Der König in Gelb

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Der König in Gelb
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Der König in Gelb - Ein Stück in zwei Akten

1. Auflage, erschienen 11-2020

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Manuel Filsinger

Layout: Romeon Verlag

Illustrationen: Steve Lines und stock.adobe.com

ISBN (E-Book): 978-3-96229-856-2

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Kaarst

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

RV104

MANUEL FILSINGER

DER KÖNIG IN

GELB

– EIN STÜCK IN ZWEI AKTEN –


„The Yellow King“

By Steve Lines.

WIDMUNG UND DANKSAGUNGEN:

Die Wiederveröffentlichung dieses Buches ist H. C., Thomas Wilde und der Bruderschaft des Gelben Zeichens gewidmet, ohne deren Hinweis wir womöglich niemals ein Exemplar des Königs in Gelb aufgespürt hätten – vielen Dank.

– Möge der Unaussprechliche stets mit euch sein und die Kaiserliche Dynastie segnen –

Wir danken dem Verlag Festa für die freundliche Genehmigung zur Verwendung von Textpassagen aus ihrer im Juni 2002 erschienenen Ausgabe „Der König in Gelb“ von Robert W. Chambers.

Darüber hinaus geht unser Dank an Steve Lines, David Lee Ingersoll, Mike Jenkins und Dmalkav für die Erlaubnis, ihre Bilder in diesem Buch zu verwenden.

Ebenfalls vielen Dank an Chaosium Inc. für die Genehmigung zur Verwendung des Gelben Zeichens, das 1989 von Kevin Ross angefertigt wurde. Wir bedauern zutiefst, dass wir dem Leser das originale Gelbe Zeichen, wie es in der Erstausgabe von 1888 zu sehen ist, vorenthalten müssen.

Ursprüngliche Widmung von 1888:

„Dieses Buch widme ich Abdul Alhazred, ohne dessen Kitab Al‘Azif, besser bekannt unter dem Namen Necronomicon, dieses Stück niemals hätte verfasst werden können.

Darüber hinaus geht mein Dank an Ambrose Bierce, dessen Kurzgeschichte An Inhabitant of Carcosa von 1886 mein Schaffen sehr inspiriert hat. Jedoch möchte ich Sie, Mr. Bierce, an dieser Stelle aufs Dringlichste davor warnen, noch tiefer in verbotene Geheimnisse vorzudringen. Des Weiteren sollten Sie künftig davon absehen, gewisse Namen und Andeutungen in Ihre Werke einzubauen. Denn die Diener des Unaussprechlichen sind viele und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie auf Sie aufmerksam werden.“

NOIS



„Ich bete zu Gott, dass er den Autor verflucht, denn dieser Autor verfluchte die Welt mit seiner wunderschönen, gewaltigen Schöpfung, so schrecklich in ihrer Einfalt, so unwiderstehlich in ihrer Wahrheit – eine Welt, die nun vor dem König in Gelb erzittert.

Als die französische Regierung die Übersetzung des Buches in Paris beschlagnahmen ließ, las man es in London natürlich voller Eifer. Es ist wohlbekannt, dass sich das Buch wie eine ansteckende Krankheit von Stadt zu Stadt und von Erdteil zu Erdteil ausbreitete, hier verboten, dort beschlagnahmt, öffentlich angeprangert durch Presse und Pfaffen, missbilligt selbst von den fortschrittlichsten literarischen Anarchisten.

Kein feststehendes Prinzip war auf diesen verruchten Seiten verletzt worden, keine Lehre verkündet, keine Überzeugungen beleidigt. Es konnte aufgrund keines bekannten Maßstabes beurteilt werden, und wenngleich man zugab, dass die höchste Note der Kunst im König in Gelb zum Erklingen kam, so spürten doch alle, dass die Natur des Menschen weder dieser Belastung standhalten noch an Worten gedeihen konnte, in denen die Essenz reinsten Giftes verborgen lag.

Die äußerste Banalität und Unschuld des ersten Aktes gestattete dem folgenden Schlag lediglich, eine umso schrecklichere Wirkung zu entfalten.“

– Robert W. Chambers,

The Repairer of Reputations, 1895.

(Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel.

