Mindful Leadership - die 7 Prinzipien achtsamer Führung

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Mindful Leadership - die 7 Prinzipien achtsamer Führung
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Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel: Seven Practices of a Mindful Leader. Lessons from Google and a Zen Monastery Kitchen bei New World Library, Kalifornien, USA.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2020

Copyright der deutschen Ausgabe © 2020 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2019 by Marc Lesser

First published in the United States of America by New World Library. Translation rights arranged through Agence Schweiger.

Lektorat: Antje Herrman

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

ISBN E-Book: 978-3-86781-320-4

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einführung

Teil I Erforschen

Prinzip 1 Die Arbeit lieben

Prinzip 2 Die Arbeit tun

Prinzip 3 Kein Experte sein wollen

Prinzip 4 Den eigenen Schmerz berühren

Teil II Sich verbinden

Prinzip 5 Den Schmerz der anderen berühren

Prinzip 6 Sich auf andere verlassen

Teil III Integrieren

Prinzip 7 Immer weiter vereinfachen

Epilog

Dank

Literaturempfehlungen

Über den Autor

Vorwortzur deutschen Ausgabe

Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich das Privileg hatte, zusammen mit Marc Lesser sowohl viele Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Führungskräfte in Achtsamkeit zu trainieren als auch Achtsamkeitslehrende auszubilden. In den ersten Jahren nach der Gründung des Search Inside Yourself Leadership Institutes habe wir sehr eng zusammengearbeitet, um Achtsamkeitsprogramme in Organisationen zu bringen. Damals war Achtsamkeit gesellschaftlich noch nicht so weit verbreitet und anerkannt wie heutzutage. Es war eine sehr reiche und kreative Zeit, in der wir Wege erforschten und entwickelten, um die Tiefe und das Herz der Achtsamkeitspraxis zu bewahren und sie gleichzeitig einer Vielzahl verschiedener Menschen in Organisationen zugänglich zu machen.

Marc war für mich ein großartiger Mentor beim Aufbau eines mittlerweile sehr erfolgreichen, weltweit angebotenen Mindfulness-Programms bei der SAP. Wir haben damals zusammen Samen gesät, die aufgingen, und die inzwischen bei SAP und weit darüber hinaus zehntausende Menschen in zahlreichen Organisationen weltweit erreichen.

Meine persönliche Erfahrung mit Meditation begann früher. Nachdem ich zuvor aus Unwissenheit eher darüber gelächelt hatte, suchte ich in einer Lebenskrise nach neuer Klarheit und begab ich mich in ein zehntägiges Meditationsseminar. Es war anfangs sehr herausfordernd, doch schließlich fand ich zu einem Grad an innerer Ruhe, Klarheit und tiefem Frieden, den ich so bislang nicht kannte. Infolgedessen etablierte ich eine regelmäßige persönliche Meditationspraxis. Heute bin zutiefst dankbar dafür, dass ich damit eines der kraftvollsten Geschenke meines Erwachsenlebens gefunden habe. Aus dieser ureigenen Erfahrung, wie kraftvoll und bereichernd Meditation sein kann, entstand mein Wunsch, diese anderen Menschen in der Wirtschaftswelt nahe zu bringen, und ich fand Marc als Mentor.

Was ich in der Arbeit mit Marc besonders zu schätzen gelernt habe, sind die vielen Wege und Anregungen, die er aus seiner reichen Erfahrung mitbringt, um Achtsamkeit in den eigenen beruflichen und privaten Alltag zu integrieren. Meditation war bis dato für mich etwas, was zu Hause oder im Meditationszentrum auf dem Kissen stattfand, jedoch nicht im privaten oder gar geschäftlichen Alltag.

Marc Lesser schöpft aus seiner langjährigen und einzigartigen Erfahrung als Zen-Mönch und -Lehrer sowie als CEO und sozialer Unternehmer. Mit seiner humorvollen, poetischen und zugleich sehr bodenständigen und pragmatischen Art ist er in der Lage, sowohl Führungskräfte zu Achtsamkeit zu inspirieren als auch praktisch zu zeigen, wie man Achtsamkeit in Organisationen bringen kann. Seine tiefe Weisheit, sein praktisches Wissen und seine Liebe zur Achtsamkeit, die er auf tiefgreifende und zugleich sehr praktische Weise anwendet, kommen auf jeder Seite dieses wunderbaren Buches zum Ausdruck.

