Menschen im Krieg – Gone to Soldiers

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Marge Piercy

Menschen im Krieg

Gone to Soldiers

Marge Piercy

Menschen im Krieg
Gone to Soldiers

Roman

Deutsch von Heidi Zerning

Literaturbibliothek

Argument · Ariadne

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Gone to Soldiers

© Marge Piercy 1987

Alle Rechte vorbehalten

Neuausgabe © Argument Verlag 2014

Deutsche Erstausgabe © Argument Verlag 1995

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann,

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86754-872-4

Die Überlebenden haben ihre eigenen

Bücher geschrieben,

und die zu Tode Gekommenen sind zu zahlreich und zu hungrig,

als dass dies dem Grabhügel mehr als ein

Steinchen hinzufügen könnte

So ist dies für meine Großmutter Hannah,

die der Trost meiner Kindheit war

und eine Geschichtenerzählerin sogar in dem

Englisch,

das ihr nie recht in den Mund passte

Für den Augenblick, als sie erfuhr, dass von

ihrem

Dorf niemand und nichts geblieben war

Für ihre schwachen Augen, ihren starken

Magen und die Geschichten, die sie erzählte

Für ihre Liebe zu Döntjes und zu Märchen,

ihr unheilbar romantisches Herz,

ihre Gabe, die Vergangenheit

in die Gegenwart zu rufen

Louise 1
Talent zu Romanzen

Louise Kahan, auch bekannt als Annette Hollander Sinclair, sah in der Diele ihrer Wohnung die Post durch. Ein Luftpostbrief aus Paris. »Deine Tante Gloria hat dir geschrieben«, rief sie Kay zu, die sich in ihrem Zimmer eingeigelt hatte und Swing hörte, angeblich Schularbeiten machte, aber in ihren klebrig-verschwitzten Gedanken nur den Jungens nachhing. Louise kannte die Symptome, hatte aber nie ein Heilmittel dagegen gefunden, nicht bei sich selbst und schon gar nicht bei ihrer Tochter. Kay antwortete nicht; vermutlich hörte sie nichts über dem Stampfen aus dem Radio.

Ein Stapel Privatpost für Mrs. Louise Kahan. Familienkram, Einladungen. Gelegentlich ein Fauxpas, gerichtet an Mr. und Mrs. Oscar Kahan. Wo wart ihr eigentlich die letzten zwei Jahre? Dann die Post für Annette Hollander Sinclair in zwei Häufchen: eins für Geschäftsbriefe über Rechte, Rundfunkbearbeitungen, ein Vertrag mit Doubleday von ihrem Agenten Charley für den Sammelband mit Erzählungen unter dem Titel Was ihm verborgen blieb. Vorträge, Clubansprachen, ein Interview am Mittwoch.

Der zweite Stapel für Annette war Fanpost, zu fünfundneunzig Prozent von Frauen. Schließlich ein paar Sachen für die schlichte Louise Kahan: ihr Daily Worker, Nachdrucke von einem Masses and Mainstream-Artikel, den sie über den Streik der Docker in Baltimore geschrieben hatte, von International Publishers ein Buch über Fabrikarbeiterinnen, das sie besprechen sollte, und William Shirers Berliner Tagebuch.

In dem Stapel waren auch die Nachmittagszeitungen. Die griff sie sonst zuerst auf, aber sie konnte sich heute nicht dazu durchringen. Europa war von einem Ende bis zum anderen von den Nazis besetzt, ein einziges riesiges Gefängnis. Überall wurden gute Menschen und alte Freunde an die Wand gestellt, in Kellern gefoltert, in Lager verschleppt, über die Gerüchte umgingen, die langsam mehr zu sein schienen als Gerüchte.