„Der König in Gelb“ 1. Auflage Juni 2002, Festa Verlag)

INHALT

Prolog: An der Küste von Hali

Akt I

Szene 1: Das Gelbe Zeichen

Szene 2: Cassildas Lied

Szene 2b: Rivalen

Szene 2c: Der Fremde

Szene 2d: Die Bleiche Maske

Akt II

Szene 1: Schwarze Sterne

Szene 2: Krieg & Kunst

Szene 3: Die Hyaden

Szene 4: Die Türme hinter dem Mond

Szene 5: Der leere Thron

Szene 6: Hastur

Szene 7: Der gefallene Prinz

Szene 8: Das Geheimnis der Hyaden

Szene 9: Abstieg in die Finsternis

Szene 10: Wahrheit

Szene 11: Der König in Gelb

Epilog: An der Küste von Hali

Der See von Hali – Das kosmische Meer


„The Phantom of Truth“

By Steve Lines.

ZUM STÜCK

Figuren:

CASSILDA: (23) Prinzessin von Hoseib und das älteste der vier Kinder des Königs

CAMILLA: (18) Prinzessin von Hoseib und engste Freundin von Cassilda

UOHT: (21) Prinz von Hoseib und Führer des königlichen Heeres

THALE: (18) Prinz und Dichter von Hoseib

NAOTALBA: (40) Hohepriester von Hoseib, Bruder und Berater des Königs

ALDONES: (48) König von Hoseib, Oberhaupt der Familie Casastine

MALIK: (25) Kriegsgefangener aus Robardin

FREMDER: (?) geheimnisvoller Gast

KÖNIG IN GELB:

Schauplatz der Handlung:

Yhtill, Hauptstadt des Königreiches Hoseib.

Epoche:

In ferner Zukunft oder ferner Vergangenheit.

Lokalisation:

 

Geheimnisvolles Traumland, das einen von Aldebarans unbekannten Nebensternen umrankt.

Das Sternbild Stier/Taurus (darin enthalten: Aldebaran und die Hyaden)


Die Stadt Yhtill:


„Carcosa Poster“

By Mike Jenkins.

Ursprünglich befanden sich zwei Monde auf dem Bild. Der Künstler erlaubte es jedoch freundlicherweise, den zweiten zu entfernen, damit das Bild exakt der Buchvorlage entspricht.

PROLOG:
AN DER KÜSTE VON HALI

Das Licht der beiden untergehenden Sonnen tauchte den großen See und die marmorne Stadt an dessen Ufer in orangegoldenen Glanz. Mit einem Lied auf den Lippen, das vom Rauschen der Wellen übertönt wurde, schritt dort eine junge Frau die sandige Küste entlang, begleitet von ihrem immer länger werdenden Schatten und ihrem Abbild im See von Hali. Das Spiegelbild zu ihrer Linken offenbarte der dunkelhaarigen Frau, dass sie Cassilda vor sich hatte, ältestes Kind des Königs Aldones, und Mitglied der Familie Casastine, jener edlen, alteingesessenen Dynastie, die von der Stadt Yhtill nun schon seit beinahe einem Jahrtausend über das Land Hoseib herrschte. Der stetig wachsende Schatten zu ihrer Rechten erinnerte sie wie gewohnt an den bitteren Schmerz, den ihre ganze Familie, sie jedoch im Besonderen, erlitten hatte.

Zehn Jahre waren nun schon vergangen und noch immer fühlte es sich für die Prinzessin von Hoseib so an, als wäre ihre hohe Mutter erst kürzlich von ihnen gegangen – dies war eine jener Wunden, die zu tief sitzen, um in der kurzen Zeitspanne eines einzigen Menschenlebens zu verheilen. So schritt die junge Frau mit ihren beiden schemenhaften Begleitern singend voran und ließ die kosmische Schönheit des doppelten Sonnenuntergangs, die schäumenden Wolkenwellen und den nassen Sand unter ihren Füßen den Schmerz ihrer Seele lindern. Schließlich, lange nachdem Cassilda ihr Lied beendet hatte, entschied sie sich, bei ihrem Spaziergang innezuhalten und mit ihren Augen die schier endlose Weite des Sees von Hali abzusuchen – wonach, das ließ sich nicht sagen.