Beim Lesen dürfen wir Marc außerdem in der Anfangszeit des mittlerweile weltweit anerkannten Search Inside Yourself Leadership Institutes erleben. Sehr lebensnah und anekdotenreich lässt er uns daran teilhaben, in welchem Geist er das Institut gemeinsam mit Chade Meng Tan und Phillipe Goldin seit 2012 in San Francisco aufgebaut hat.

Viele Menschen sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit einer sich offenbar immer schneller wandelnden und oft herausfordernden Welt konfrontiert, in der zudem eine ständig wachsende Informationsflut auf uns hereinprasselt, die fortwährend zur Ablenkung verleitet. Dieses Buch bietet vielfältige und erfahrungsbasierte Anregungen, wie Sie sich selbst und andere mit mehr Gelassenheit, mehr Klarheit und Kraft sowie mit Hingabe durch diese Herausforderungen führen können.

Wenn Sie lernen möchten, wie Sie als Führungskraft tiefgreifende Achtsamkeitspraktiken nachhaltig in Ihren beruflichen und privaten Alltag integrieren, dann empfehle ich Ihnen, dieses wunderbare Buch zu lesen.

PETER BOSTELMANN,

Chief Mindfulness Officer, SAP SE

Gründer und Leiter SAP Global Mindfulness Practice

Vorwort

Stellen Sie sich vor, die im Lauf eines Lebens erworbene Weisheit eines mitfühlenden Achtsamkeitslehrers verknüpft sich nahtlos mit den Einsichten einer Führungskraft, die auf langjährige Erfahrung in großen Unternehmen zurückblickt – und Sie erhalten eine Vorstellung davon, was Sie in diesem kreativen und ermutigenden Buch erwartet. Unser inspirierender Reiseführer Marc Lesser hat aus seiner jahrzehntelangen Zen-Meditationspraxis und als Führungskraft in der Wirtschaft sieben enorm wirkungsvolle Prinzipien destilliert, die sowohl unser berufliches als auch unser persönliches Leben bereichern und erfolgreicher machen können.

Marc Lesser zeigt uns: Wenn wir lieben, was wir tun, und gleichzeitig Vermeidungsstrategien und alte, eingefahrene Gewohnheiten loslassen, werden wir frei und können uns auf andere Menschen, auf uns selbst und auf unsere Arbeit produktiver und kreativer einlassen. Der Kopf verwendet oft so viel Energie darauf, etwas für uns oder für andere Unangenehmes zu vermeiden, dabei besteht der Weg zu größerem geistigem, körperlichem und sozialem Wohlbefinden erwiesenermaßen darin, zu lernen, wie man für die Erfahrung des eigenen innersten Wesens offen und mitfühlend wird.

Den eigenen Schmerz »berühren«, den Schmerz von anderen und unsere wechselseitige Abhängigkeit erkennen – das sind zentrale Methoden, mit denen Führungskräfte zur Schaffung eines Arbeitsklimas beitragen können, das Produktivität und Innovation optimal fördert. Und wie gelingt das? Wie dieses aufschlussreiche Handbuch wunderbar darlegt, ist es das volle Präsentsein in der eigenen Bewusstheit – offen zu sein für das, was ist, während es geschieht –, was uns ermöglicht, in Beziehungen zu anderen präsent zu sein. Und das wiederum hilft anderen, sich wahrgenommen und sicher zu fühlen – die Basis allen Vertrauens. Dieses Vertrauensgefühl und die daraus entstehende Erfahrung, zu einem größeren Ganzen (der organisatorischen Gruppe) zu gehören, kann eine achtsame Führungskraft vermitteln, und dieses Vertrauen bringt in den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Beste ans Licht, weil es nicht nur ihre Produktivität optimiert, sondern auch ihr Wohlbefinden. Glücklicherweise lassen sich diese zentralen Führungsqualitäten lernen – und dieses kompakte Buch zeigt uns ganz genau, wie.

