht.

Jakob Heinrich von Flemming, des Kurfürsten wichtigster Helfer und Berater beim Griff nach der polnischen Krone, beunruhigte dieses Vorkommnis außerordentlich. Am Warschauer Hof umgaben den neuen König weit mehr Feinde als in Dresden. Für ein paar Silberlinge fänden diese schnell eine willfährige Kreatur, die den Augenblick der absoluten Wehrlosigkeit des ansonsten wehrhaften Herrschers für einen Dolchstoß nutzen könnte. Überlebte der König einen solchen Anschlag, zöge er ihn, Flemming, dafür zur Verantwortung. Er würde sein Amt verlieren und sein Leben in den Kerkern der Festung Königstein beenden. Auch seine Familie bliebe nicht verschont, man würde sie enteignen und mit Schimpf und Schande überschütten. Denn so großzügig August gute Dienste belohnte, so gnadenlos vernichtete er in Wut.

Die königliche Schwäche beruhte zum Glück nur auf einer den Vorfeiern geschuldeten Erschöpfung. Etwas Schlaf und eine würzige Hühnersuppe brachten seine Majestät schnell wieder auf die Beine. Doch wehe, es wäre das von August über alle Maßen gefürchtete Darmgrimmen gewesen und er hätte nach diesen exotischen, von spanischen Seefahrern aus der Neuen Welt mitgebrachten Erdfrüchten verlangt! Dann hätte er, Flemming, seinem Herrn gestehen müssen, es versäumt zu haben, wenigstens eine kleine Kiste dieser so genannten Tartuffli in der Warschauer Hofküche deponieren zu lassen.

Vor gut zehn Jahren, während seiner prinzlichen Kavalierstour, überkam Friedrich August auf dem Weg von Paris nach Madrid ein heftiger Durchfall. Des Prinzen Bedürfnis war so dringlich und unbeherrschbar, dass man im nächsten Gasthof Quartier nehmen musste. Trotz aller ärztlichen Bemühungen entkräftete der Prinz zusehends. Seine Begleitung befürchtete schon das Schlimmste, da ließ der überaus heftige Entleerungsdrang der hochwohlgeborenen Eingeweide etwas nach. Die wohltuende Wirkung beruhte darauf, dass Prinz August eine Schüssel mit einem Brei aus gekochten und zerstampften Tartuffli von einem spanischen Diener versehentlich serviert bekam. Dieser Brei war von einer Küchenmagd für ihr Kind zubereitet und kurz neben dem herrschaftlichen Tablett abgestellt worden, um noch eine kleine Verrichtung auszuführen. Ein Fingerzeig des Allmächtigen, denn die Dresdner Höflinge hätten es nie gewagt, dem Prinzen diese fahle und geschmacklose Pampe vorzusetzen. Nach zwei weiteren Mahlzeiten, bei denen Friedrich August ausschließlich diesen Brei zu sich nahm, besserte sich sein Befinden deutlich. Er hinterfragte überaus zornig, warum man ihm diese heilsame Speise so lange vorenthalten hätte. Bereits wenige Tage später war er wieder soweit bei Kräften, dass die Reise fortgesetzt werden konnte.

Inzwischen sächsischer Kurfürst und zum Manne gereift, ereilte ihn im Mai des Jahres 1695 erneut ein schreckliches Darmgrimmen. Das war ein höchst unpassender Zeitpunkt, weilte er doch gerade in Begleitung seiner ersten Mätresse, der schönen Schwedin Aurora von Königsmark, in Karlsbad zur Kur. In dieser Not erinnerte er sich der spanischen Tartuffli, die ihm auf seiner Kavalierstour so gut geholfen hatten. Doch trotz Androhung lebenslanger Kerkerhaft war niemand imstande, die exotischen Erdfrüchte herbeizuschaffen. Ein Affront!