Es dauerte nicht lange und ihr umherschweifender Blick fiel unbeabsichtigt auf das andere Ufer des Sees, wo er verharrte. Lange Zeit stand Cassilda regungslos da und blickte gedankenverloren hinüber zu der fernen Küste. Erst als von dort ein eisiger Windhauch über das Wasser herüberfegte und sie frösteln ließ, kam die junge Frau wieder zu sich. Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die Zwillingssonnen bereits gänzlich hinter Hali versunken waren und zu ihrer Ablösung schon der Mond und Aldebaran hoch am Himmel standen. Letzterer die einbrechende Nacht mit seinem scharlachroten Glanz erhellend. Gerade gingen die Hyaden auf, jene heiligen Sterne und Schutzgöttinnen von Hoseib, und lächelten mit ihrem silbernen Licht sanft auf Cassilda herab. Sie spürte, dass die Wärme des Tages nun gänzlich erstorben war, und machte sich daher auf, den Rückweg nach Yhtill anzutreten. Doch bereits im nächsten Augenblick vermochte es ein kleiner Gegenstand zu ihren Füßen, der von den Wellen an das Ufer angespült worden sein musste, sie von ihrem gefassten Entschluss abzuhalten. Sie kniete sich nieder, hob den Gegenstand auf und betrachtete ihn neugierig. Obwohl er mit Sand und dem Schaum der Wolkenwellen bedeckt war, erkannte Cassilda auf den ersten Blick, dass sie ein Amulett in ihren Händen hielt. Es schien aus Onyx oder dergleichen zu bestehen, denn an den Stellen, die nicht beschmutzt waren, schimmerte es ihr glatt und nachtschwarz entgegen. Nun erst bemerkte sie Teile eines gelben Symbols, das in den Schmuck eingelassen war. Nachdem sie das Amulett gründlich im See gereinigt hatte, war die Einlegearbeit vollends zu erkennen und Cassilda riss, erfüllt von Staunen und Entsetzen gleichermaßen, weit die dunkelbraunen Augen auf.

Fasziniert betrachtete sie jenes sonderbare Zeichen mit seinen rätselhaften Schnörkeln und den fieberhaften Konturen. Das Symbol war ihr gänzlich unbekannt und ähnelte in seiner Form und Gestalt nichts, das ein Mensch jemals hätte ersinnen können, ohne für den Versuch mit seinem Verstand zu bezahlen. Das ganze Amulett schien eine Aura aus Fremdartigkeit und unermesslichem Alter auszustrahlen, die auf abstoßende, unsagbar alte Zeiten hindeutete, lange vor der Erbauung von Yhtill und der Herrschaft des Geschlechtes der Casastines, als die Hyaden noch nicht an den Sternenhimmel gesetzt worden waren und noch ältere und wildere Götter die Herzen und Seelen der Menschen beherrschten. In Cassilda stieg der Gedanke auf, das Amulett fortzuwerfen, zurück in die Tiefen von Hali, aus denen es gekommen war. Doch je länger sie es betrachtete, umso mehr versetzte sie eben jene Fremdartigkeit mehr und mehr in Verzücken. Daher ließ sie von ihrem Vorhaben ab und machte sich stattdessen daran, das Amulett an der Perlenkette zu befestigen, die sie stets um ihren Hals trug – seit jenem Tag, an dem sie das Schmuckstück von ihrer Mutter geerbt hatte. Mit einem sonderbaren Geräusch schnallte sich das Amulett beinahe wie von selbst an die Kette, so als wohne ihm ein eigener Wille inne. Und so, gehüllt in den roten Schein Aldebarans und geschmückt mit dem Gelben Zeichen, schritt Cassilda den Weg zurück, den sie gekommen war und verschwand zwischen den marmornen Türmen und Kuppeln von Yhtill.

Das Gelbe Zeichen:


The Yellow Sign design © 2020 Chaosium Inc.

Used with permission.

AKT I

„Ich wollte mich gerade abwenden und ins Esszimmer gehen, als mein Blick auf ein in Schlangenleder gebundenes Buch fiel, das in einer Ecke des obersten Faches des letzten Bücherschrankes stand. Ich erinnerte mich nicht daran und konnte die blasse Schrift auf dem Buchrücken von unten auch nicht entziffern, also ging ich ins Raucherzimmer und rief nach Tessie. Sie kam aus dem Atelier und kletterte hoch, um das Buch herauszunehmen.

»Was ist es?«, fragte ich.