Aber was macht eine achtsame Führungspersönlichkeit tatsächlich aus? Zwar gibt es keine endgültige und feste Definition, aber der Begriff bezeichnet ganz allgemein eine offene Präsenz für das Leben, eine Offenheit für die Tatsachen der Realität, ohne sich in Vorurteile zu verstricken oder Energie auf die Beseitigung oder Verdrängung bestimmter Erfahrungen zu verschwenden. Zum Achtsamsein gehört eine offene Bewusstheit, die einen Zustand des Vertrauens erzeugt, in dem das Gehirn sein »System für soziale Interaktion« einschaltet und wir mit anderen Menschen wohlwollender und klarer denkend Verbindung aufnehmen – auch mit unserem eigenen Innenleben. Eine »achtsame Führungspersönlichkeit« ist also ein Mensch, der diese Charakteristika achtsamer Bewusstheit auf eine Weise nutzbar machen kann, die andere dazu inspiriert, sich bestmöglich zu entwickeln, ihren Umgang mit Problemen zu verbessern und für die Ziele und Herausforderungen ihrer jeweiligen Organisation innovative Ansätze zu finden. Eine achtsame Führungspersönlichkeit macht die Arbeitsumgebung zu einem fruchtbaren sozialen Feld, auf dem Mitgefühl, Zusammengehörigkeit und Kreativität gedeihen.

Die sieben leicht umsetzbaren Prinzipien dieses Buches können Ihnen zeigen, wie Sie so eine Führungskraft werden. Das ist die Reise, zu der Sie sich jetzt aufmachen, ein Weg, auf dem Sie bei jedem Schritt begleitet werden. Genießen Sie es!

DR. DANIEL SIEGEL

Direktor des Mindsight Institute und Autor des Buches

Gewahr sein. Was es heißt, präsent zu sein.

Die Grundlagen einer wissenschaftlich fundierten Meditationspraxis

 

Einführung

Strategien kommen und gehen.

Unternehmenskultur bleibt.

PETER DRUCKER

Dieses berühmte Zitat von Peter Drucker, einem weltweit führenden Managementautor, -trainer und -berater, ist wahrscheinlich einer der bekanntesten und unumstrittensten Aphorismen des Geschäftslebens. Es bringt auf den Punkt, dass die Kultur eines Unternehmens letzten Endes viel wichtiger ist für den Erfolg als irgendwelche Strategien – und die Klugheit dieser Aussage ist in der Hektik der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen von heute nicht weniger wichtig geworden.

Woraus besteht die Kultur eines Unternehmens? Aus Menschen. Aus menschlichen Wesen, die zusammenarbeiten, um Probleme zu lösen. Ich nenne das manchmal das »schmutzige kleine Geheimnis« der Geschäftswelt, eines, das man inmitten der täglichen Anforderungen, Hektik und Sorgen, die uns oft über den Kopf wachsen, sehr leicht aus dem Blick verlieren kann. Geschäftsleben heißt, dass Menschen zusammenarbeiten, und geschäftlicher Erfolg hängt davon ab, wie gut wir interagieren, kooperieren, kommunizieren und uns umeinander kümmern. Das ist die Essenz dessen, was Drucker meint.

Ich glaube, dass wir das alle wissen und dass wir es auch alle suchen, nicht nur am Arbeitsplatz, sondern im Leben überhaupt. Wir wollen etwas schaffen und Teil einer unterstützenden, positiven Kultur sein – einer Kultur echten Vertrauens und echter Fürsorge, einer Kultur der Transparenz und Integrität, der Verantwortung und Erfolgsorientierung. Diese Art Kultur hilft uns individuell und kollektiv, mit Klarheit zu handeln, nichts zurückzuhalten, uns voll und ganz in unsere Beziehungen einzubringen, zu blühen und zu wachsen, anderen besser zu dienen und unsere Ziele zu erreichen.

All das zu realisieren, ist nicht leicht. Mensch zu sein, ist nicht leicht. Mit anderen zu arbeiten, kann eine unglaubliche Herausforderung sein. Es gibt immer irgendwelche Schwierigkeiten, ob das nun schmerzhafte Emotionen sind, Stress und Ungewissheit, Kostenrahmen und Lieferfristen, zwischenmenschliche Konflikte, Unfrieden in der Politik oder in der Wirtschaft oder die unerwarteten Hindernisse, die immer auftauchen, wenn wir ein sinnvolles Vorhaben verfolgen.

Was also können wir tun? Wie können wir das, was wir brauchen, erschaffen und am Leben halten?