Christian August von Haxthausen, des Kurfürsten Oberkämmerer, versprach seinem Landesherren, dafür Sorge zu tragen, dass dieser Mangel für alle Zeit beseitigt würde. Er war auch der Einzige unter allen Höflingen, der wirklich wusste, wonach der Kurfürst in seiner Leibesnot verlangte, hatte er ihn als sein Hofmeister schon während dessen Kavalierstour begleitet. Haxthausens Jugendfreundin Liselotte von der Pfalz, die mit dem Bruder des französischen Sonnenkönigs verheiratet war und in Versailles lebte, schickte ihm alsbald ein Kistchen dieser noch weitgehend unbekannten Erdfrüchte samt einer ausführlichen Anleitung zu Anbau und Lagerung derselben. Haxthausens Landgut Putzkau lag in der Oberlausitz. Der Anleitung nach ein viel zu kalter und deshalb ungeeigneter Landstrich für den Anbau dieser Tartuffli.

 

In seiner Bedrängnis wandte sich Haxthausen an den noch jungen, aber überaus gebildeten und ehrgeizigen Jakob Heinrich von Flemming, der seit 1693 im Range eines Generaladjutanten in sächsischen Diensten stand und dessen Aufstieg er mit beinah väterlichem Wohlwollen begleitete. So kam es, dass die Tartuffli auf Flemmings Betreiben nahe Meißen ausgepflanzt wurden. Im warmen Erdreich der sonnigen Hanglage gediehen die fremden Gewächse prächtig. Flemming überzeugte sich den Sommer über mehrmals vom guten Gedeihen der Pflanzen. Kurz nach der Weinlese wurden die Tartuffli ausgegraben, in flache Holzkisten geschichtet und in die hinterste Ecke eines Weinkellers gebracht, wo ihnen selbst stärkere Fröste nichts anhaben konnten. Im Folgejahr betrug die Ernte bereits neun Viertelkörbe. Auch bei mehrmaliger Anforderung durch die kurfürstliche Küche würde sich dieser Vorrat nicht erschöpfen. Damit besaß man genug Erdäpfel, um den Anbau abseits des warmen Elbtals zu wagen. Flemmings Verwalter beauftragte zwei Bauern in der Lommatzscher Flur, die Tartuffli, wie in der pfalzgräflichen Anleitung beschrieben, in den Boden zu bringen und zu pflegen. In der fruchtbaren Gegend übertraf die geerntete Menge sämtliche Erwartungen. Den Winter über sollten die Bäuerinnen ab und an ein paar dieser Tartuffli kochen und die Genießbarkeit prüfen.

Anfangs kosteten die Frauen noch gehorsam die nach nichts schmeckenden, mehr oder weniger zu Brei zerkochten, erdig riechenden Rundlinge, bevor sie den großen Rest auf den Misthaufen warfen, wo ihn die Hühner restlos aufpickten.

Die Bauern belustigte, dass ihr Herrscher so großen Wert auf dieses geschmacklose Zeug legte, wo er doch die feinsten Speisen haben konnte. Der Zufall wollte es, dass einer Bäuerin beim Kosten der eben vom Herd genommenen gegarten Erdäpfel ein größeres Stück in den Schmalztopf fiel. Ihr tat es leid, das mit köstlichem Schweinefett vollgesogene Stück wegzuwerfen. Wie vom Schmalzbrot gewohnt, streute sie ein paar Krümel Salz auf den fettig glänzenden Klumpen, bevor sie ihn, beinah widerwillig, in den Mund steckte. So aufgebessert, schmeckte ihr der kleine Happen unerwartet gut. Neugierig geworden, fischte sie weitere Stücke aus dem Topf und bestrich sie mit Butter, Leinöl oder Sauerrahm. Noch einige Körnchen Salz aufgestreut, und schon war alles aufgegessen. Von nun an landeten die gekochten Tartuffli nicht mehr auf dem Misthaufen. Die Bauersleute hüteten sich jedoch, ihre Entdeckung kundzutun. Sie befürchteten, dass die wertvollen Erdfrüchte dann gestohlen würden. Zudem hatten die neumodischen Rundlinge gegenüber Brot einen großen Vorteil: Sie mussten nur kurz auf dem Herd gekocht werden, und das war viel weniger Arbeit als das Brotbacken.

