Frau aus dem Volk

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Frau aus dem Volk
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MARGIT ECKHOLT

FRAU AUS DEM VOLK

MIT MARIA RÄUME DES GLAUBENS ÖFFNEN


Band 8 der Reihe „Spiritualität und Seelsorge“, die von P. Martin Leitgöb und P. Hans Schalk im Auftrag der Ordensgemeinschaft der Redemptoristen herausgegeben wird.

Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung:

S. 23 und S. 70: Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © Katholische Bibelanstalt, Stuttgart 1980. S. 41: Kurt Marti, Der Traum, geboren zu sein. Ausgewählte Gedichte © 2003 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München.

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2015

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: stadthaus 38, Innsbruck

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

Alle Abbildungen stammen von der Autorin, ausgenommen „Das Paradiesgärtlein“ (www.staedelmuseum.de) Lithografie: Artilitho, Lavis (I) Druck und Bindung: Alcione, Lavis (I) ISBN 978-3-7022-3477-5 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3500-0 (E-Book) E-Mail: buchverlag@tyrolia.at Internet: www.tyrolia-verlag.at

INHALT

LEBEN UND GLAUBEN VERKNÜPFEN

Mit Maria Räume des Lebens öffnen

RÄUME, KREUZUNGEN UND ZWISCHENRÄUME

Befreiende interkulturelle Marien-Räume

DIE FRAU AUS DEM VOLK

Mit Maria biblische Räume betreten

RAUM DES UNRÄUMLICHEN GOTTES

Mit Maria Räume des Glaubens öffnen

TYPUS DER GLAUBENDEN UND DER KIRCHE

Mit Maria Räume der Kirche erschließen

MARIA PEREGRINA

Offene Räume in einer Welt in Bewegung

THEOLOGIN DES VOLKES

Mit Maria Räume der Weisheit öffnen

DIE FRAU AUS DEM VOLK, AUF DEM WEG MIT UNS

Anmerkungen

Meinem Vater zu seinem

85. Geburtstag gewidmet

LEBEN UND GLAUBEN VERKNÜPFEN
Mit Maria Räume des Lebens öffnen
LEBEN UND GLAUBEN NEU WIEDER ZUM KLINGEN BRINGEN

Auch in Zeiten des Wegbrechens von Zugehörigkeiten zu christlichen Gemeinden, des Verlustes von Bindungen an die Kirche und einer immer größeren Distanzierung zur Kirche als Institution bleiben für viele Männer und Frauen über Wallfahrtsorte und in Gemeinden und Familien tradierte Praktiken der Volksfrömmigkeit – vor allem der marianischen – weiterhin von Bedeutung: das Marienbild in der Wohnung; das Licht, das vor dem Marienaltar im Dom angezündet wird; ein Sich-auf-den-Weg-Machen an bestimmten Marienfesten, zu einer Kapelle, einem Kloster in der Nähe oder Ferne. Das gehört für viele Menschen immer noch zum Ausdruck ihres Glaubens, ein Zeichen ihrer Verbundenheit mit Gott, die sie in der Verehrung Marias zum Ausdruck bringen. Nicht nur in den romanischen Ländern und vor allem im lateinamerikanischen Raum, wo Zigtausende von Menschen alljährlich die Marienwallfahrtsorte der „Virgen de Guadalupe“ in Mexiko, der „Virgen de Copacabana“ in Bolivien oder der „Virgen de Luján“ in Argentinien aufsuchen, auch in den deutschsprachigen Diözesen ist dies von Bedeutung. In der Vielfalt der Bilder der Schutzmantelmadonna, der Knotenlöserin, der Lieben Frau vom Rosenkranz, der Pietà und den vielen Madonnen in den kleinen und größeren Kirchen mit dem Jesusknaben auf dem Arm entdecken viele Menschen ein Bild für die Ausdrucksgestalt ihres Glaubens; aus den Marienbildern tritt für sie das Bild einer Glaubenden und von Gott Erhörten, einer „Begnadeten“, über die sie ihr eigenes Glaubensbild ausprägen können.