Sie lehnte sich an die Wand und sammelte Kraft, um ihr Leben fortzusetzen, das gefühlsgeladene Minenfeld zu betreten, in das sich ihre Beziehung zu Kay in letzter Zeit verwandelt hatte. Die Diele war der dunkelste Raum der Wohnung, denn das Wohnzimmer, ihr Büro und Kays Zimmer hatten Aussicht auf den Hudson River, ihr eigenes Zimmer und das Esszimmer blickten auf die Zweiundachtzigste Straße. Sie hatte die Diele mit ein paar geschickt platzierten Spiegeln aufgehellt und mit einer Lampe eigens auf den großen, kühnen Miró, den sie jetzt auf der Suche nach Heiterkeit, Esprit und Licht betrachtete.

Der Vortrag, vor zwei Stunden von ihr gehalten, hatte sie gelangweilt, wiewohl nicht ihr Publikum. Wenn sie an den flittergeschmückten Läden vorbeikam, fand sie Weihnachten schwerer zu verkraften als sonst. Die Welt verbrannte zu Knochen und Asche, und ihre Landsleute dachten an nichts als Donald Duck im Weihnachtsmannkostüm. Sie musste eigentlich bald die Stadt zur East Side durchqueren, um Lekvar für eine Süßigkeit zu besorgen, die sie gern zu Chanukka buk, eine ungarisch-jüdische Leckerei aus der Küche ihrer Mutter, aber der Laden, der das führte, lag im deutschen Yorkville. Sie musste in kampflustiger Stimmung sein, um den offen zur Schau gestellten Hakenkreuzen die Stirn zu bieten, den Nazifilmen in den Kinos, Sieg im Westen, dem Deutsch-Amerikanischen Bund, der antisemitische Pamphlete an den Ecken verteilte.

Neben der Post lag eine Liste der Telefonanrufe, hingekliert, wenn Kay sie entgegengenommen hatte: Ed von der Vortragsvermittlung hat angerufen. Du sollst morgen Vormittag zurückrufen. Hat wohl Ärger.

Eine Verrückte hat angerufen, sie will, dass du ihre Lebensgeschichte schreibst.

Papi hat angerufen.

Die Notizen ihrer Haushälterin Mrs. Shaunessy und ihrer Sekretärin Blanche waren ordentlicher:

Mr. Charles Bannermann, 11:30. Er möchte wissen, ob die Verträge angekommen sind.

Mr. Kahan, 14:30. Er ist in seinem Büro in der Columbia.

Mr. Dennis Winterhaven, gegen 15:00, er ruft noch mal an.

Miss Dorothy Kilgallen hat angerufen wegen eines Interviews mit Ihnen am 12. Dezember.

Oscar hatte zweimal angerufen. Sie versuchte, das als bedeutungslosen Zufall zu behandeln, aber nichts zwischen ihnen würde sich je auf eine emotionslose Ebene hinunterschrauben lassen, das wusste sie inzwischen. Allein bei der Aussicht, ihn zurückrufen zu müssen, erhöhte ihr Herz merklich den Durchfluss, verflixte verräterische Pumpe. Sie erledigte zuerst die geschäftlichen Anrufe, klärte ihren Terminplan, schaute die Verträge durch, setzte ihre Paraphe, wo sie sollte, unterschrieb mit vollem Namenszug, wo sie sollte. Das Geld konnte sie wahrlich brauchen.

Sie beschloss, mit Kay zu reden, bevor sie sich auf ihren geschiedenen Ehemann einließ. Sie klopfte an. Mit fünfzehn hatte sie sich nach eigener Privatsphäre mit einer Heftigkeit gesehnt, an die sie sich noch erinnern konnte. Sie gewährte Kay die Unantastbarkeit ihres Zimmers, obwohl das Beherrschung kostete. Louise kannte sich als ängstliche Mutter. Sie wollte Kay gern wieder näher sein, so nah, wie sie sich gewesen waren, als Kay noch kleiner war, auch wenn sie wusste, dass Kay ihre Unabhängigkeit behaupten musste. Irgendwo lag der richtige Ton, die richtige Stimme, die richtige Geste, um das gegenseitige Wundgeriebensein zu lindern.