Nach dem plötzlichen Tod des Oberkämmerers von Haxthausen stieg Flemming zum engsten und wichtigsten Berater des Kurfürsten auf. Als Sohn eines brandenburgischen Hofgerichtspräsidenten und als Absolvent der Universitäten Utrecht und Leiden besaß er ein hervorragendes politisches Gespür. Dazu war er mit dem polnischen Magnatengeschlecht Przebendowski verschwägert. Beim Gerangel der europäischen Herrscherhäuser um die polnische Königskrone eine überaus nützliche Verbindung. So war es bedeutend leichter, die Taschen etlicher Magnaten mit großen Summen an verpflichtenden Bestechungsgeldern zu füllen. Trotzdem stand das Unternehmen »Königskrone« bis zum letzten Wahlgang auf der Kippe, denn auch der französische Kandidat, Prinz Louis de Conti, bestach Wahlmänner. Doch die französischen Vermittler versprachen nur Schuldverschreibungen und die auch nur nach gewonnener Wahl. Dagegen warb Friedrich August I. von Sachsen mit echten Talern. Damit ihm diese nicht ausgingen, verkaufte und verpfändete er sogar Landesteile sowie die königlichen Juwelen. Den Gedanken, im Fall einer Niederlage sich und das Land ruiniert zu haben, verdrängte er in unzähligen nächtlichen Trinkgelagen. So war die Ohnmacht während der Krönungszeremonie nur eine Auswirkung dieses ungezügelten Zechens. Aber auch der Prunksucht Friedrich Augusts, die ihn veranlasste, an einem so heißen Tag seine schwere goldene Prunkrüstung zu tragen und das auch noch über etliche Stunden.

Dieser Schwächeanfall gemahnte Flemming, schnellstens zwei Kisten Tartuffli nach Warschau bringen zu lassen. Doch die polnischen Köche hatten die wertvollen Früchte statt im Keller auf dem zugigen Kräuterboden gelagert. Als Ende November eine erste Kochprobe durchgeführt werden sollte, zerfielen die inzwischen steinhart gefrorenen Erdäpfel zu stinkendem Matsch. Die polnischen Hofköche wiesen alle Schuld von sich, war es doch versäumt worden, die den Kisten beigefügte Anleitung in ihre Sprache zu übersetzen. Im Notfall hätte man nun Tartuffli aus Sachsen holen müssen, wobei selbst ein guter Reiter viel zu lange unterwegs gewesen wäre.

Eine für Flemming überaus kritische Situation, die einer dauerhaft befriedigenden Lösung bedurfte. Und die wäre, möglichst schnell einige der sächsischen Bauern, die sich mit den spanischen Erdfrüchten inzwischen auskannten, in der Nähe des polnischen Königshofes anzusiedeln. Für einen Mann in seiner Position keine besondere Herausforderung. Trotzdem beschloss er, das Vorhaben in aller Heimlichkeit in die Wege zu leiten. Er galt unter den Höflingen als Emporkömmling und hatte entsprechend viele Neider, die nur darauf warteten, ihn beim König in Misskredit zu bringen. Außerdem war zu befürchten, dass beim Bekanntwerden seines Vorhabens die Bodenpreise stiegen. Deshalb bat er seine polnische Verwandtschaft, ohne jegliches Aufsehen, nach einem geeigneten Stück Land Ausschau zu halten. Endlich, es ging schon auf Dreikönige zu, erreichte Flemming die Nachricht, dass die entsprechenden Aufkäufe getätigt seien. Leider nicht wie gewünscht vor den Toren der Warschauer Königsresidenz, sondern östlich von Piotrków Trybunalski.

Im Mittelalter zählte die an der alten Handelsstraße von Pommern in das Reich der Kiewer Rus und nach Ungarn gelegene Stadt zu den wirtschaftlich und politisch bedeutenden Städten im Königreich Polen. Hier proklamierte König Kasimir III. der Große 1347 seine Statuten. Die darin festgeschriebenen Bürgerrechte für Jedermann bewirkten eine starke Zuwanderung deutscher Juden. Wirtschaftlich erstarkt, eroberte Kasimir die ruthenischen Fürstentümer Halytsch und Wolhynien, bis dahin ukrainische Gebiete des altrussischen Staatswesens. Pjotrków wird zu einem der zwei Sitze des Sejm, dem Parlament der Ständeversammlung und des Landadels. Für den König hatte der Sejm nicht nur beratende Funktion, er hatte dessen Beschlüsse zu berücksichtigen.

