Faulheit

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Faulheit
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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Manfred Koch,

Jahrgang 1955, lebt in

dem Bergdorf Sent in Graubünden. Studium der Philosophie, Geschichte und Germanistik in Tübingen, wo er 1988 promovierte. 2001 wurde er an der Universität Gießen habilitiert. Er lehrt an der Universität Basel, schreibt regelmäßig für das Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung und verfaßt Rundfunk-Essays. Von ihm sind u. a. erschienen: »Genies und ihre Geheimnisse. 100 biographische Rätsel«, Bd. 1 und 2 (mit Angelika Overath und Silvia Overath), und »Brot und

Spiele. Über die Religion

des Sports«.

MANFRED KOCH

Faulheit

Eine schwierige Disziplin


Inhalt

Cover

Der uralte Traum vom Nichtstun - Mythen der Faulheit

Die Erfindung des fleißigen Menschen - Geschichte der Faulheit

Die Verweigerung der Geschäftigkeit - Faulheit als Zivilisationskritik

Liegekur auf dem Zauberberg - Die trägen Helden der modernen Literatur

Faulheit – eine schwierige Disziplin

Literaturhinweise

Impressum

Wahrscheinlich bin ich in meiner Anlage gar nicht faul, aber es gab für mich nichts zu tun.

Franz Kafka: Brief an den Vater

Der uralte Traum vom Nichtstun

Mythen der Faulheit

Vom Fischer und seiner Ruh

An vielen bundesdeutschen Schulen gehörte in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine kleine Erzählung von Heinrich Böll zur Pflichtlektüre: Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral. Ihr Schauplatz ist »ein Hafen an der westlichen Küste Europas«, (Südfrankreich, Spanien oder Portugal). Dort photographiert ein Tourist ziemlich aufdringlich einen Fischer, der sich nach getaner Morgenarbeit in sein Boot gelegt hat und dösend die aufkommende Tageswärme genießt. Der Tourist verwickelt den Einheimischen in ein Gespräch und schlägt ihm vor, seine Zeit effizienter zu nutzen. Würde er zwei-, drei-, ja viermal am Tag ausfahren, könnte er sich dank des größeren Ertrags bald einen Motor für seinen ärmlichen Kahn kaufen und schließlich sogar ein kleines maritimes Unternehmen gründen:

»›Sie würden ein kleines Kühlhaus bauen, vielleicht eine Räucherei, später eine Marinadenfabrik, mit einem eigenen Hubschrauber rundfliegen, die Fischschwärme ausmachen und Ihren Kuttern per Funk Anweisungen geben. Sie könnten die Lachsrechte erwerben, ein Fischrestaurant eröffnen, den Hummer ohne Zwischenhändler direkt nach Paris exportieren – und dann –‹, wieder verschlägt die Begeisterung dem Fremden die Sprache. Kopfschüttelnd, im tiefsten Herzen betrübt, seiner Urlaubsfreude fast schon verlustig, blickt er auf die friedlich hereinrollende Flut, in der die ungefangenen Fische munter springen.

›Und dann‹, sagt er, aber wieder verschlägt ihm die Erregung die Sprache. Der Fischer klopft ihm auf den Rücken, wie einem Kind, das sich verschluckt hat. ›Was dann?‹, fragt er leise.

›Dann‹, sagt der Fremde mit stiller Begeisterung, ›dann könnten Sie beruhigt hier am Hafen sitzen, in der Sonne dösen – und auf das herrliche Meer blicken.‹

›Aber das tue ich ja schon jetzt‹, sagt der Fischer, ›ich sitze beruhigt am Hafen und döse, nur Ihr Klicken hat mich dabei gestört.‹«

Ein wenig zu deutlich fügt Böll zum Abschluß noch die Moral an. Der Tourist begreift, wie unsinnig sein Glaube war, »er arbeite, um eines Tages nicht mehr arbeiten zu müssen«, und geht neidisch von dannen.