Maria hat den Weg Jesu von Nazaret begleitet, ihr Leben war ganz mit ihm verbunden, darum kann sie „Vorbild“ für einen Weg des Glaubens sein, der eröffnet, wer dieser Jesus von Nazaret, der Mensch gewordene Gottessohn, der Messias Israels, ist. Maria nimmt dabei mit auf einen Weg, der zum Leben ermutigt; ein Weg, auf dem sich aus der Dichte des durchlebten und erlittenen Alltags, in der Vielfalt der Begegnungen, im Darin-sich-Binden an Jesus von Nazaret und im Vertrauen auf und der Hoffnung in das Wirken des Gottes Israels auch die je eigenen Glaubensgestalten herausbilden können. Maria wird in den Gebetstexten und Andachtsbildern der Volksfrömmigkeit oft in „einfachen“, alltäglichen Praktiken dargestellt: Sie nährt Jesus, sie liest, sie verrichtet eine Handarbeit, sie ist in das Gespräch mit Elisabet vertieft. Glauben und Leben stehen bei Maria in einer Verbindung, die andere ermutigt, das eigene, noch so gebrochene und unscheinbare Leben vor Gott zu bringen und dieses Leben anzunehmen, zu ihm zu stehen. Maria hat vertraut auf Gott, der „Freund des Lebens“ (Weish 11,26) ist, und sie ist darin zu einer Lebensbegleiterin für viele Menschen geworden.

Bereits in der frühen Kirche ist Maria als Zuflucht der Glaubenden verstanden worden. Das älteste Mariengebet „Unter Deinem Schutz fliehen wir“ ist auf einem Papyrus des 3./4. Jahrhunderts entdeckt worden.1 Es ist Ausdruck der Verehrung Marias und der Bedeutung, die sie in der frühen Kirche für den Glauben des Volkes hatte. Sie war und ist „Vorbild“ im Glauben und darin „Typus“ der Kirche, wie die Kirchenvätertheologie herausgearbeitet hat. Die Kirche, das Volk Gottes auf dem Weg durch die Zeit, die Gemeinschaft der Glaubenden, hat in ihr ein „Vorbild“, das helfen kann, den Glauben zu bilden und auszubilden. In der Volksfrömmigkeit haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder neue Gestalten der Verehrung Marias ausgebildet, Ausdrucksformen für den lebendigen Glauben des Volkes und die vielfältigen Weggestalten. Das Zweite Vatikanische Konzil wird dies bestätigen, wenn im abschließenden Kapitel der Kirchenkonstitution Lumen gentium von Maria die Rede ist als „Typus der Kirche unter der Rücksicht des Glaubens, der Liebe und der vollkommenen Einheit mit Christus“ (Nr. 63). In einer Ansprache am 23. Oktober 2013 hat Papst Franziskus daran erinnert: „Der Glaube Mariens ist die Erfüllung des Glaubens Israels. In ihr ist die gesamte Wanderschaft, der gesamte Weg des Volkes in Erwartung der Erlösung zusammengefasst, und in diesem Sinne ist sie ein Vorbild des Glaubens und der Kirche, in dessen Zentrum Christus steht, die Menschwerdung der unendlichen Liebe Gottes.“2