Mit den »Petrikauer Privilegien« erweiterte König Johann I. Albrecht im Jahr 1496 die Rechte des Adels über dessen bereits bestehende Goldene Freiheit hinaus. Bürgerlichen wurde der Besitz von Landgütern verwehrt sowie die Freiheit der Bauern eingeschränkt. In dieser Zeit erhebt Litauen Anspruch auf Teile der ehemaligen Fürstentümer Halytsch und Wolhynien. Man einigt sich gütlich.

Angesichts eines erstarkenden Russlands unter Iwan IV. kommt es 1569 zu einer Allianz zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen. Es entsteht eine Adelsrepublik unter einem Wahlkönig. Die Gerichtsbarkeit wird geteilt: Grodno für die litauischen sowie Lublin und Petrikau für die polnischen Gebiete. Die Stadt trägt seitdem den Zusatz Trybunalski. Das Königreich Polen gilt nun als Großmacht und reicht im Osten bis kurz vor Kiew. Im gleichen Jahr kommt es zur Vertreibung der Juden. Dieses Siedlungsverbot wird erst hundert Jahre später wieder aufgehoben.

Im Sejm galt inzwischen das Liberum Veto, das Einspruchsrecht des Einzelnen ohne Ansehen seines Standes. Dieses »ich verbiete« verhinderte oft notwendige Reformen, und es ermöglichte den Nachbarstaaten, allen voran Russland, mittels Bestechung politische und wirtschaftliche Entscheidungen maßgeblich zu beeinflussen.

Inzwischen hatte die Stadt Piotrków Trybunalski ihre große Bedeutung verloren, aber der Stolz ihrer Bewohner auf diese Vergangenheit war geblieben.

Erst hier, in diesem dünn besiedelten Landstrich, fanden sich genug verkaufswillige Landadelige. Diese stolzen, aber meist hoch verschuldeten Schlachtschitzen besaßen oft nicht mehr als einen alten Klepper, der sie kaum noch tragen konnte, ein Schwert samt abgewetztem Harnisch, ein Wappen, ein verlottertes Gehöft und ein paar Katen samt Leibeigenen, deren Arbeit ihren Herren gerade so ernährte. Klimperten tatsächlich einmal ein paar Kupfermünzen oder gar Gulden im Beutel eines solchen Landbesitzers, waren diese meistens von durchziehenden Händlern abgepresster Wegzoll. Mit Freuden ergriffen sie die Gelegenheit, wenigstens einmal im Leben einen prall mit Silbergulden gefüllten Geldbeutel am Gürtel hängen zu haben. Mit diesem Geld konnten sie sich ordentlich herrichten und ein gutes Pferd anschaffen, denn so heruntergekommen, wie sie ansonsten aussahen, hätte man sie nicht einmal bis zum Tor des Warschauer Königshofes vorgelassen. Doch nur dort konnte es ihnen gelingen, mittels Bestechung einen gut besoldeten Posten zu ergattern. Was zählte da das Bewahren des väterlichen Landes, war doch aus den ausgemergelten Leibeigenen und den minderwertigen Böden nicht mehr herauszupressen.

Die für den Landkauf notwendigen Mittel verbuchte Flemming unter der Rubrik »Zahlung kleiner Posten«. In der Gesamtheit der Ausgaben anlässlich der Königswahl, der Summe von vier Millionen Talern, waren die rund zwanzigtausend Taler kein Betrag, der unter den an die Magnaten gezahlten Bestechungsgeldern auffiel. Die Aufkäufer hätten sogar das Dreifache an Fläche erwerben können. Doch dann bestünde das Risiko, dass die Angelegenheit dem König zugetragen würde. August hatte seinem Minister in solchen Dingen zwar noch nie seine Zustimmung versagt, doch seine Majestät erwartete dann auch einen den Kosten entsprechenden Erfolg. Und der konnte bei diesem Unternehmen ausbleiben. Nicht nur der Anbau der fremdländischen Erdäpfel könnte misslingen. Es war durchaus möglich, dass die ganze Ansiedlung scheiterte, denn die sächsischen Familien, die hier des Königs Tartuffli anbauen sollten, waren Lutheraner, galten in diesem erzkatholischen Jesuitenland als allerschlimmste Ketzer, als Bundesgenossen Satans.