Auf diese Fragen gehe ich in diesem Buch ein und hoffe, Sie in der Anwendung der sieben Elemente achtsamen Führungsverhaltens, die ich Manager*innen, Unternehmer*innen, Ingenieur*innen, Ärzt*innen und anderen Menschen auf der ganzen Welt beibringe, anleiten und inspirieren zu können. In den letzten Jahren sind Achtsamkeit und Mindful Leadership geradezu explosionsartig populär geworden, aber das erzeugt nicht automatisch achtsame Führungskräfte. Achtsamkeit zu verstehen, kann kompliziert sein; noch schwieriger ist es, sie im alltäglichen Leben zu verkörpern und regelmäßig zu praktizieren. Dazu kommt noch, dass im Arbeitsalltag oft verwässert wird, was der Sinn von Achtsamkeit ist und wie sie geübt wird (wenn sie nicht von vornherein verworfen wird). Natürlich wurde die altehrwürdige kontemplative Praxis nicht entwickelt, um der Wirtschaft zu helfen. Ihre Absicht ist es, unser Bewusstsein und unsere ganze Art des Daseins in der Welt zu verändern. Aber sie ist unverzichtbar für Mindful Leadership und für den Versuch, die Art von unterstützender Unternehmenskultur zu schaffen, die Unternehmen und Menschen zum Blühen bringt.

Meine Erfahrung hat etwas Unkonventionelles. Den größten Teil meines Erwachsenenlebens stand ich mit einem Bein in der Welt des Kontemplativen und mit dem anderen in der Wirtschaft, und meine Auffassung von Mindful Leadership ist von beidem geprägt: von meiner Erfahrung als langjähriger Zen-Praktizierender und Meditationslehrer sowie von meiner Erfahrung als Leiter, Ausbilder und Berater mit der Aufgabe, Unternehmen bei der Kultivierung achtsamer Führung und eines guten Arbeitsklimas zu helfen. Zuletzt habe ich bei Google mitgeholfen, »Search Inside Yourself«, ein achtsamkeitsbasiertes Programm zur Förderung emotionaler Intelligenz, aufzubauen, und habe das »Search Inside Yourself Leadership Institute« (SIYLI) mitbegründet und geleitet, das mittlerweile zu den prominentesten privatwirtschaftlichen Führungsakademien der Welt gehört.

Im Search-Inside-Yourself-Programm sind die sieben meditativen Prinzipien dieses Buches entwickelt worden. Und dabei ist mir Folgendes klar geworden: Menschen in der Wirtschaft fühlen sich von der Achtsamkeitspraxis aus den gleichen Gründen angezogen wie Menschen, die in irgendeiner kontemplativen Tradition Achtsamkeit und Meditation praktizieren – um ihr Leben zu ändern; um bewusster, fokussierter, flexibler zu werden; um von einem engstirnigen, egozentrischen, angstgeprägten Lebensgefühl wegzukommen und offener, neugieriger zu werden, mehr mit anderen verbunden und fähiger, ihnen zu helfen. Menschen suchen diese Fähigkeiten, um in allen Kontexten und Beziehungen eine Hilfe zu haben, am Arbeitsplatz genauso wie außerhalb.

Der Keim zu dieser Meditationspraxis und zu meiner Auffassung von achtsamer Führung wurde allerdings schon viel früher gelegt, und zwar in den zehn Jahren, die ich am San Francisco Zen Center gelebt, gearbeitet und praktiziert habe. Dazu gehörten zwei Jahre im Meditationszentrum in San Francisco, drei Jahre auf der Green Gulch Farm und fünf Jahre in Tassajara, dem ersten Zen-Kloster der westlichen Welt, das in der Wildnis von Los Padres in Zentralkalifornien liegt.

In Tassajara (und in der Zen-Tradition überhaupt) wird Arbeit als Schlüsselelement zur Integration der Meditationspraxis ins Alltagsleben betrachtet; die Arbeit ist ein Ort des Dienstes und ein Rahmen für ständiges Lernen. Während meines ersten Sommers in Tassajara war ich Spüler in der Küche, und in den folgenden Jahren stieß ich zur Küchenmannschaft, in der ich Brotbäcker und Assistent des Chefkochs wurde. Als ich dann 28 war, fand ich mich als Chefkoch in der Küche des Zen-Klosters wieder – mit dem Bestreben, Achtsamkeit und achtsames Führen zu praktizieren und zu leben, während ich bei der täglichen Zubereitung von Essen (für siebzig ständige Bewohner*innen und jeweils siebzig bis achtzig Übernachtungsgäste) bis zu fünfzehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu führen hatte.