Auf Maria zu schauen heißt, in einen Raum des Glaubens und Lebens zu treten, der sich in der Geschichte christlichen Glaubens in den vielen Räumen von Menschen in der Spur Jesu entfaltet hat. Auf Maria zu schauen ist darum nicht mehr und nicht weniger als eine Einführung in den christlichen Glauben. Gerade heute, in Zeiten vielfältiger und neuer religiöser Suchbewegungen, die die vielen Wege der Welt nehmen und oft weniger in „klassischen“ Räumen der Glaubenstradierung der Kirchen zu finden sind, brauchen solche Einführungen in den Glauben konkrete, „greifbare“, „verkörperte“ Gestalten, an denen sich Menschen orientieren können und die Räume eröffnen, in denen das konkret wird, was Heil, Erlösung, Befreiung ist. Sie brauchen Menschen, die auf ihrem Lebensweg in das Vertrauen in Gott hineingewachsen sind und die daraus gelebt haben, die ihr Leben in den Dienst dieser Gottesgeschichte gestellt haben: dass der Gott Israels den Menschen ganz nah gekommen ist, dass Gott Mensch geworden ist, dass sich darin die Verheißung von Erlösung erfüllt und im Geschehen von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi verdichtet hat. An diesen Menschen – die Kirche verehrt sie als Selige und Heilige – kann in symbolischer Weise abgelesen werden, was Glauben heißt. Die Orientierung an einem Bild, einem Gebet, einer Andacht, die eine Annäherung an diesen besonderen Menschen bedeutet, ermöglicht den Suchenden unserer Zeit ein je neues Sich-Vertiefen in den Glaubensweg dieses Menschen und darin eine Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, ein Wachsen und Reifen und ein Sich-herausfordern-Lassen durch das „Vorbild“ des anderen, ein Sich-Bereiten für einen Ruf, für ein neues Hören auf Gottes Wort und Sich-von ihm-ansprechen-Lassen.

 

Leben und Glauben können mit Blick auf Maria neu miteinander zum Klingen gebracht werden. Paul VI. hatte in seiner Enzyklika Evangelii nuntiandi 1975 den Bruch zwischen Glauben und Leben als eine der größten Herausforderungen für die Glaubensweitergabe und kirchlichen Praktiken bezeichnet; Papst Franziskus knüpft 2013 in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium daran an; er weist auf die Notwendigkeit hin, Leben und Glauben wieder neu aufeinander zu beziehen, und gibt in seinen Ansprachen und Predigten ein Beispiel dafür.3 Glauben kann nur aus und in der Vielfalt und Dichte der Begegnungen, der all- und sonntäglichen, wachsen. „Wie lebte Maria diesen Glauben?“, so fragt Papst Franziskus in seiner Ansprache im Oktober 2013: „In der Einfachheit der vielen täglichen Beschäftigungen und Sorgen jeder Mutter, wie die Zubereitung der Speisen, die Pflege der Kleidung, die Betreuung des Hauses … Gerade diese Normalität der Gottesmutter bildete die Grundlage für die einzigartige Beziehung und den tiefen Dialog, der sich zwischen ihr und Gott, zwischen ihr und ihrem Sohn, vollzogen hat. Das von Beginn an vollkommene Ja Mariens wuchs bis zur Stunde der Kreuzigung. Dort erweitert sie ihre Mutterschaft zu einer Umarmung aller Menschen, um sie zu ihrem Sohn zu führen. Maria lebte stets im Geheimnis des Mensch gewordenen Gottes als dessen erste vollkommene Nachfolgerin. Sie betrachtete alles im Lichte des Heiligen Geistes in ihrem Herzen, um den ganzen Willen Gottes zu begreifen und umsetzen zu können.“ Maria ist Wegbegleiterin, den Glauben in den alltäglichen Praktiken zu verankern; sie hat ihr Leben in den Dienst des Gottes Israels gestellt, sie hat im Vertrauen auf die Verheißungen Gottes gelebt, und das ist erwachsen in den täglichen Verrichtungen, an der Seite Jesu, im Dialog mit ihm und darin mit Gott.