Bölls 1963 entstandener Text gehört heute zu den Klassikern der Zivilisationskritik. Betrachtet man die Grundkonstellation genauer, erkennt man unschwer die Ur-Anekdote, die dahintersteht: die Begegnung des Diogenes mit Alexander dem Großen. Hier wie dort liegt in einem südlichen Ambiente ein ärmlich gekleideter, naturverbundener Mann am Strand und sonnt sich. Ein aktivistischer Zeitgenosse tritt unaufgefordert an ihn heran und eröffnet ihm die Aussicht auf eine herrliche Zukunft (»Fordre, was du wünschst«, sagt der mächtige Alexander zu Diogenes). Doch der Naturmensch läßt ihn abblitzen. Er ist zufrieden mit dem wenigen, was er hat, und er weiß seine Ruhe zu schätzen.

Selbstverständlich sind auch die Unterschiede nicht zu übersehen. In der antiken Geschichte ist der Störenfried ein Imperator, und die Antwort des Liegenden fällt sehr viel knapper und schärfer aus: »Geh mir aus der Sonne!« Aber ein prägnantes Grundmuster läßt sich eben in immer neuen historischen Einkleidungen wiedererzählen. So ist der Kerngehalt der Anekdote – rastloser Weltveränderer kapituliert vor glücklichem Primitiven – zwischen Diogenes (ca. 400 – 328 v. Chr.) und Böll auch unzählige Male aufgegriffen und unterschiedlich ausgestaltet worden. Es ist dabei letztlich nur ein Gradunterschied, ob die Naturmenschen auf Tahiti (»gute Wilde«), im Orient oder in Südeuropa angesiedelt werden. Fast immer beweisen sie ihre Überlegenheit, indem sie untätig am Strand liegen und bekunden, nichts anderes zu wollen.

Was an Bölls Geschichte skeptisch stimmt, ist – nach dieser langen Tradition – die ungebrochene Idealisierung des rückenklopfenden Fischers. Der Leser weiß ja, daß diejenigen, die das einfache Leben führen, ihm gewöhnlich keine besondere Wertschätzung entgegenbringen. Die wirklichen Fischer und Hirten dieser Welt erblicken darin weniger das Glück der Simplizität als die Not der Entbehrung. Sie wollen teilhaben am Wohlstand der Industrieländer und machen sich keine Gedanken, ob sie damit ihre Ruhe verlieren, ja ihre Seele verkaufen. Es sind wir Touristen, die an unserer erdrückenden Arbeitsmoral leiden und unsere Sehnsucht nach einem weniger angespannten, weniger komplizierten Leben auf sie projizieren.

Die glaubwürdigere Figur in Bölls Geschichte ist der Verlierer des kleinen Dialogs, der »Fremde«. Er ist ohne Zweifel eine gespaltene Persönlichkeit. Als Geschäftsmann drängt es ihn, dem faulen Fischer die Aussicht auf eine gewinnträchtige Karriere zu eröffnen. Als Tourist würde er diesen Ort aber meiden, setzte der Fischer (und nach ihm womöglich noch andere Dorfbewohner) seine Vision tatsächlich in die Realität um. Er würde zu anderen Gestaden aufbrechen, andere Inseln suchen, auf denen immer noch arme Fischer, mit dem Nötigsten versorgt und darüber hinaus nichts begehrend, malerisch in der Sonne dösen. Und auch wenn er sich dieses Mal zurückhielte und keinen der Einheimischen mit seiner Geschäftigkeit infizierte, würde er doch Geld in Umlauf bringen, von dem bald der erste der Armen ein weiteres Boot kaufte, die Erträge steigerte, Überschüsse auswärts absetzte, um ein drittes Boot zu kaufen usw. Und die anderen müßten bei Strafe des Untergangs das Gleiche tun oder sich irgendwann in der Firma des erfolgreichen Pioniers als Arbeitskräfte verdingen.