»Schau, schau, ein Annette-Hut!«, sagte Kay. Sie lümmelte auf dem Fußboden, ganz Beine und Ellenbogen und überzählige Gelenke in einem Faltenrock, der rasch seine Falten verlor, und einer übergroßen Hemdbluse, in der sich ihr kaum entwickelter Körper verlor, als habe er sich aufgelöst. Sie drehte automatisch das Radio leiser, als Louise hereinkam.

Louise berührte den Hut: ein Wagenrad in Schwarz und Rosa mit einem kleinen Schleier über den Augen. »Ich habe in Oyster Bay einen Vortrag vor einem literarischen Club gehalten.«

»Literarisch?«, kreischte Kay. »Was wollten die dann von dir?«

»Sie nennen sich so, aber sie lesen nicht Thomas Mann.« Sie löste die Hutnadeln, nahm den Hut ab und ließ ihn auf zwei Fingern kreisen. Sie schlüpfte aus ihren hochhackigen Pumps und sank in den Schaukelstuhl, um sich die müden Füße zu massieren. »Hat dein Papi gesagt, was er wollte, Kay?«

Kay kicherte. »Ich habe ihm von meinem Aufsatz erzählt, und er hat ihn praktisch am Telefon für mich geschrieben.«

»Das war bestimmt sehr hilfreich«, sagte Louise und schmeckte dabei den Essig in ihrer Stimme. »Was hatte er sonst noch zu bieten?«

Kay zuckte die Achseln. Offensichtlich war sie unwillens, die Reichtümer eines trauten Vater-Tochter-Gespräches zu teilen.

Louise fiel es wieder ein. »Für dich ist ein Brief da von deiner Tante Gloria.«

Gloria, Oscars Schwester, hatte der Kriegsausbruch in Paris überrascht. Gloria war Kays Lieblingstante, die Glanzgestalt, die Andere, die sie so sehnsüchtig sein wollte: eine elegante, schwarzhaarige Schönheit, die als freie Korrespondentin in amerikanischen Zeitschriften über französische Mode berichtete. Gloria war wie Oscar in der Stahlstadt Pittsburgh geboren, doch das einzig Stählerne an ihr war ihr Wille. Louise bewunderte die Willenskraft und den Stil ihrer Schwägerin, obwohl Gloria außer Opportunismus keinen politischen Standpunkt besaß und einen nichtssagenden Franzosen mit mehr Geld als Verstand und mehr Stolz als Geld geheiratet hatte.

Gloria nahm ihre Tantenpflichten ernst. Sie war kinderlos, denn ihr etwa zwanzig Jahre älterer französischer Mann hatte bereits Kinder, denen es offenkundig lieber war, dass er keine weiteren in die Welt setzte. Während Kay durch die Wildwasser ihrer Pubertät paddelte, schickte Gloria ihr unpassende Geschenke (entweder zu kindliche Teddybären oder zu damenhafte perlenbesetzte Pullover) und anekdotische Briefe, die Kay heiß und innig liebte.

Nun raffte Louise sich seufzend auf. Sie streifte einen Kuchenkrümel vom Rock ihres rosaroten Wollkostüms und betrachtete sich in Kays Spiegel.

»Du siehst schick aus, Mami. Warum bist du immer noch so angezogen? Gehst du noch mal aus?«

»Nein, Liebling, keinen Schritt. Ich wollte mich nur bei dir melden.« Sie sah wirklich recht gepflegt aus, der Teint rosig über dem rosaroten Kostüm, das Haar gut geschnitten, eng anliegend an den Seiten des ovalen Gesichts, dessen bestes Merkmal die fein geschnittenen Züge waren und dessen zweitbestes die großen grauen Augen, betont vom rotbraunen Haar. Louise war es immer selbstverständlich gewesen, auf Männer attraktiv zu wirken; etwas Gegebenes, über das sie nicht nachzudenken brauchte, ein Vorteil, auf den sie sich verlassen konnte. Jetzt prüfte sie kritisch ihr Aussehen, wie sie es jeden Monat mit ihrem Bankkonto tat. Die Ausgaben waren hoch für ihren vaterlosen Haushalt, und die Lebenshaltungskosten konnten sich auf dem Gesicht einer Frau von achtunddreißig rasch niederschlagen. Wenig Eitelkeit war im Spiel. Sie vertrat die Ansicht, wenn ein Vorteil dahin war, so tat man gut daran, das zu berücksichtigen. Doch der Spiegel versicherte ihr, dass sie attraktiv geblieben war, falls das irgendetwas nutzte.