MIT MARIA RÄUME DES GLAUBENS BETRETEN

Wer auf Maria schaut, wird in das Herz christlichen Glaubens geführt, darum wird sie verehrt, darum werden Andachten, Bittgänge, Wallfahrten gestaltet, die Praktiken des Glaubens darstellen, aus und in denen theologische Reflexionen ihren Nährboden gefunden haben. In den folgenden Kapiteln dieses Buches werden verschiedene Räume skizziert, die sich in der Geschichte christlichen Glaubens entfaltet haben und die darin zusammengebunden sind, weil sie Räume des Lebens und des Glaubens sind, in denen sich Erfahrungen von Erlösung, Heil und Befreiung verdichtet haben als Antwort auf das heilvolle Wort Gottes, das „konkret“ geworden ist in Jesus von Nazaret, dem Menschen- und Gottessohn. Maria ist – so werden es die „Räume der Bibel“ erschließen – die „Frau aus dem Volk“, wie sie der Evangelist Lukas vorstellt; sie ist die „Mutter“, so der Evangelist Johannes, die den Weg Jesu begleitet, durch alle Höhen und Tiefen bis an den Abgrund des Kreuzes. Maria hat den Klärungsprozess christlichen Glaubens in der Entfaltung des Verständnisses der Offenbarung Gottes in Jesus Christus in den ersten christlichen Jahrhunderten begleitet. Das wird in den „Räumen des Glaubens“ und den „Räumen der Kirche“ entfaltet.

Sie wird hier – auf den ersten ökumenischen Konzilien, vor allem dem von Ephesus (431), auf dem das erste Mariendogma formuliert wird – als die geglaubt, aus der der göttliche Logos geboren wird, die Jungfrau und Mutter, deren Verehrung uns Gott erschließt, wie er in Jesus von Nazaret, dem Christus, Mensch geworden ist zum Heil, zur Befreiung und zum Leben für uns Menschen. Gott ist Mensch geworden, er hat sich „klein“ gemacht, ist einer von uns geworden, und ein Mensch, eine Frau, ist von Bedeutung in diesem Heilsgeheimnis, von Anfang an: Das ist Ausgangspunkt der Verehrung Marias als der Theotokos, der Gottesgebärerin, der „Mutter Gottes“, und als solche bietet sie Zuflucht, ist sie Fürsprecherin bei Gott. Die dogmatischen und kirchlichen Grenzziehungen sind von Bedeutung; Maria wird nicht als eine „Muttergottes“ geglaubt, auch wenn sich in der Verehrung des Volkes oft Grenzen zu den an Marienwallfahrtsorten verehrten weiblichen Gottheiten verwischen. Maria ist die Theotokos und bleibt die Frau aus dem Volk, die Gott erwählt hat und die darum „Mutter“ Gottes ist, weil sie im Dienst der Offenbarung und der Verdichtung des Heilsgeheimnisses steht, des Höhepunktes seiner Offenbarung an das Volk Israel in der Menschwerdung Gottes. Maria steht ganz und gar, mit ihrer ganzen Person, im Fühlen, Wollen und Denken, mit Leib und Seele, in diesem Dienst; sie ist offen für Gott in aller Klarheit und Integrität, in ihrem ganzen Leben; das drückt die „immerwährende Jungfräulichkeit“ – das zweite Mariendogma der alten Kirche (Konzil von Konstantinopel 553) – aus.

Wer auf Maria schaut, wird aber in gleicher Weise mit sich selbst konfrontiert, und das wird gerade in den dogmatischen Entfaltungen des 2. Jahrtausends deutlich, die 1854 und 1950 mit den beiden letzten Mariendogmen ihren Höhepunkt finden: 1854 die dogmatische Entscheidung zur Bewahrung Marias von der Erbsünde, ihrer Herausnahme aus dem erbsündlichen Schuldzusammenhang, und 1950 die Entscheidung zur Aufnahme Marias in den Himmel. Wenn mit dem Blick auf Maria in das Herz christlichen Glaubens geführt wird und die dogmatischen Entscheidungen der frühen Kirche, in denen von Maria die Rede ist, gerade im Dienst des je größeren Gottes und seiner Offenbarung in Jesus Christus stehen, so geht es dabei aber immer auch um den Menschen. Gott ist Mensch geworden, damit wir Kinder Gottes werden, um unseres Heilwerdens, unserer Erlösung und Befreiung willen. Gott hat sich „klein“ gemacht, damit der Mensch „groß“ wird. Maria ist in diesem Sinn „Vorbild“, von Anfang an ist sie von Gott gewollt und von ihm her „heil“, das steht hinter dem Volksglauben und dann der dogmatischen Festlegung der Bewahrung Marias von der Erbschuld. Der Blick auf Maria macht deutlich, dass es keine gottgewollte Notwendigkeit der Verstrickung in die Geschichten von Schuld und Sünde gibt. Es gibt eine „Unversehrtheit“ von Gott her, die am Menschen aufgehen kann; dafür steht Maria, dafür steht das Dogma der Bewahrung Marias von der Erbschuld, im Volksmund genannt die „unbefleckte Empfängnis“.

