Brief an meinen Sohn

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Brief an meinen Sohn
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Über dieses Buch

Manuel Bauers Sohn Yorick hat sekündlich Störungen in seinen Hirnströmen und täglich grössere und kleinere epileptische Anfälle, die grösseren fahren in die Muskeln, und sein ganzer Körper verkrampft sich.

Yorick hatte diese Anfälle von Anfang an, jetzt ist er zehn. Vieles kann sich nicht entwickeln ob den Blitzen in seinem Nervensystem, seit zehn Jahren kauft Manuel Bauer zu Weihnachten dasselbe Spielzeug. Yorick kann nicht sprechen, weder Ja sa­­gen noch Nein, er hat einen Rollstuhl, einen Essstuhl, ­ei­nen Toilettenstuhl, ein Stehbrett. Das Aufstehen dauert eineinhalb Stunden, das Schla­fengehen drei. Der Alltag mit ihm ist zugleich ein Arbeitstag für Manuel Bauer.

Yorick liebt Musik, und Yorick geht zur Schule, die ganz auf ihn abgestimmt ist. Er hat eine ganze Infrastruktur, nicht wie seine Schicksalsgenossin Dolma, die Manuel Bauer in Nepal auf ihrer Matte vor dem Haus lie­gen gesehen hat.

«Brief an meinen Sohn» ist ein spontaner und emotionaler Bericht über das Leben Manuel Bauers mit seinem Sohn, den er liebt, eine berührende Nachricht aus der Rand­zone unserer perfektionierten Leistungsgesellschaft.


Foto Swinde Wiederhold

Manuel Bauer, geboren 1966, freischaffender Fotograf. Nach seiner Ausbildung zum Wer­befoto­grafen wandte er sich dem Fotojournalismus zu. Seit 1990 fotografiert er in Indien, der ­tibetischen Diaspora und Tibet. Internationale Bekanntheit erlangte er 1995 durch seine Reportage «Flucht aus Tibet». Seit 2001 persönlicher Fotograf des Dalai Lama. Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen im In- und Ausland. Lehrtätigkeit am Me­dienaus­bildungszentrum MAZ Luzern und dem Institut für angewandte Medienwissen­schaften in Winterthur. Manuel Bauer lebt und arbeitet in Winterthur. Im Limmat Verlag sind von ihm «Flucht aus Tibet» und «Exil Schweiz. Tibeter auf der Flucht» (zusammen mit Christian Schmidt) lieferbar.

Manuel Bauer

Brief an meinen Sohn

Von der Liebe zu einem behinderten Kind

Limmat Verlag

Zürich

Zum Verständnis: das Nestprinzip

Seit ihrer Trennung teilen sich Andrea Linsi und Manuel Bauer die Betreuung ihrer Kinder Marika und Yorick im gemeinsamen Haushalt. Einer klaren Tagesstruktur folgend, fliegen die Eltern abwechslungsweise ein und aus – das Nestprinzip. Den Kindern bleibt der Wechsel zwischen den ­elterlichen Wohnungen erspart. Beide Elternteile sind berufstätig. Ist Manuel Bauer arbeitshalber im Ausland, übernimmt Andrea Linsi die volle ­Betreuung.

Prolog

Liebe Marika, erneut schenke ich meine Aufmerksamkeit deinem Bruder. Deine Normalität wird nicht belohnt, die Behinderung erhält die volle Zuneigung deiner Eltern. Ich wünsche dir, dass dich dein Leben belohnt.

Ich besuchte einen Gesprächsabend zum Thema «Geschwister Behinderter». Ja, ich habe bemerkt, wie wichtig es ist, dich nicht zu vergessen.

Wäre ich ein Zebra, würde ich Yorick zurücklassen. Yorick kann nicht gehen. Yorick kann nicht spre­chen. Yorick würde sich alleine nicht ernähren können. Und ich könnte mein kleines Zebra nicht auf den Rücken nehmen. Ich würde mit dir weiterziehen. Ohne Yorick.

Ich bin ein Mensch. Wir können uns um die ganz Schwachen kümmern. Ich versuche, mich auch um dich Gesunde zu kümmern. Wir haben Schönes gemacht, ohne deinen Bruder. Und doch ist es eine Tatsache, dass du einen mehrfach schwerbehinderten Bruder hast. Er gehört zu deinem Leben. Wir haben Schönes gemacht, zusammen mit deinem Bruder.

An dem Abend, als ich lernen wollte, dich nicht zu vergessen, lernte ich viel über mich. Die Referentin sprach nicht nur über dich. Ich bin wie du. Dein Onkel brauchte die ganze Aufmerksamkeit deiner Grosseltern. Ich war der gute Sohn, ich hab immer funktioniert. Ich hab keine Probleme zu machen ver­sucht, Probleme hatten meine Eltern mit meinem Bruder. Ich wollte da nicht zusätzlich Kraft kosten. Ich hab geholfen. Ich habe meinen grossen Bruder auf dem Pausenhof gegen die Hänseleien der Starken verteidigt. Ich war für die andern da. Bis es mich selber nicht mehr gab.

An dem Abend lernte ich, zu mir selber zu schauen. Weil du sonst einen Vater hast, den es nicht gibt. Einen Vater, der Yorick nichts nützt, wenn er nur mehr ein Wrack ist. Ich wünsche dir, dass du zu dir zu schauen lernst. Dar­um schreibe ich dieses Buch. Für mich, für dich. Vielleicht für Yorick.

Ich wollte, dass dieses Buch lustiger wird.

Ist mir nicht gelungen.

Ich wollte, dass dieses Buch heiterer wird.

Ist mir nicht gelungen.

Ich nahm mir vor, keine Verbitterung zu zeigen, nicht zu böse zu sein.