Während der Saison im Sommer war es unsere tägliche Aufgabe, drei einfache vegetarische Gerichte für die Zen-Schülerinnen und -Schüler und drei vegetarische Feinschmeckermenüs für die Gäste zu kochen. Die Standards und die Erwartungen waren hoch (und sind es immer noch). Tassajara hat eine über fünfzigjährige Tradition und Reputation, leckeres, gesundes und kreatives Essen zu servieren, und auf dieser Basis entstand das »Greens Restaurant« in San Francisco, das immer noch als eines der besten vegetarischen Restaurants der Welt gilt.

Aber obwohl ich dafür verantwortlich war, eine Großküche auf Restaurantniveau zu leiten, und dafür, dass alle Zen-Schülerinnen und -Schüler und Gäste zu essen hatten, bestand meine primäre Verantwortung darin, eine Kultur der Achtsamkeitspraxis zu fördern. Mein Hauptjob war es, eine Kultur aufzubauen, in der alle in der Küche beim Arbeiten ein Gefühl für Dringlichkeit, Fokussierung, Großzügigkeit, Selbstvertrauen und Gelassenheit hatten. Ich hatte als Chefkoch mit anderen Worten zwei Ziele: ein bedingungslos liebevolles, unterstützendes und produktives Arbeitsumfeld zu schaffen und gutes Essen zu liefern (und zwar auf die Minute pünktlich!). Keines der beiden Ziele durfte dem anderen geopfert werden.

In der Tat ist die Küche in einem Zen-Kloster ein zentraler Ort der Achtsamkeitspraxis, und sie befindet sich meist in der Nähe eines weiteren Mittelpunkts, nämlich der Meditationshalle. Küche und Meditationshalle gelten als tiefgründig miteinander verbundene Orte, Orte, an denen Mühe und Mühelosigkeit, Selbst und Selbstlosigkeit greifbar werden; Orte, an denen Gemeinschaft entsteht; Orte, an denen der Geist der Fürsorge und der guten Lebensführung gelebt und gefeiert wird. Die Küche ist ein Ort der Arbeit und der Zusammenarbeit – derart, dass alle sich gegenseitig unterstützen –, und sie ist auch der Ort, in den man den Geist, die Bewusstheit und die Haltung der Meditation in die Welt der Aktivität hineintragen kann.

Als Chefkoch stellte ich fest, dass sich das, was ich für zwei Aktivitäten hielt, meistens wie eine einzige anfühlte – während wir voll präsent und bewusst waren und für die Menschen sorgten, kochten wir eben Essen und führten die Küche. Ein andermal wieder schienen die Ziele der Achtsamkeit und der Druck, Dinge fertig zu bekommen, miteinander zu konkurrieren, als ob wir nicht beides haben könnten und einem der beiden Priorität einräumen müssten. Jede Restaurantküche – auch eine Zen-Küche! – ist ein stressiger Arbeitsplatz, an dem es dynamisch und mit hohem Tempo zugeht. Da gibt es jede Menge Vorbereitungsarbeiten zu machen, die oft komplex und detailreich sind, da arbeiten Teams in räumlicher Enge, da gibt es immer neue Prioritäten und einen straffen, eng verzahnten und manchmal unmöglich einzuhaltenden Zeitrahmen. Das Besondere an der Küche in Tassajara ist, dass das gesamte Personal nicht aus Profis besteht, sondern aus Zen-Schülerinnen und -Schülern. Und sie befindet sich an einem abgelegener Ort – während meiner Zeit als Chefkoch war der nächste Laden über zwei Stunden weit weg; wenn etwas fehlte (sei es, dass wir nicht genug Eier hatten oder irgendeine andere wichtige Zutat), mussten wir also flexibel sein und improvisieren. Dazu kam, dass es in der Küche keinen Strom gab. Alles wurde von Hand gemacht.