Die Verstrickungen in das Böse, in Schuld und Sünde, das Dunkle und der Tod haben auch nicht das letzte Wort, das steht hinter der jüngsten dogmatischen Entscheidung: Maria wird „in den Himmel aufgenommen“, das ist ein Hoffnungsbild der Zukunft, das an das Paradiesbild der ersten guten Schöpfung anknüpft. So sind die beiden Dogmen des 2. Jahrtausends Narrationen, Imaginationen und Symbolisierungen der Hoffnung, die aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer und Herrn der Geschichte und Richter über alle Zukunft, erwächst. Gott eröffnet dem Menschen Hoffnung, Sinn und Orientierung in seiner Offenbarung in Jesus Christus, er schenkt in Jesus Christus ein Bild vom ganzen, heilen Menschsein, das an Maria abzulesen ist. Dabei ist dies kein „Traumbild“ einer „heilen Welt“, sondern gerade das Bild einer Frau, der ein „Schwert durch das Herz fährt“ (Lk 2,35), die – so das Motiv der apokalyptischen Frau (Offb 12,1–6) – die Gewalt der Welt in ihrem Körper erfährt, deren Kind entrissen wird, die lebt, in der Hingabe, in dem sie Leben bereitet für einen anderen, in dessen Dienst sie steht. Gerade darum haben die Konzilsväter die Kirchenkonstitution Lumen gentium des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Marienkapitel beendet. Eröffnet wird das Dokument mit der Erinnerung an das Heil, das in Jesus Christus geschenkt ist und auf dessen Verkündigung jegliche kirchliche Praxis bezogen ist.

VOLKSRELIGIOSITÄT, SPIRITUALITÄT UND GLAUBENSPRAKTIKEN
Eine poetische und ästhetisch-theologische Erschließung Marias

Maria steht für die Möglichkeit der Antwort des Menschen auf dieses Offenbarwerden des Heils, für die spezifisch christliche, sich in die Geschichte hineingebende, inkarnierende Gestalt der Freundschaft und des Lebens Gottes. Sie wird so als „Typus des Glaubens“ und „Typus der Kirche“ bezeichnet, aber sie lässt sich nicht „fixieren“, sie hat immer wieder selbst Grenzen überschritten, hat neue Räume überschritten, sie war und bleibt die „Suchende“, die Maria auf dem Weg, der Herbergssuche, an der Seite aller Rastlosen, aller Menschen auf der Flucht, auf der Suche nach Heimat und Halt. Dieser Blick auf die „Maria Peregrina“ lässt in Räume des Glaubens eintreten und lädt ein, auf neue Weise eigene Praktiken des Glaubens auszubilden. Ein solcher ästhetisch- und praktischtheologischer Zugang zu Maria, der sich an Marienbildern, Praktiken der Wallfahrt, Gebeten und Liedern orientiert, verbindet Glaubenserfahrung, Glaubensbildung und Glaubensreflexion, er würdigt in genau diesem Sinn Maria als „Theologin“. Dieser „Raum der Weisheit“, mit dem der Weg des Buches beschlossen wird, eröffnet mit diesem Blick auf Maria gerade auch Frauen ihren Raum in der Theologie als Wissenschaft, ein Raum, der in der Geschichte des Christentums verschlossen war und erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Erinnerung an den sensus fidelium und das „Priestertum aller Gläubigen“ eröffnet worden ist. Zur Ausbildung des Glaubenssinnes der Kirche gehört die Glaubenserfahrung des gesamten Volkes Gottes, gehören die Frömmigkeitsformen, gehören Gebete, Gedichte, gehören auch theologische Texte, die nicht in den „mainstream“ der theologischen Lehre aufgenommen worden sind.