Der größte Teil des erworbenen Landes war bewaldet. Hauptsächlich Kiefern und Birken, die einzigen Baumarten, denen der karge und trockene Sandboden genügte. Alles andere, wie auch das wenige Gras, verdorrte meist noch vor Johanni. Größere Blößen eines leicht hügeligen Gebietes wurden von dichten Teppichen struppigen Heidekrautes überzogen. Hier fanden höchstens Schafe ausreichend zu fressen. Das tiefer liegende, ebene Land war kaum fruchtbarer. Mit buschigem Sauergras und giftigem Wasserschierling bewachsene Wiesen wechselten mit Riedflächen, die in ein von Schwarzerlenhainen durchzogenes Moor übergingen. Dieses Moor umsäumte nicht nur einen riesigen langgezogenen See, es erstreckte sich auch entlang seiner Zu- und Abflüsse. Ein kaum überwindbares Hindernis, wollte jemand von hier aus, am Seeufer entlang und somit auf kürzestem Weg, in die Stadt Piotrków Trybunalski gelangen. Innerhalb dieses großen Sumpfes gab es aber auch Flecken, bestanden mit gut gewachsenen Eichen. Auf den ersten Blick war es unverständlich, warum die städtischen Holzhändler diese prächtigen Bäume noch nicht erworben und fällen lassen hatten. Doch unter dem Landvolk herrschte der Glaube, dass in dem schwarzen Wasser furchtbare Dämonen lauerten, die jeden rechtschaffenen Christenmenschen an den Füßen packen und in die Tiefen der Hölle zögen. Die Leibeigenen munkelten, der oberste Dämon sei ein Adliger, der eine junge Nonne entführt und geschändet hatte. Nun bringe er dem Höllenfürsten die Seelen all jener Menschen, die sich ins Moor wagen. Dieser Aberglaube verhinderte, dass sich auch nur ein Holzfäller fand, der sein Leben und Seelenheil wegen einiger Eichenstämme gefährdete. Selbst die in der Nähe lebenden Bauern mieden das weg- und bodenlose Gelände, näherten sich ihm nur in sehr trockenen Sommern, um die an den Rändern wachsenden Moosbeeren zu pflücken.

 

Während der Schneeschmelze oder nach ergiebigen Regenfällen wagten sie sich nicht mal von ihren Katen weg. Dann führte die Wierzejka, ein Flüsschen, das in der Ebene nördlich der Stadt entsprang und in den Sümpfen oberhalb des Sees endete, gewaltige Wassermassen herbei, die das Moor, die Riedwiesen und ab und an die ganze Gegend überschwemmten. Auch die Straße nach Sulejów wurde dann unpassierbar. Manchmal dauerte es Wochen, ehe das Hochwasser wieder abfloss, denn das Flüsschen Rakowka, das am südlichen Ende des großen Sees austrat, mündete alsbald in die Strawa, und die führte ebenfalls Hochwasser. Dann verfaulte selbst das Staunässe gewohnte Sauergras. Aus all diesen Gründen standen die armseligen Katen der polnischen Bauern weitab vom Moor, hoch oben auf den trockenen Hügeln. Und dort oben, direkt neben ihren Behausungen, lagen auch die wenigen armseligen Felder, von denen sie ihre Abgaben erbringen und sich selbst und ihr Vieh ernähren mussten. Ihre Angst vor dem Moor war so groß, dass sie lieber darbten, als sich dem schwankenden Grund zu nähern. Dann hätten sie wenigstens den fruchtbaren Saum bewirtschaften können, der sich zwischen den Moorwiesen und den trockensandigen Flanken der flachen, mehr oder minder mit Kiefern und Heide bewachsenen Hügeln befand.