Vielleicht fände der Tourist auch einen Ort, wo man begriffen hat, daß der Verkauf von Ruhe auf lange Sicht weitaus rentabler ist als der Aufbau einer kleinen Fischindustrie. Da aber immer mehr »Fremde« solche Luxusartikel nachfragen – neben der Stille wären noch saubere Luft, klares Wasser und landschaftliche Schönheit zu nennen –, verwandeln sich auch an diesen Orten die Fischer irgendwann in Pensionsbesitzer, Wellnesshoteliers oder Strandkorbträger. Und unser Tourist würde dann eben dem andersgearteten Rummel entfliehen und weiterziehen auf der Suche nach neuen alten Inseln der Seligkeit.

Um die Persönlichkeitsspaltung des wahren Helden von Bölls Anekdote kommen die allermeisten Bürger der westlichen Wohlstandsgesellschaften nicht herum. Die Rückkehr zum einfachen Leben, zum ausdauernden Faulsein in der Sonne, ist ihnen versagt (soweit sie nicht radikale Aussteiger werden, die Armut riskieren). Was sie allenfalls finden können, sind Inseln der Ruhe für eine begrenzte Zeit. Je mehr sie sich aber diese Einsicht zu eigen machen, desto größer wird das Bedürfnis, sich imaginativ auszumalen, wie es wäre, gar nichts zu tun.

Das Glück der Tiere

»Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glück eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Thiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Thier. Der Mensch fragt wohl einmal das Thier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Thier will auch antworten und sagen, das kommt daher daß ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so daß der Mensch sich darob verwunderte.«

 

Seit jeher hat der Mensch den Tieren unterstellt, sie müßten glücklich sein, weil sie gar nicht anders können, als im Augenblick zu leben. Die Szene, mit der Friedrich Nietzsche seine Abhandlung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben eröffnet, beschwört ein unvergängliches Wunschbild herauf: sorglos zu leben wie die Tiere, ohne einen Gedanken an die Leiden der Vergangenheit und die Anforderungen der Zukunft zu verschwenden. Sorglos heißt in diesem Zusammenhang auch, versorgt zu sein, seinen Lebensunterhalt nicht mühsam erarbeiten zu müssen, sondern schlicht das natürlich Dargebotene zu verzehren. »Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch.« (Matthäus 6, 26)

Neben die Tiere, deren Bedürfnisse Gottvater bzw. Mutter Natur stillt, tritt in diesen Phantasien oft das Kleinkind. Auch das Kind ist (noch) mit keiner Geschichte belastet und weiß nichts von einer Zukunft, ja es weiß nicht einmal von sich selbst. Es lebt einfach nur, und die einzige Anstrengung, die ihm abverlangt wird, ist der Schrei nach mütterlicher Nahrung. In ähnlicher Weise belastet sich Nietzsches Tier einzig mit Springen, Fressen und Verdauen. Die Pointe im Denkbild des Philosophen liegt darin, daß das gute Naturwesen auf die menschliche Frage nach seinem Glück antworten will, sein Gedächtnis aber für den kurzen Satz nicht ausreicht (da es eben für keinerlei Wortgebrauch geschaffen ist). Und der Leser versteht: Sprache, Arbeit, Zeit- und Selbstbewußtsein stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang, sie bilden jenen geheimnisvollen Komplex, den man früher feierlich »Geist« nannte. Er zeichnet den Menschen aus, der Mensch kann ihn aber auch innerlich verwünschen. Dann erblickt er im Tier das Wesen, das ihm den passiven Genuß des Augenblicks vorlebt.