Gerade darum gehört der Blick auf Maria zu einem spannenden und kreativen Feld gegenwärtiger Theologie. Volksfrömmigkeit und Spiritualitätsformen sind aus der theologischen Reflexion ausgeblendet worden, erhalten aber in den letzten Jahren ein gewisses „Heimatrecht“ in der Theologie, vor allem in den kontextuellen Theologien, die in Lateinamerika, Afrika und Asien entstanden sind, und sie stellen in den interkulturellen Dynamiken der globalisierten Welt heute herausfordernde Fragen an den Weg westlicher Theologie. In der Glaubenserfahrung des Volkes hat Maria in allen Jahrhunderten eine ausgezeichnete Rolle gespielt und es haben sich in Räumen, die die offizielle kirchliche Tradition ausgeblendet hat, eigene theologische Reflexionen ausgebildet. Gerade in Frauenklöstern wird ein mariologischer Schatz tradiert, der erst langsam in der theologischen Frauenforschung gehoben wird, wie sie die Osnabrücker Theologin und Mediävistin Elisabeth Gössmann begründet hat.

Die „Mariologie“ wird auf diesem Hintergrund zu einem neuen Forschungsfeld.4 Das ist aber nicht mehr eine Mariologie im klassischen Sinn als „Traktat“ dogmatischer Theologie, wie sie sich im 16. Jahrhundert ausgebildet hat, sondern ein poetischer und ästhetisch-theologischer Zugang zu Glaubenserfahrungen und Praktiken des Glaubens. Es geht in den vorliegenden Überlegungen nicht um eine „Lehre von Maria“, sondern um ein Erschließen der großen Fragen christlichen Glaubens: nach Gott, Jesus Christus und Gottes Geist, nach dem Dreifaltigen, der als Schöpfergott die Liebe ist, nach Jesus Christus, dem Sohn Gottes, in dem diese Liebe offenbar geworden ist und der das Geschenk Gottes für Mensch und Welt zum „Heil“, zur „Befreiung“, zur „Erlösung“ ist, nach Gottes Geist und seinem Wirken in uns, nach der „Gnade“, nach der Gemeinschaft der Heiligen, die in Gottes Liebe leben und für uns „Vorbilder“ des Glaubens sind. Der Blick auf Maria eröffnet Zugänge zu diesen „Räumen des Glaubens“ und darum ist sie „Typus“, ist sie „Vorbild“, war und ist sie eine „Schlüsselfigur“ der Spiritualität von Frauen und Männern.

Ein solcher Weg ist angeleitet – wie es das nächste Kapitel deutlich machen soll – von einer feministisch-theologischen und befreiungstheologischen Hermeneutik. Es ist gerade ein Verdienst der feministisch-theologischen Zugänge zu Maria, die „dogmatische“ Maria – die Jungfrau, Mutter und Himmelskönigin – zurückgebunden zu haben an die Maria von Nazaret, die Maria des Magnifikat, die an der Seite ihres Sohnes stand, von der Geburt bis an das Kreuz, bis hinein in den Kreis der Apostel in den entscheidenden Gründungsmomenten der Kirche. Auch wenn das biblische Zeugnis in einem historisch-kritischen Sinn als Zugang zu einer „Biographie“ Marias dürftig ist, so weist es als theologischer Zugang zu Maria im Sinne eines „Typus“ des Glaubens wichtige Wege. Darin gründen und daran knüpfen dann die dogmatischen mariologischen Aussagen an. In einem späteren Geschichtsmoment von der Gemeinschaft der Kirche – oder wie in jüngerer Zeit vom Lehramt des Papstes – verabschiedete dogmatische Lehraussagen stellen kein „Mehr“ zu der Offenbarung dar, wie sie in den Schrifttexten bezeugt sind. Sie beziehen sich aber auf die Entwicklung eines sensus ecclesiae in der Geschichte der Kirche und sind darin vom Wirken des Geistes Gottes in der Geschichte christlichen Glaubens getragen. Das kann an den Mariendogmen in besonderer Weise abgelesen werden.