»Der König in Gelb.«

Ich war verblüfft. Wer hatte es dorthin gestellt? Wie kam es in meine Wohnung? Ich hatte vor langer Zeit beschlossen, dieses Buch nie aufzuschlagen, und nichts in der Welt hätte mich dazu bewegen können, es zu kaufen. Aus Angst, die Neugier könne mich dazu verleiten, es zu öffnen, hatte ich es mir nicht einmal in Buchhandlungen angesehen. Sollte ich je die Neugier verspürt haben, es zu lesen, so hatte mich die schreckliche Tragödie des jungen Castaigne, den ich kannte, davon abgehalten, jene verruchten Seiten zu erforschen. Ich hatte mich stets geweigert, mir eine Beschreibung des Inhalts anzuhören, und tatsächlich hatte sich nie jemand getraut, über den zweiten Teil laut zu sprechen, sodass ich keinerlei Kenntnis besaß, was diese Seiten enthüllen mochten. Ich starrte den giftig gefleckten Einband an, als sei er eine Schlange.“

– Robert W. Chambers,

The Yellow Sign, 1895.

(Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel.

„Der König in Gelb“ 1. Auflage Juni 2002, Festa Verlag)


SZENE 1: DAS GELBE ZEICHEN

„Wir hatten schon eine Zeit lang träge und monoton miteinander geredet, als ich bemerkte, dass wir über den König in Gelb sprachen. Oh, welche Sünde, diese Worte niederzuschreiben – Worte, so klar wie Kristall, schimmernd und musikalisch wie ein sprudelnder Quell, Worte, die funkeln und leuchten wie die giftigen Diamanten der Medici! Oh, die Verworfenheit, die hoffnungslose Verdammnis einer Seele, die menschliche Wesen mit solchen Worten in den Bann schlagen und betäuben konnte – Worte, die von Ungebildeten und Weisen gleichermaßen verstanden werden, Worte, die wertvoller sind als Edelsteine, sanfter als Musik, grauenhafter als der Tod! Wir redeten weiter, achteten nicht auf die sich sammelnden Schatten, und sie flehte mich an, die Spange aus schwarzem Onyx wegzuwerfen, die eingelegt war mit dem, was wir nun als das Gelbe Zeichen erkannten.“

– Robert W. Chambers,

The Yellow Sign, 1895.

(Aus dem Amerikanischen von Andreas Diesel.

„Der König in Gelb“ 1. Auflage Juni 2002, Festa Verlag)

Figuren:

CAMILLA

CASSILDA

In einem marmornen Zimmer, in einem der Türme des Palastes von Yhtill, durchstöbert Camilla unzählige Ballkleider in einem vergoldeten Schrank. Cassilda steht währenddessen auf dem Balkon und betrachtet etwas am anderen Ufer von Hali.

CAMILLA: (Hält begeistert ein gelbes Kleid in die Höhe.) An deiner Stelle würde ich morgen Abend auf dem Ball das Gelbe tragen. Du siehst darin haargenau aus wie Mutter – findest du nicht auch, Schwester?

CASSILDA: (Scheint Camilla nicht zu hören.)

CAMILLA: (Dreht sich zu Cassilda um.) Schwester?

CASSILDA: (Reagiert noch immer nicht.)

CAMILLA: (Blick wird zunehmend besorgter. Geht langsam auf Cassilda zu und berührt sie sanft an der Schulter.) Ist alles in Ordnung mit dir?

CASSILDA: (Fährt zusammen, dreht sich um und setzt ein unechtes Lächeln auf.) Verzeih, ich war in Gedanken versunken. Von welchem Kleid sprachst du gerade?

CAMILLA: (Besorgt.) Du hast wieder Carcosa gesehen, nicht wahr?

CASSILDA: (Das unechte Lächeln erstirbt sogleich auf den Lippen.) Kein Tag vergeht, an dem ich Carcosa nicht sehe, dort am anderen Ufer von Hali.

CAMILLA: Carcosa ist nicht real, niemand außer dir vermag es zu sehen. Sieh doch, (Zeigt auf das andere Ufer.) dort drüben gibt es nichts, nur die Sonnen und Halis rätselhaften Nebel.

CASSILDA: Camilla, ich sage dir, eine Stadt wacht dort am anderen Ufer, zu sehen stets als dunkle Silhouette, ein einziges Gewirr aus nachtschwarzen Türmen und Kuppeln, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Zwei dieser Türme überragen die restlichen, sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen, und ragen so weit gen Himmel empor, dass ihnen selbst die Wolken untertan sind.

CAMILLA: Es gibt nur eine Stadt an Halis Ufern und das ist Yhtill.

CASSILDA: (Schweigt.)

CAMILLA: Du erzähltest mir einst, dass des Nachts der Mond vor Carcosas Zwillingstürmen vorüberziehe. Sag, ist denn dies nicht ein Beweis dafür, dass Carcosa nirgendwo anders als bloß in deinem Kopf existiert?