Fraglos handelt es sich bei Nietzsches Szenario um eine Beschönigung. Man ersetze nur die Kuh-, Schaf- oder Ziegenherde, die hier repräsentativ für das Tier steht, durch ein hungriges Wolfsrudel im Winter. Das Leben der Wildtiere ist nicht sonderlich gemütlich, da das Fressen nicht, wie die Bibelstelle behauptet, jederzeit zur Verfügung steht und über den meisten obendrein die ständige Gefahr des Gefressenwerdens schwebt. Aber es geht Nietzsche ja gar nicht um das Glück oder Unglück der Tiere (wie sich »Hunger« oder »Sattheit«, »Angst« oder »Zufriedenheit« für sie anfühlt, wissen wir sowieso nicht). Er beschreibt vielmehr eine Projektion, die aus dem Leiden der Menschen an ihrer Verfassung, an dem, was das spezifisch Menschliche ausmacht, entspringt. In der verklärten Betrachtung der ruhig lagernden, grasrupfenden Tiere träumen die Menschen ihren uralten Traum einer Rückkehr zur Natur. Das Sehnsuchtsbild des animalischen Naturwesens kann so das Sehnsuchtsbild des Naturmenschen (meist Hirten oder Fischer) an Wirkung noch übertreffen. Manche alpenländischen Ferienorte bieten als besonders heilkräftige Therapie Kurse an, in denen der Gast das meditative Hineinversetzen in das Wiederkäuen der Kühe lernt. Seit es den Massentourismus gibt, sind Kühe zu Wellness-Ikonen aufgestiegen. Den Grund dafür hat Joachim Ringelnatz wunderbar formuliert: »Sie wandeln mit viehischer Majestät/​Innerhalb ihrer Grenze,/​Schieben das Restchen von Nervosität/​In die Quaste ihrer Schwänze.«

Die menschliche Kultur ist ein anstrengendes Geschäft. Wir fühlen uns, folgt man Sigmund Freud, prinzipiell »unbehaglich« in ihr, weil sie uns einen umfassenden Triebverzicht abverlangt. Die spontane Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse ist genauso untersagt wie das Ausleben der – nach Freud zutiefst menschlichen – Zerstörungslust. In der Abhandlung Jenseits des Lustprinzips, zehn Jahre vor dem Unbehagen in der Kultur (1930) entstanden, hatte Freud gar die These aufgestellt, daß alle Organismen insgeheim von einer unstillbaren Sehnsucht nach »Aufhebung der inneren Reizspannung« getrieben seien. Sie strebten einen Zustand vollkommener Ruhe, das »Nirwanaprinzip«, an. Dieser Zustand ist zur Gänze erst im Tod erreichbar. Das Leben – nicht nur das menschliche – wäre demnach, salopp gesagt, grundsätzlich zu faul zum Leben. Was es gegen den Todestrieb, die »Äußerung der Trägheit im Organismus«, vorwärtsdrängen läßt, sind nach Freud die Lustversprechen der Geschlechtlichkeit. Aber auch die Sexualität will, wie die Erfahrung des Orgasmus zeigt, letztlich wieder auf jenen Zustand nirwanatischer Ausgeglichenheit hinaus, der ein Vorgefühl des Todes ist (weshalb die Franzosen den Orgasmus auch la petite mort nennen). Thanatos, die Trägheitsmacht des Daseins, ist stärker als der Lebensbeförderer Eros.

Wenn schon die lustvollen Aktivitäten der Menschen nur Ablenkungsmanöver der Natur auf dem Weg zum eigentlichen Ziel, der ewigen Ruhe, sind, wieviel mehr muß der Organismus sich zuinnerst gegen das erzwungene Tätigsein sträuben? Freud schließt nicht aus, daß Arbeit mit Freude verbunden sein kann. Zum einen gewährt die Sublimierung sexueller Energien in wirklich schöpferischer Arbeit, sei sie handwerklich oder geistig, ein hohes Maß an Befriedigung. Zum anderen ist Arbeit noch vor der Liebe das, was Menschen zusammenbringt, sozialen Zusammenhalt stiftet. Insofern wohnt ihr immer ein erotisches Moment inne. »Keine andere Technik der Lebensführung«, heißt es in Das Unbehagen in der Kultur, »bindet den Einzelnen so fest an die Realität als die Betonung der Arbeit, die ihn wenigstens in ein Stück der Realität, in die menschliche Gemeinschaft, sicher einfügt. Die Möglichkeit, ein starkes Ausmaß libidinöser Komponenten […] auf die Berufsarbeit und auf die mit ihr verknüpften menschlichen Beziehungen zu verschieben, leiht ihr einen Wert, der hinter ihrer Unerläßlichkeit zur Behauptung und Rechtfertigung der Existenz nicht zurücksteht.« Dann aber weist der Seelenforscher energisch die Vorstellung zurück, es könne so etwas wie eine allgemeine Arbeitslust geben: »Und dennoch wird Arbeit als Weg zum Glück von den Menschen wenig geschätzt. Man drängt sich nicht zu ihr wie zu anderen Möglichkeiten der Befriedigung. Die große Mehrzahl der Menschen arbeitet nur notgedrungen, und aus dieser natürlichen Arbeitsscheu der Menschen leiten sich die schwierigsten sozialen Probleme ab.«