 

Wenn sie daran dachte, wieder zu heiraten, dann tauchte die Frage auf, wo sie mit dem Mann überhaupt hinsollte. Nachdem Oscar entschwunden war, hatten sie und Kay und Mrs. Shaunessy und ihre Sekretärin Blanche den Platz rasch ausgefüllt. Sie war nicht bereit, auf ein Büro für ihre Arbeit zu verzichten und sich je wieder mit einem zierlichen Damenschreibtisch hinter einem Wandschirm in einer Ecke des Schlafzimmers zu begnügen. Sie lächelte dem Spiegelbild, das sie schon gar nicht mehr wahrnahm, zu und dachte daran, wie bezeichnend es für das Zusammenleben mit Oscar gewesen war, dass sie ihrer Arbeit in einer Ecke hatte nachgehen müssen. Alles hatte sich stets und ständig nach ihm richten müssen.

»Mutter! Du benutzt den Spiegel ja mehr als ich.«

Sie merkte, dass Kay mit Glorias ungeöffnetem Brief auf dem Schoß dasaß und darauf wartete, dass sie ging, damit sie ihn ungestört verschlingen konnte. Louise fühlte sich ausgeschlossen und entfernte sich sofort. Das Abendessen war sicher eine bessere Gelegenheit. Sie nahm sich vor, beim Abendessen mit Kay zu reden, denn das war oft ihre beste Zeit. Sie würde aus ihrem Nachmittag eine Perlenschnur komischer Geschichten machen, um Kay zum Lachen zu bringen, und sie dann nach der Schule und ihren Freunden und Freundinnen fragen. In letzter Zeit umwarb sie ihre Tochter ständig. Sie musste sich bezähmen, nicht zu viele Geschenke zu kaufen, aber vielleicht war es möglich, am Sonnabend mit ihr einkaufen zu gehen, nachmittags. Sie konnte sich noch an ihre Vertrautheit erinnern, als sie sämtliche Hoffnungen und Wünsche und Ängste von Kay auswendig kannte, als sie Kay im Arm gehalten und für sie »Du bist mein Sonnenschein« gesungen und es auch so gemeint hatte. Ihr kostbares Sonnenkind, dessen Leben völlig anders werden sollte, geborgener und besser als ihre eigene arme und zerrüttete Jugend.

Nun konnte sie das Telefongespräch mit Oscar nicht länger hinausschieben. Sie dachte daran, Mrs. Shaunessy nach seinen genauen Worten zu fragen, aber ihr Zaudern und ihre Befangenheit hatten noch nicht die Oberhand. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, nahm sie ihr Schlafzimmertelefon auf den Schoß, doch dann überlegte sie es sich anders und beschloss, ihn von ihrem Bürotelefon aus anzurufen. Von Schreibtisch zu Schreibtisch. Das mutete sicherer an. Louise saß in ihrem Drehsessel und blickte mit Genugtuung auf das kleine Arbeitskönigreich, das sie sich geschaffen hatte, dann wählte sie widerwillig Oscars Nummer in seinem Büro in der Columbia University.