Wenn ich zurückschaue, staune ich, wie erfolgreich wir waren. Ich erinnere mich, wie ich an einem Sommernachmittag mit einer Gruppe von Gästen, die ich noch nicht kannte, im Gästespeisesaal zu Mittag aß. Eine Frau auf der anderen Seite des Tisches stellte sich mir als Professorin einer Wirtschaftshochschule vor und fragte als Erstes: »Wer ist der Kopf hinter dieser Unternehmung?« Sie war zum ersten Mal in Tassajara und von der Qualität des Essens und vom Service beeindruckt, wie überhaupt von allem, was sie da erlebte. Und tatsächlich, Tassajara wirkt auf Besucherinnen und Besucher in vielerlei Hinsicht wie ein gut geführtes Tagungszentrum. Ich antwortete, dass das Merkmal dieses Unternehmens sei, dass die Menschen, die hier arbeiteten, es eben nicht als Unternehmen ansähen. Tassajara ist ein Ort der Meditationspraxis, des Dienens, der Kultivierung von Achtsamkeit – was bedeutet, dass man die Dinge nicht anders haben will, als sie sind, und dass man dem eigenen Erleben von Moment zu Moment volle Aufmerksamkeit und Bewusstheit entgegenbringt.

Heute betrachte ich die Küche in Tassajara als Modell dafür, was achtsames Arbeiten und achtsames Führen in jedem Kontext bedeuten; ein Modell dafür, dass wir inmitten von Erschöpfung, Zeitdruck und Überforderung große Freude und große Liebe erleben können. Die Achtsamkeitspraxis als Fundament und integrales Element des Klosters lieferte den entscheidenden Kontext und Rahmen für alles, was wir in der Küche machten. Die große Sorgfalt, die Lernbereitschaft, die Verspieltheit, ganz zu schweigen von der Freude und Befriedigung, Menschen zu bedienen und mit Nahrung zu versorgen – das hatte fast etwas Magisches.

Es ist möglich, inmitten vieler Aktivitäten Achtsamkeitspraxis, Arbeit und Führungsaufgaben als eine einzige Aktivität zu sehen. Dazu muss man sich selbst, die anderen, die Zeit und die Qualität der eigenen Bemühungen wahrnehmen. Achtsames Arbeiten und achtsames Führen erfordern und kultivieren gleichzeitig die zentralen Fähigkeiten, die wir brauchen, um gedeihen zu können, und diese Dynamik ist das Leitprinzip des vorliegenden Buches. Ich verdichte darin mein ganzes Erfahrungsspektrum in sieben zentralen Prinzipien, von denen ich hoffe, dass sie Ihnen helfen, die Führungsaufgaben in Ihrem Arbeitsalltag mit Achtsamkeit zu verbinden. Darüber hinaus kann ich aus Erfahrung sagen, dass die Wohltaten der Meditation und der Achtsamkeit uns generell guttun, nicht nur im Bereich der Arbeit. Sie können uns bei allem, was wir unternehmen, beflügeln.

Großer Geist und Kleiner Geist

Die Idee achtsamer Führung ist nicht gerade neu. In einem Traktat mit dem Titel »Anweisungen für den Koch« empfahl Dogen, im 13. Jahrhundert Begründer des Zen in Japan, der Küchenchef solle bei der Führung seiner Küche drei Prinzipien oder »Drei Denkweisen« praktizieren. Sie heißen: »Freudiger Geist« (ein Geist, der alles akzeptiert und zu achten weiß), »Geist der Großmutter« (der Geist bedingungsloser Liebe) und »Weiser Geist« (der Geist, der mit der Realität ständiger Veränderung umgehen und auf bedingungslose Weise offen sein kann).

 

Die Praxis der Achtsamkeit selbst ist in reichen spirituellen Traditionen entstanden, die sich über Jahrtausende hinweg entwickelt und verändert haben. Historisch gesehen, tendieren Menschen zur Achtsamkeitspraxis, wenn die Zeiten unruhig sind, voller Stress, Unbeständigkeit und Ungewissheit – Zeiten wie heute also. Außerdem hat sich Achtsamkeit im Laufe der Jahrhunderte immer wieder angepasst und neu integriert, um starken und dringenden gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können – wodurch sie nicht nur spirituelle Traditionen beeinflusst hat, sondern in viele Bereiche des Alltagslebens und der Kultur eingeflossen ist, zum Beispiel die Künste, die Esskultur, das Bildungswesen, die Arbeitswelt und darüber hinaus.