Die sächsischen Umsiedlerfamilien

Während des Winters 1697/98 bereiteten sich zwei Familien aus Meißen und drei Familien aus dem Lommatzscher Umland auf ihre Umsiedlung nach Polen vor. Die Ehemänner waren durchweg Zweitgeborene, denen kein väterliches Erbteil zustand. Mittels eines stattlichen Handgeldes und der Aussicht auf einen guten Flecken Land hatte man sie nicht lange zum Verlassen ihrer Heimat überreden müssen. Alle Familien waren außerdem strenggläubige Lutheraner, geübt in Demut, Bescheidenheit und Gehorsam.

Noch bevor der nahende Frühling des Jahres 1698 die Wege aufweichte, begab sich der kleine Treck auf die Reise. Neben Hausrat, Werkzeug, Pflanzen, Saatgut und landwirtschaftlichen Geräten hatte man auch Käfige mit verschiedenen Kleintieren, wie Hühnern, Hasen und Gänsen, auf den Fuhrwerken verstaut. Die besondere Fürsorge der Reisenden galt dabei den Körben mit Tauben, die Botschaften in die Heimat bringen sollten. Zwei Wagen pro Familie, bepackt mit alter Heimat und allem Notwendigen für ein neues Leben in der Fremde.

Damit die Fuhrwerke gut vorankämen und auch nicht Wegelagerern oder katholischen Eiferern zum Opfer fielen, wurden die Umsiedler auf Flemmings Geheiß von einem kleinen Trupp sächsischer Infanteristen begleitet, die man ohnehin nach Warschau verlegen wollte. Nach der Ankunft in der neuen Domäne sollten die zwölf Infanteristen samt ihrem Sergeanten noch einige Zeit vor Ort bleiben und den Umsiedlern beim Hausbau zur Hand gehen. Doch nicht nur der reformierte Glaube der Umsiedler gefährdete das Unternehmen. Im polnischen Königreich galt immer noch eine mittelalterlich geprägte Leibeigenschaft. Das bedeutete, im Gegensatz zum kursächsischen Recht, in dem niemand ohne gerichtliches Urteil zu Tode gebracht werden durfte, entschied ein polnischer Adeliger in absoluter Eigenständigkeit über das Leben seiner Leibeigenen. Dabei pochten sogar die niedrigsten und ärmsten dieser adeligen Grundeigner auf dieses Recht, selbst wenn sie nicht mehr als eine Hand voll Leibeigene besaßen und höchstselbst Seite an Seite mit ihnen um des täglich Brotes wegen auf dem Acker schufteten.

Obwohl diese kleinen polnischen Krautjunker auf dem von ihnen verkauften Gebiet nichts mehr zu suchen und erst recht nichts mehr zu bestimmen hatten, führten sie sich auf, als ob Land und Leute immer noch ihr Eigentum seien. So kam es, dass ein Meißner beinah von zwei betrunkenen Schlachtschitzen zu Tode gehetzt wurde. Allein dessen kräftige Natur und dem Eingreifen der Infanteristen war es zu verdanken, dass die polnischen Junker abgewehrt werden konnten. Meist schlichen sie sich jedoch im Verborgenen heran, um über die auf den Feldern arbeitenden Frauen herzufallen. Vom ersten Tag an hatten die Soldaten deshalb große Mühe, die fünf Sächsinnen und ihre halbwüchsigen Töchter vor begehrlichen Übergriffen zu schützen.