»Oscar? Hier ist Louise. Du hast angerufen?«

»Louie! Wie geht’s dir? Augenblick.« Er sprach vom Hörer weg. Die Stimmen redeten ein Weilchen weiter, sie saß da und zog vor Ungeduld Gesichter. »Entschuldige, dass ich dich warten ließ, aber ich wollte meine Assistentin ins Vorzimmer verfrachten.«

»Assistentin wobei?«

»Ich leite eine Befragung deutscher Flüchtlinge. Einer meiner Studenten befragt die Männer, und eine junge Dame von Blumenthal wird sich der Frauen annehmen. Wie geht’s dir, Louie? Ich habe vorhin mit Kay gesprochen. Wir hatten ein recht verständiges Gespräch über den Sinn der Demokratie.«

»Kay sagte, du hast ihr am Telefon in groben Zügen den Aufsatz geschrieben.«

»Sind das nicht scheußliche Nachrichten dieser Tage? Wenn ich das Radio anstelle, dann rechne ich mit der Nachricht, dass Moskau gefallen ist.«

»Sie kämpfen in den Vorstädten. Ich warte immer darauf, dass der legendäre russische Winter seine historische Pflicht tut und die Nazis vereist –«

»Ich habe letzte Woche Oblonsky getroffen. Er ist in Leningrad gewesen. Er sagt, sie verhungern.«

»Nicht buchstäblich«, sagte Louise schneidend. Sie hatte eine Abneigung gegen solche Übertreibungen.

»Durchaus buchstäblich. Die Menschen sterben vor Hunger und Kälte. Er sagt, sie fallen zu tausenden tot um, und es ist niemand da, um sie zu beerdigen.«

Louise schwieg. Sie und Oscar hatten Freunde unter den Intellektuellen und Schriftstellern Leningrads, einer Stadt, die sie Moskau vorzogen. Oscar konnte etwas Russisch, und sie hatten die Sowjetunion 1938 besucht. Schließlich sagte sie: »Wir werden wohl erst, wenn der Krieg vorbei ist, erfahren, was aus allen geworden ist.« Sie seufzte, und Oscar an seinem Ende seufzte auch. »Ach, Gloria hat Kay geschrieben.«

»Was hatte sie zu berichten?«

»Da musst du deine Tochter fragen.«

»Ich bin überzeugt, Gloria geht es bestens. Sie ist gut vor den Nazis abgeschirmt, und ich kann mir nicht vorstellen, wieso die sich für sie interessieren sollten. Mir wäre zwar sehr viel lieber, sie würde sich zurückverfügen, aber sie sieht wohl wenig Grund, ihre Koffer zu packen und abzureisen. Schließlich ist sie Bürgerin eines neutralen Staates.«

»Was hast du auf dem Herzen, Oscar? Du hast zweimal angerufen.«

»Sonntag ist unser Hochzeitstag. Der siebzehnte, hab ich recht?«

»Es war schon ungewöhnlich, dass du ihn in den fünfzehn Jahren unserer Ehe behalten hast, das sagten mir immer meine sämtlichen Freundinnen, aber hältst du es nicht für ein bisschen übertrieben, davon Notiz zu nehmen, nachdem wir geschieden sind?«

»Ich weiß immer noch nicht, warum du die Scheidung wolltest –«

»Sie ist jetzt seit einem Jahr rechtskräftig. Ist es nicht etwas spät, darüber zu diskutieren? Ich fand es absurd, mit einem Mann verheiratet zu sein, mit dem ich nicht mehr zusammenlebte.«

»Lass uns jetzt nicht darüber streiten. Ich dachte, es wäre hübsch, gemeinsam zu Abend zu essen, zur Erinnerung an alte Zeiten. Schließlich werden wir sowieso den ganzen Abend aneinander denken. Warum dann nicht zusammen?«

»Bittest du mich um ein Rendezvous, Oscar?« Es klang albern, aber sie wollte Zeit gewinnen.