Obwohl es richtig ist, dass ein zentraler Aspekt der Achtsamkeit eine gesteigerte Selbstwahrnehmung ist, geht es doch um mehr als nur die Bewusstheit für das individuelle Ich. Die Intention ist, eine umfassendere und ganzheitlichere Perspektive zu fördern, mit dem Bestreben, die Sorge um die eigene Person zu lockern und die begrenzte persönliche Erfahrung zu erweitern, damit wir zu einem universelleren und weniger dualistischen Bewusstsein übergehen können. Im Zen wird dies der Übergang vom Kleinen Geist zum Großen Geist genannt.

Vieles von dem, was wir Moment für Moment erleben, gehört zur Welt des Kleinen Geistes – des persönlichen »ich, meiner, mir, mich«. Mittlerweile hat die Wissenschaft sogar einen Namen für den Kleinen Geist – er lautet »Default Mode Network« (»Ruhezustandsnetzwerk«). Das ist der Teil des Gehirns, der sich oft Sorgen um die Zukunft macht oder mit der Vergangenheit hadert, statt im gegenwärtigen Moment entspannt und wach zu sein, um klarer sehen zu können. Psychologisch gesehen, ähnelt das stark dem Ego. Zur Achtsamkeitspraxis gehört es, den Kleinen Geist wertzuschätzen und aus ihm zu lernen, aber gleichzeitig den Großen Geist zu kultivieren – die offenere, aufgewecktere und tolerantere Perspektive oder Seinsweise. Man könnte sagen: Achtsames Führen besteht darin, die Erfahrung des Großen Geistes, die durch Meditation kultiviert wird (aber jederzeit zugänglich ist), auf die Belange des Kleinen Geistes anzuwenden, also die Zwänge und Freuden des täglichen Lebens und der Zusammenarbeit mit anderen, wenn unter Zeitdruck Ziele erreicht werden sollen.

Nach meinem Jahr als Chefkoch wurde ich gebeten, die Leitung von Tassajara zu übernehmen, wodurch sich meine Erfahrung in achtsamer Führung vertiefte und erweiterte. Tassajara ist nicht nur ein Zen-Kloster, sondern hat viele der Probleme, die auch ein kleines Unternehmen hat. Zum Beispiel wird das San Francisco Zen Center weitestgehend durch den Gewinn aus Tassajara finanziert. Und in den Sommermonaten ist es auch ein Retreat-Zentrum – mit Seminaren und Übernachtungsgästen.

Dann, nach einem Jahr als Direktor von Tassajara, entschloss ich mich, das Kloster zu verlassen und an der Graduate Business School der New Yorker Universität den Master of Business Administration (MBA) zu machen. Ich war wild darauf (und hatte gleichzeitig ziemliche Angst davor), das Wirtschaftsleben kennenzulernen und zu testen, was ich über die mögliche Synthese aus Achtsamkeit, Arbeit und Führungsverhalten gelernt hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich für mein Empfinden einige bemerkenswerte Pluspunkte dieses Ansatzes ausgemacht, und zwar folgende:

• Mindful Leadership fördert reichhaltige Erlebnisqualitäten; gewöhnliche, alltägliche Arbeit kann sich intensiver, befriedigender, manchmal sogar außergewöhnlich anfühlen.

• Sie schließt Lücken zwischen Achtsamkeitspraxis, Arbeitspraxis, Fürsorge für andere Menschen und Erfolgsorientierung.

• Aus Stress, Herausforderungen, Schwierigkeiten und Problemen zu lernen, wird als integraler Bestandteil jedes Wachstumsprozesses betrachtet und nicht als etwas, das vermieden werden muss.

• Sie hilft uns, Widersprüche und einander ausschließende Prioritäten zu erkennen und mit ihnen umzugehen, wodurch Flexibilität und Verständnis gefördert werden.

• Sie lässt uns sogar inmitten harter Arbeit und außergewöhnlicher Anstrengungen Zeitlosigkeit, Leichtigkeit und Freude erleben.

• Sie lässt sich auf jede Aktivität anwenden, um Selbstvertrauen und gleichzeitig Bescheidenheit zu kultivieren.

• Sie umfasst Individualität und Einheit gleichermaßen – jede und jeder hat eine bestimmte Rolle, und doch bilden alle ein Team, gegenseitig unterstützt und sich unterstützend, zusammen praktizierend.

• Erfolg zeigt sich für achtsam Führende immer zweifach: im Charakter und im Mitgefühl der Menschen sowie in der Qualität und den Ergebnissen der Arbeit.