CASSILDA: Carcosa ist so fremdartig, dass selbst der Mond es nicht mehr kennt. Denn ewig schon strömt dort kein Leben mehr durch die breiten Straßen, sterben der Hyaden Lieder ungehört, während die Fetzen des Letzten Königs schaurig emporflattern. Doch erst seitdem ich dieses verfluchte Amulett gefunden habe, ist Carcosa gänzlich verloren. (Blickt betrübt auf das Amulett mit dem Gelben Zeichen, das noch immer an der Perlenkette um ihren Hals hängt.)

CAMILLA: Verfluche nicht das Gelbe Zeichen, oh geliebte Schwester. Denke nur an all das Elend, das uns heimsuchte, bevor Hali es dir zum Geschenk machte: Denke an Vater und daran, wie gebrochen er war nach Mutters Tod. Weder Hunger noch Schlaf suchten ihn heim. Nun geht es ihm besser denn je. Sein Schlaf übertrifft den eines jeden Säuglings, und sein wieder zum Leben erwachter Appetit begrenzt sich nicht bloß auf feine Speisen, sondern auf alle nur erdenklichen Reize, die einem das Leben anzubieten hat.

Denke an Thale, keinen Vers vermochte er mehr auf Papier zu bringen. Er war leer, beraubt jeglicher Inspiration, leidend unter dem Gedanken, der Welt bereits sämtliche Wunder entlockt und aufgezeichnet zu haben. Seine Feder kennt nun kein Halten mehr und nie zuvor schrieb er solch unvergleichlich schöne Gedichte, die einem zugleich das Blut in den Adern gefrieren lassen.

Denke an Uoht, welch kühner Krieger, welch weiser Feldherr er doch ist. Doch konnte er von seinen Gaben nie richtig Gebrauch machen. Nicht bevor unser Nachbar, das wilde und barbarische Königreich Robardin uns den Krieg erklärt hat.

 

Denke an Naotalba. Oh, welch traurige Ironie. Er, der Hohepriester von Hoseib, fand in der Religion letztlich keine Zuflucht mehr. Er war ermüdet von ihrer erdrückenden Fadheit und Eintönigkeit. Verzweifelt glaubte er, bereits sämtliche Weisheiten der Hyaden erlernt, und somit kein erstrebenswertes Ziel im Leben mehr zu haben. Doch auch er wurde eines Besseren belehrt. Seine Reformationen finden im ganzen Land Anerkennung und Bewunderung. Naotalba wird vom Volk sogar als ein Heiliger, ja ein Spross der Hyaden gepriesen.

Und wenn auch das dich nicht zu überzeugen vermag, so denke an mich, Schwester. Wie langweilig und fad war nicht auch mein Leben gewesen. Alle Tänze und Lieder waren mir bereits seit Kindesbeinen an vertraut, jedes meiner Kleider hatte ich schon so oft zu den immer gleichen Festen getragen und einen jeden Jungen am Hofe kannte ich bereits. Wie Vater, meine Brüder und Naotalba war auch ich dem Leben letztendlich überdrüssig geworden. Glaubte, es habe uns bereits all seine Wunder gezeigt und mit ihnen übersättigt. Ich lebte in der bitteren Gewissheit, dass es unser aller Schicksal sei, an Langeweile und der Sehnsucht nach Neuem, Unbekanntem und Fremdem qualvoll zugrunde zu gehen. Doch dann brachtest du das Gelbe Zeichen mit nach Yhtill und alles hat sich geändert. Wo früher Mauern aus Sitte und Moral unsere Fantasie begrenzten, kann sie sich heute frei bewegen. Erleuchtete Wesen sind wir nun, befreit von jeglicher Einschränkung, dazu befähigt, das Leben in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit zu genießen.

CASSILDA: (Schließt ihre Augen und senkt betrübt den Kopf.)

CAMILLA: (Seufzt traurig.) Nur du Schwester, du bist die Einzige, der das Gelbe Zeichen kein Glück gebracht hat. Naotalba sagt, du seiest eine Märtyrerin. Dass es dir, als dessen Trägerin, bestimmt sei, für unser aller Glück zu leiden.

Dies sei der Grund, weshalb du mit Schwermut und Halluzinationen gepeinigt wirst. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist es eine große Ehre, die dir zuteil wurde. Und es erfüllt mich mit großem Stolz, dass du das Amulett dennoch Tag für Tag so tapfer trägst.