»Genau das. Wäre das nicht schön? Wir haben schon eine Ewigkeit nicht mehr manierlich zusammengesessen und ein gutes Essen und eine Flasche Wein geteilt. Ich brenne darauf, dir zu erzählen, was ich mache. Und natürlich auch alles von dir zu hören.«

Oscar widerstrebte es zutiefst, Frauen loszulassen. Er versuchte, alle seine ehemaligen Freundinnen in der einen oder anderen Funktion beizubehalten, als Freundinnen, Kolleginnen, Abhängige, zumindest als Bekannte. Er war es gewohnt, immer noch die Fürsorglichkeit seiner verwitweten Mutter zu beanspruchen. Er wollte nicht einsehen, warum er auch nur eine der Frauen, deren Zuwendung er genossen hatte, je gehen lassen sollte. Er wusste sogar noch ihren Wunsch nach Rat und Anteilnahme bei ihren Problemen mit Kay für seine Zwecke zu nutzen. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, jemals nicht mehr neugierig auf Oscar zu sein; ihr Problem mit anderen Männern war, dass sie alle mit ihm verglich. Dennis Winterhaven behauptete, sie mache Oscar zu einem Mythos, aber er kannte Oscar eben nicht.

»Komm, Louie, warum nicht? Ich gehe mit dir hin, wo du möchtest. Aber ich habe ein wunderbares spanisches Restaurant in der Vierzehnten entdeckt, natürlich Flüchtlinge, hervorragender Gitarrist, vorzügliche Paella.«

Sie war an dem Abend mit Dennis verabredet, aber erst um sieben. Sie wollten zusammen essen, dann führte er sie ins Savoy, um Hildegarde zu hören. »Sonntagabend habe ich schon etwas vor. Aber ich könnte mit dir zu Mittag essen.«

»Ich hol dich um eins ab?«

»Ist gut.« Sowie sie aufgelegt hatte, wanderte sie im Büro umher. Warum hatte sie zugestimmt? Weil sie der Versuchung nicht widerstehen konnte, ihn zu sehen. Dabei war sie ungefährdet, denn sie traf sich gleich anschließend mit Dennis. Oscar hatte natürlich recht; sie hätte den Abend damit zugebracht, an ihn zu denken. Wäre sie doch nur fähig, sich in Dennis zu verlieben! Das Abendessen war theoretisch reich an Möglichkeiten. Wie ihre flatterigen Gefühle nutzen? Ihre Finger zeichneten Kreise auf die Schreibtischunterlage. Sie konnte keine Geschiedene zur Heldin nehmen. Die gaben in den Journalen nur gelegentlich die böse Schlange ab. Sie selbst fand großen Gefallen am anrüchigen Klang, eine Geschiedene zu sein. Sie hatte das glanzlose Gattinnendasein überwunden und war daraus als schillernder tropischer Prachtfalter hervorgegangen, aber einer mit einem Wespenstachel.

Würde man ihr ein Paar, das in Trennung lebte, durchgehen lassen? Oder musste es ein vor Jahren beinahe geheirateter Mann sein? Das war sicherer. Der Hochzeitstag, das war das Gedenken an den Tag, an dem sie beinahe geheiratet hatten, aber dann eben doch nicht. Und weshalb nicht? Louise schaute auf die Uhr. Ihr blieben noch ein paar Stunden bis zum Abendbrot. Sie grub nach dem verborgenen Traum, der in dieser nichtssagenden Geschichte steckte. Das war ihre Stärke, den geheimen Phantasievorstellungen von Frauen auf die Spur zu kommen, diese Gesteinsader auszubeuten wie radioaktives Erz, wie das Uran, an dem Madame Curie gearbeitet hatte; oder, ehrlicher, wie die Buttercremeschicht einer Torte. Wollen mal sehen, beispielsweise eine Witwe? Jung verwitwet? Auf Kriegstote war man noch nicht eingestellt, aber beispielsweise ein Unfall? Nicht mit Makel behaftet, und nun geh deinen Weg in deinem Tempo. Eine zweite Chance mit einem Mann, den du abgewiesen oder fallen gelassen hast, aus Gründen, von denen du heute weißt, dass es die falschen waren. Ja, eingehen auf diese geheimen Phantasievorstellungen verheirateter Frauen, dass ihr Depp von einem Mann plötzlich tot umfiel und der Davongekommene wieder auf der Bildfläche erschien. Das verkaufte sich mit Sicherheit.