 

Wenn wir auf Maria schauen, wird deutlich, dass eine Auseinandersetzung mit Glaubensfragen immer von Glaubenserfahrungen und Glaubenspraktiken geprägt ist, wie sie sich in der Alltäglichkeit des Lebens in den jeweiligen geschichtlichen Momenten und kulturellen Räumen ausprägen. Wenn wir nach Gott und seiner Liebe zur Welt, zum Menschen fragen, so ist dies keine „abstrakte“ Frage, sondern diese Frage hat mit uns zu tun. Leben und Glauben gehören zusammen, das kann an Maria abgelesen werden, darum ist sie denen „nah“, die sich die Fragen nach Heil und Befreiung, nach Schuld und Sünde, nach Freude und Glück nicht „vom Leibe halten“, und darum lohnt es, mit ihrem Weg vertraut zu werden, weil sie das zusammenzubringen vermag, was auseinandergebrochen ist. Das was Heil, was Erlösung, was Befreiung ist, rückt nah, ganz nah in Maria, und bleibt darin doch Geheimnis des Glaubens; darum wurde sie von Beginn des Christentums an verehrt, weil sie in Räume des Gottes Israels, des Gottes Jesu Christi eintreten lässt. Darum ist die Mariologie in der katholischen Tradition eine „Erfolgsgeschichte“ geblieben und darum wird sie auch in der jüngeren protestantischen Theologie wieder neu zu einem Thema.5

In Zeiten, in denen gerade in den Ländern des Westens die Glaubenserfahrung „schwach“ geworden ist, ist es wichtig, sich vor aller Praxis an die poiesis zu erinnern, eine imaginierende und schöpferische poiesis, die die Lebensquellen erschließen hilft. Maria weist einen solchen Weg; die Bilder, die Menschen sich in allen Zeiten, ihren geschichtlichen und kulturellen Erfahrungen entsprechend von Maria gemacht haben, sind poetische Bilder, die aller Gewalt und Not, dem Tod zum Trotz Erfahrungen von Transzendenz ermöglichen, die in die chaotische Stadt des Menschen die Visionen der Stadt einschreiben, die vom Himmel kommt, ein konkreter Traum von Schönheit und Frieden, von menschlicher und kosmischer Harmonie. Das wird in den alten Gebeten deutlich, wenn Marias Schutz erfleht wird, in den Bildern wie der Schutzmantelmadonna, der Mutter vom guten Rat oder der Pietà. Das sind Symbole des Glaubens, die in die Kultur eingebettet und mit den Lebensgeschichten der Menschen verwoben sind, die – so das berührende Symbol der auf der Rückseite einer russischen Landkarte gemalten Schutzmantelmadonna in einem Bunker in Stalingrad, nun Glaubenszeichen in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin6 – in unterschiedlichen Zeiten neu produktiv werden können. Sie begleiten Menschen und leiten sie an, ihre eigenen Gestalten des Glaubens an den Gott des Lebens, der sich zum Leben, zum Heil, zur Heilung und Befreiung in Jesus Christus geoffenbart hat, zu finden. Das sind dabei keine „Standbilder“, sondern Bilder, die „aufgeführt“ und neu „inszeniert“ werden wollen und darin zu neuer Praxis anleiten. Dazu ist eine theologische Begleitung notwendig, die sich an einer ästhetischen Theologie schult und von einer kritischen und befreienden Theologie zu lernen weiß, die Bilder und Symbole in den Horizont des je größeren Offenbarwerden Gottes zu stellen. Maria, die Frau aus dem Volk, die Mutter Gottes, ist Hoffnungsbild für den Menschen, Schwester und Freundin im Glauben, weil sie zu einem Glaubensweg anleitet. Am „Vor-Bild“ Marias können wir unseren Glauben „bilden“.