CASSILDA: Der einzige Grund, weshalb ich das Ding noch immer trage, ist der, dass es sich nicht mehr von Mutters Kette lösen lässt und ich mich um keinen Preis der Welt von ihr trennen könnte.

CAMILLA: So wie sich dein größter Schatz mit dem unseren verbunden hat, musst du nun die Liebe, die du noch immer für Mutter empfindest, mit unserer Liebe für das Gelbe Zeichen verbinden.

CASSILDA: (Wechselt das Thema.) Was ist der wahre Grund, weshalb du mich heute besuchen kommst, Schwester?

CAMILLA: (Verspielt.) Brauche ich neuerdings einen Grund, um meine große Schwester zu besuchen?

CASSILDA: Wie mir scheint, bin ich nicht die einzige untalentierte Schauspielerin in der Familie. Genug des albernen Spiels, wieso bist du hier?

CAMILLA: (Beißt sich auf die Unterlippe und errötet vor Scham.) Onkel hat mich geschickt. Er bat mich darum, noch einmal mit dir aufgrund deines … aufgrund deines gesundheitlichen Zustandes über etwas zu sprechen.

CASSILDA: Worüber?

CAMILLA: Über den Maskenball. Wie du weißt, ist dies morgen der womöglich bedeutendste Abend unseres Lebens. Denn wir feiern nichts Geringeres als das tausendjährige Bestehen unseres Königreiches.

Du bist dir über die damit einhergehende Bedeutung im Klaren, nicht wahr? Du weißt, was geschehen wird und was man von dir als ältestes Kind des Königs erwartet, wenn die Glocken von Yhtill zur dreizehnten Stunde läuten und all unsere edlen Gäste aus ganz Hoseib ihre Masken ablegen?

CASSILDA: (Zögerlich.) Sie werden um meine Hand anhalten und ich werde mich sodann für einen von ihnen entscheiden, ganz so, wie es der Hyaden Wille ist.

CAMILLA: Ganz genau. (Aufgeregt.) Und? Weißt du schon, wen von ihnen du zum Gemahl nehmen wirst? Uoht oder Thale?

CASSILDA: (Eisiger Schauer läuft ihr den Rücken herunter.) Muss es einer meiner Brüder sein? Wird außer ihnen sonst niemand um meine Hand anhalten?

CAMILLA: Oh, es werden morgen Abend viele Edelleute aus Hoseib versuchen, deine Gunst zu gewinnen. Und offiziell steht es dir – aus Dank, dass du das Gelbe Zeichen nach Yhtill gebracht hast – auch frei, deinem Herzen zu folgen und dich für einen jeden von ihnen zu entscheiden.

CASSILDA: Und inoffiziell?

CAMILLA: Nun … inoffiziell – so fürchte ich – wird von dir erwartet, dich für dein Fleisch und Blut zu entscheiden. Denn nur ein Casastine ist würdig, auf dem Elfenbeinthron zu sitzen und über Hoseib zu herrschen. Diese Wahrheit hat uns das Gelbe Zeichen gelehrt.

CASSILDA: (Schweigt.)

CAMILLA: Es ist fürwahr keine leichte Entscheidung. Uoht ist stark und tapfer, ein wahrer Krieger. Thale dagegen ist sanft und einfühlsam, ein leibhaftiger Künstler.

CASSILDA: Für wen von ihnen würdest du dich entscheiden, wenn du an meiner Stelle wärst?

CAMILLA: (Entschlossen.) Für Thale, meinen Zwillingsbruder. Wir waren immer schon eins – eine Seele in zwei Körpern –, um es mit seinen Worten zu sagen. Ich bin mir sicher, du wirst die richtige Entscheidung treffen. Höre nur auf das Gelbe Zeichen.

CASSILDA: (Spricht geistesabwesend mit sich selbst.) Wenn Wahnsinn eine Farbe hätte, welche Farbe wäre es wohl …?

CAMILLA: Was sagst du? Ich verstehe kein Wort, wenn du so düster vor dich hinmurmelst.

CASSILDA: Schon gut, ich habe mit mir selbst gesprochen. In Gedanken war ich bereits auf dem Maskenball.

CAMILLA: (Errötet.) Glaubst du, Hastur wird morgen Abend auch kommen?

CASSILDA: Wer ist Hastur?

Die Stadt Carcosa mit ihren im Nebel verborgenen Zwillingstürmen (siehe rechte Sonne):


„Carcosa”

By Steve Lines.

Die Zwillingstürme von Carcosa:


„Carcosa Coin”

By David Lee Ingersoll.

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