Sie brauchte noch einen guten Köder und einen guten Titel. Ein Strauß gelber Rosen, der plötzlich an der Tür abgegeben wird. Bestimmt ein Irrtum. Die Erinnerung an frühere Jahre. Nenn sie Betsy. Das ist ein netter, sicherer, achtbar klingender Name. Es war eine Neuengland-Geschichte, beschloss sie, eine von denen, die in der von ihr erfundenen Cape-Ann-Stadt Glastonbury spielten. Ein Fischer, der in einem Sturm draußen blieb. Oder ein Pendler in einem Zugunglück? Mit dieser Gesellschaftsschicht konnten sich ihre Leserinnen eher identifizieren.

Komisch, wie das Telefongespräch mit Oscar sie angeregt hatte. Schon oft hatte sie die Ausdünstungen ihres Zusammenlebens zu verwertbarem Material verdichtet. Als sie heranwuchs, hatte Louise nie davon geträumt, Schriftstellerin zu werden, Verfasserin von Romanen oder Kurzgeschichten. Nein, Journalistin hatte sie werden wollen, Auslandskorrespondentin, eine Dorothy Thompson. Dann hatte sie ihre erste Geschichte geschrieben, als Oscar arbeitslos war und Kay ein kleines Mädchen und sie die Miete nicht zahlen konnten. Zu der Wohnung am Rande von Flatbush gehörte ein Regal voller Saturday Evening Posts, Ladies’ Home Journals, Nummern von McCall’s und Redbooks. In dem Winter hatten sie kein Geld, um sich Zeitungen zu kaufen. Oscar hob sie immer von der Straße auf, nachdem andere sie gelesen hatten.

Dass ihre Geschichte gekauft wurde, überraschte sie. Sie konnte sich noch erinnern, wie sie von dem Geld eingekauft hatte. Huhn, Lammkoteletts, eine richtige Puppe für Kay mit echtem Haar und Schlafaugen, einen warmen Pullover für Oscar und die Zahlung der rückständigen Miete. Die nächste Geschichte wurde nicht gekauft, die übernächste auch nicht, aber dann verkaufte sie wieder eine. Sie begann zu erkunden, was ankam und was nicht; sie analysierte abgedruckte Geschichten nach den soziologischen und psychologischen Profilen annehmbarer Heldinnen und Helden. Sie schematisierte die Handlungsverläufe von je zwanzig Geschichten aus den am besten zahlenden Zeitschriften. Sie schärfte ihren Blick und begann, regelmäßig zu verkaufen.

Ihr Pseudonym war das, unter dem sie ihre erste Geschichte geschrieben hatte, als ihr auffiel, dass unter den abgedruckten Autoren keine jüdischen Namen vertreten waren und dass Frauen, deren Namen sie als verheiratet auswiesen, sich besonders gut zu verkaufen schienen. Sie hatte Annette Hollander Sinclair erfunden, und später, als diese Dame eine populäre Autorin von Frauenromanen wurde, lernte Louise, sich für öffentliche Auftritte in Annette zu verwandeln. Sie kaufte Annette eigene Kostüme, Hüte, Handschuhe, Handtaschen, Schuhe. Sie hatte sogar eine Annette-Stimme. Dennis, dachte sie, hatte sich in Annette verliebt, weshalb sie wahrscheinlich nicht in ihn verliebt war. Oscar wollte immerhin mit Louise essen gehen. Obwohl sie sich ein wenig schämte, begann sie vorsichtig, sich auf Sonntag zu freuen. Unterdessen lief sie über den Flur, zog sich eine bequeme Hängebluse und einen weiten Glockenrock an, schlüpfte in Fellpuschen und widmete sich dann am Schreibtisch wieder der Geschichte von Betsy, deren Mann bei einem Zugunglück im 5-Uhr-15-Nahverkehrszug von der North Station starb; und deren Jugendfreund gelbe Rosen schickte und geheimnisvoll lächelte, der jungenhaft lachte, dessen schelmische schwarze Asiatenaugen aber von Oscar ausgeliehen waren.

 

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