Ich habe seither festgestellt, dass diese positiven Wirkungen von Achtsamkeitspraxis und Mindful Leadership dauerhaft und allgemeingültig sind; sie sind in jeder Situation und für jede und jeden verfügbar und zugänglich. Niemand muss dazu ins Zen-Kloster gehen. Sie müssen auch keinen Wirtschaftsabschluss machen. Das Einzige, was Sie machen müssen, ist: Sie müssen den Ansatz des achtsamen Führens immer in genau der Situation, der Herausforderung, der Organisation, der Rolle und der Arbeitsumgebung anwenden, in der Sie sich gerade befinden.

Achtsamkeit ist eine Art des Seins und des Sehens, die unsere Perspektive verändert. Sie ist pragmatisch – meiner Erfahrung nach sogar unendlich pragmatisch –, weil sie uns alltägliche Probleme wirksam und effizient lösen hilft. Sie entwickelt auch unser ganzes Daseinsgefühl weiter, weil sie das Erlebnis, am Leben zu sein, vertieft und bereichert. Mit Achtsamkeit kann jede Aufgabe zugleich zuversichtlich und bescheiden angegangen werden, hoffnungsvoll, aber nicht angewiesen auf Hoffnung. Letzten Endes ist Achtsamkeit mysteriös und stürzt uns kopfüber in Fragen nach dem Bewusstsein, nach Geburt, Tod und Vergänglichkeit – während sie uns die direkte Erfahrung liefert, dass dann, wenn wir Ängste und Gewohnheiten loslassen, Gelassenheit entsteht, eine Ahnung tiefer Liebe und ein tief reichendes Gefühl der Sinnhaftigkeit und Verbundenheit mit dem Leben.

Frust und Potenzial: Wie Achtsamkeit uns stärkt

Seit meinem Abschluss an der New Yorker Universität gehöre ich beiden Welten an, der kontemplativen Welt und der Geschäftswelt – obwohl ich die beiden mittlerweile natürlich als eine Welt betrachte. Einige Jahre nach meinem Abschluss gründete ich einen Verlag, »Brush Dance«, der sich zu einem führenden Anbieter umweltfreundlich hergestellter inspirierender Grußkarten und Kalender entwickelte. (Wir waren eine der ersten Firmen weltweit, die für ihre Produkte Recyclingpapier verwendeten.) Ich betrieb Brush Dance fünfzehn Jahre lang, dann gründete ich »ZBA Associates«, eine Beraterfirma, die Führungskräfte und Angestellte schult, wie sie Achtsamkeit und emotionale Intelligenz praktisch anwenden können. Einer meiner Klienten war Google, was schließlich dazu führte, dass ich an der Entwicklung des Search-Inside-Yourself-Programms beteiligt war.

Ich schätze mich glücklich, dass meine Arbeit darin besteht, Einzelpersonen, Teams und Firmen zu helfen, bewusster und sensibler zu werden und zugleich bei der Arbeit Produktivität, Führungsqualitäten und Wohlbefinden zu kultivieren. In der einen oder anderen Form habe ich das eigentlich fast mein Leben lang gemacht. Und obwohl Achtsamkeit in der Arbeitswelt mittlerweile als Qualifikation akzeptiert wird, werde ich immer wieder gefragt: Warum arbeiten Führungskräfte und Firmen mit Ihnen? Was motiviert sie, sich mit Achtsamkeit zu beschäftigen?

Gewöhnlich beantworte ich diese Frage mit zwei Stichworten: Frust und Potenzial. Es kann frustrierend und schmerzhaft sein, aus einer gewohnten Rolle herauszutreten und die eigene Verwundbarkeit mehr zu spüren, die Sanftheit des eigenen Herzens. Dazu kommt, dass wir normalerweise spüren, wenn unsere Werte, unsere Ziele und unsere Arbeit nicht zusammenpassen oder wenn wir unser Potenzial nicht voll ausschöpfen. Zum Beispiel tut es weh, wenn uns bewusst wird, dass wir Konflikten und Schwierigkeiten aus dem Weg gehen oder in belastenden Situationen überreagieren und dadurch unseren Einfluss und unsere Mitwirkung unterminieren. Auf der anderen Seite erkennen wir auch, dass wir fähig sind, besser, effektiver und kompetenter zu handeln. Wir sehen die Möglichkeiten und sind inspiriert, dieses Potenzial zu verwirklichen.