Eine äußerst schwierige Situation, die einer grundsätzlichen Regelung bedurfte, sollte nicht das ganze Unternehmen nach dem Abzug der Infanteristen scheitern. Die einfachste Lösung war, die Sachsen rechtlich aufzuwerten, und dazu genügte es, sie in den Rang von Freibauern zu erheben. Im Zuge dieser Ernennung wurde jeder Familie, gemessen nach sächsischen Königsruten, ein Erblehen von 90 Morgen an Ackerland und Wiesen zugesprochen. Dazu noch Riedwiesen, Moore und ein Stück Wald fürs Gemeinwesen. Ein unerwarteter Reichtum für die fünf Familien, besaßen sie damit bedeutend mehr Land als ihre Väter in der sächsischen Heimat. Das erteilte Erblehen schützte fortan nicht nur Leben und Eigentum der fünf Familien, es band sie auch an diesen Ort. Und das gab Flemming die Sicherheit, dass die Sachsen ob unerwarteter Schwierigkeiten nicht das Weite suchten, sondern die ihnen als Scharwerk aufgetragene Pflicht, Tartuffli für die Hofküche anzubauen, verlässlich erfüllten. Die neuen Freibauern erhielten außerdem mehrere Gerechtsamkeiten, die ihnen das Dasein erleichterten. Neben der Holzgerechtsamen für den Domänenwald und dem Braurecht erlaubte man ihnen, in den Domänengewässern zu fischen und sämtliche Flächen zu beweiden. Ein von Flemming wohl überlegtes Kalkül. Er war sicher, dass diese grundehrlichen Lutheraner aus dem herrschaftlichen Besitz nie mehr an Wild, Fisch und Holz entnehmen würden, als sie für ihre Bedürfnisse benötigten.

Der Eifer, mit dem die Sachsen ihre neue Heimat einrichteten, kam jedoch nicht nur aus der Freude am übereigneten Land und dem neuen Stand. Sie waren zutiefst davon überzeugt, von Gott hierher geführt worden zu sein, um die Polen zu Luthers rechter Glaubenslehre zurückzuführen, die sie unter dem Einfluss der Jesuiten und deren Gegenreformation verlassen hatten. Ohne diese Überzeugung wäre ihnen der Umzug in das fremde Land sicher schwerer gefallen, denn laut Vertrag schloss bereits die Annahme des Handgeldes eine Rückkehr nach Sachsen aus – unter der Ausnahme einer Rückzahlung der gesamten Summe. Und die war schier unmöglich.

Dieser Umstand hatte die Aussiedler veranlasst, etwas Erde von den Gräbern ihrer Familien mitzunehmen, um in der Fremde nicht die Verbundenheit mit den Ahnen zu verlieren. Nachdem sie sich auf einen Standort für das provisorische Zeltlager geeinigt hatten, verstreuten sie während einer kleinen Andacht die mitgebrachte Heimaterde auf einem mit frischem Tannengrün umkränzten Flecken. So es Gott gefällt und er ihnen weiterhin seine Gnade schenkt, würden sie über dieser Stelle den Altar ihres Gebetshauses errichten.

Vom ersten Tage an versammelte sich die kleine Gemeinde jeden Abend zur Andacht. Sie dankte ihrem gütigen Gott, dass bisher niemand zu Schaden gekommen oder erkrankt war, dass der Hausbau gut voranging und sie keinen Hunger leiden mussten. Und sie bedankte sich, dass nicht nur die kostbaren Tartuffli die lange Reise ohne Verderb überstanden hatten, sondern auch die in Töpfen und Kübeln mitgebrachten Weinstöcke, Obstbäume und Reiser kräftig austrieben. Und auch, dass den Ankömmlingen von den umliegenden Gutsherren gesundes, kräftiges Vieh verkauft worden war. Alle fünf Muttersauen waren tatsächlich tragend und die zehn Kühe gaben so gute Milch, dass reichlich gebuttert werden konnte. Nach der Andacht aß man gemeinsam. Die Zubereitung oblag reihum jeweils zwei Frauen und den älteren Kindern. Viel Arbeit, schließlich wollten um die dreißig Menschen satt werden. Schon deshalb wurde gleich zu Anfang ein Backofen errichtet.

Während die Männer Häuser und Stallungen bauten, versorgten die Frauen nicht nur das Vieh, sie bearbeiteten auch den Streifen fruchtbaren Bodens zwischen Heide und Riedwiesen. Nur zum Führen des Pfluges und zu ihrem Schutz wurden sie von einem ihrer Männer oder einem Soldaten begleitet.