Nicht gelungen.

Wehleidig hätte es auch nicht werden sollen.

Es ist geworden, was es geworden ist.

Deine Beine strecken sich. Es zieht dich zusammen. Alles zittert. Mit dieser plötz­lichen Wucht beginnt es. Diese Kraft. Kein Wunder, heisst es Blitz-Nick-Sa­laam-Syndrom.

Der Krampf packt dich mit Heftigkeit. Na, ihr Gaf­fer, nicht schlecht die Performance?! Und was schaut ihr so unbeholfen drein? Und warum so unglücklich? Reicht es denn nicht, dass eure Kinder ge­­sund sind? Was braucht es zur Zufriedenheit? Den Stolz, mit dem ich anders bin? Diese ausgegrenzte Aufgabe meistere? Nein, ich bin auch nicht zufrieden. Muss ich? Müssten Sie, Sie dort drüben, Mutter eines gesunden Kindes?

Deinen Kopf hat es auf deine Brust geworfen. Da halten ihn die Muskeln gefangen, mit voller Kraft. Dein Hirn will es so. Falscher Befehl. Atme Bub, atme. Bitte atme.

Ich lernte, nicht dagegen zu kämpfen. Wie lange darf ich warten? Du bist weiss im Gesicht. Deine Lippen werden blau. Ja, ich kann das. Das Notfall­me­dikament ist immer mit dabei, hinten im Rollstuhl. In einer leuchtpinken Tasche. Schon lange nicht mehr eingesetzt. Ist wohl eh abgelaufen, es läuft alle paar Monate ab, wie soll man da noch mithalten können? Es ist ja nicht nur dieses eine Medikament, das immer frisch sein muss.

Ja, ich halte durch. Weil du schon so oft durchgehalten hast. Mein Held. Immer dieser Tod, auf den das Leben folgt. Da lernt man. Daran gewöhnen werde ich mich nicht. Du machst langsam die Arme auf und zu wie ein Zombie, der aus dem Nebel auf einen zukommt, steif, als gäbe es keine Ellbogen, ich kriege dich, euch alle, ihr Gesunden und Lebendigen.

Atme mein Bub. Du hast sie erwischt mit deiner Aufführung. Ja, so sieht Behinderung aus. Schaut hin.

Früher gabs dafür den Jahrmarkt, heute kriegt ihrs im Supermarkt geboten. Marika hält sich am vollen Einkaufswagen fest. Sie liest das Toiletten­papier vom Boden auf. Sonst ist nichts runtergefallen. Die Eislutscher sollen ruhig schmelzen, irgendwann werden auch wir zurück sein, in der Küche, am Kühlschrank.

Endlich ein Atemzug. Das ist gut. Es will nicht en­den. Ich spreche leise zu dir. Wie toll müssen all die Reize auf dich eindreschen, spiessen dich grell auf, die Lichtspitzen und die Geräuschpfeile, deine Pupillen sind weit aufgerissen. Ich versuche, dich zu schützen. Geborgenheit, vielleicht bedeutet sie was. Vielleicht kann ich sie dir geben. Vielleicht erlebst du auch sie intensiver in diesem Kampf.

Heute ist ein guter Tag. Wir fanden die Zeit, einkaufen zu gehen. Weil du so gut mitgemacht hast. Du warst fit genug fürs Einkaufen. Mein Lehrer, mein geliebter Sohn.

Wie eine Lichtergirlande reihen sich die Landescheinwerfer hintereinander am Nachthimmel. Sie fliegen Kloten an. Es ist gleich sechs Uhr, vorher dürfen sie nicht landen. Drehten sie schon lange ihre Warteschlaufen? Erstaunlich stark drückt das Licht des abnehmenden Mondes durch die Wolkendecke in Südost. Die feine Sichel bricht für einen Moment verschleiert hervor. Es dämmert. Aus allen Teilen der Stadt läuten die Kirchenglocken den Tag ein.

Ich stehe im Garten und mache einige Turnübungen – der Rücken. Du bist schwerer geworden. Die Geräusche der Stadt sind hier oben fern genug, um nicht Lärm zu sein. Welch Privileg, mit so viel Luft zu wohnen. Noch schläfst du. Erst muss deine Schwester aufstehen. In eineinhalb Stunden macht sie sich auf den Schulweg. Dann weck ich dich.

Die Glocken sind verstummt. Ein Güterzug fährt Richtung Bodensee. Hörst du das Martinshorn? Erinnerst du dich, wie die Sirenen einst für dich kamen? Es ist lange her. Wie oft fuhren wir durch die Nacht. Immer wieder. Das blaue Licht reflektierte von den Fassaden, erhellte die Milchglasscheiben und mischte sich mit dem gedämpften Licht im Wageninnern. Diesen Innenraum, den man nicht kennen will. Den man von aussen kennt, der, grell bemalt, zu irgendjemandem fährt. Nicht zu einem selbst. Und dann akzeptiert man die Geborgenheit in seinem Innern, ist dankbar für die Rettung. Auch wenn ungewiss bleibt, ob es Rettung gibt. Man ist nicht alleine, die Verantwortung verteilt sich. Ru­hi­ge Profis. Ich hielt deine kleine Hand. Wenn sie irgendwo zum Vorschein kam. Als wieder Tag war, kam ein Rettungssanitäter aufs Spitalzimmer und schulte mich in Reanimation von Kleinkindern. Für alle Fälle. Für den Fall, der immer ist, Alltag. Du warst noch ganz klein, da muss man vorsichtig sein. Bei deinem kleinen Brustkorb, der feinen Lunge. Es ist gut, das zu lernen. Es ist ein Schock, dies für das eigene Kind zu lernen.

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