Der Mensch ist bei Freud ein zutiefst träges Wesen. Seine kulturellen Leistungen sind ihm abgepreßt worden vom Zwang zur gemeinsamen Selbsterhaltung. Aber auch die Selbsterhaltung – das ist die dunkle Spitze dieser Theorie – ist ihm im tiefsten Inneren zuwider. Verlockt von kurzfristigen Lusterlebnissen tritt er seine Lebensreise an, um in allen Aktivitäten doch immer auch das Ende aller Anspannung herbeizusehnen. Nietzsches Mensch imaginiert wehmütig das Glück der im Gras lagernden Tiere. Bei Freud stehen Mensch und Tier auf der Seite des Lebens; wonach es sie aber verlangt, ist die Ruhe des Todes.

Das Paradies

Wie kam der Mensch zur Arbeit? Gab es einen Urzustand animalischen, ja pflanzenhaften Vor-sich-Hinlebens, der eines Tages aufgegeben wurde, aufgegeben werden mußte? Die Ursprungsmythen aller Kontinente kreisen um diese Frage; sie handeln nicht nur von der Entstehung der Welt, sondern immer auch von der Herausbildung einer spezifisch menschlichen Kultur. In der biblischen Schöpfungsgeschichte vollzieht sich der Übergang von Natur in Kultur als Vertreibung aus dem Paradies. Erst als Exilierte aus Gottes Garten beginnen, so scheint es, Adam und Eva zu arbeiten. Sie bestellen das Feld und besorgen das Haus, sie zeugen Nachwuchs und ziehen die Kinder groß. Die Agrar- und Familienarbeit ist eine Strafe: Der Mann muß »im Schweiße seines Angesichts« das Brot erwirtschaften, die Frau unter Schmerzen gebären. Gleichzeitig kommen andere, schlimmere Plagen in die Welt: das Verbrechen und der Tod. Erst mit ihnen ist aber eben auch der Umkreis menschlicher Kultur, die Distanz zum Naturreich, ausgeschritten. Tiere töten zwar auch, aber sie haben kein (Un-) Rechtsbewußtsein, Tiere sterben wie wir, aber sie wissen nicht vom Tod.

Bei genauerem Hinsehen geht die Rechnung Paradies/​Natur – Vertreibung/​Kultur allerdings nicht so glatt auf. Wer die Geschichte von den ersten Menschen, ihrem Sündenfall und ihrem Auszug aus Gottes Garten genau liest, stößt auf Komplikationen. Die erste besteht darin, daß wir es gar nicht mit einer Geschichte zu tun haben, sondern mit zwei sehr unterschiedlichen Erzählungen, die im 1. Buch Mose (Genesis) unvermittelt aufeinanderfolgen, obwohl ihre Aussagen einander widersprechen. Die moderne Bibelforschung geht davon aus, daß Genesis 1, der Bericht von Gottes Weltschöpfung, die am sechsten Tag mit der Erschaffung des Menschen ihren krönenden Abschluß findet, aus der Zeit um 700 v. Chr. stammt. Da Gott hier den Namen Elohim trägt, wird der unbekannte Autor als »Elohist« bezeichnet. Die folgende Erzählung vom Paradies und dem fatalen Gespräch der Urmenschen mit der Schlange (Genesis 2 u. 3) datieren die Forscher auf das zehnte Jahrhundert vor Christus. Gott heißt hier Jahwe, der anonyme Autor erhielt deshalb den Kunstnamen »Jahwist«.

Ein Paradies gibt es nur in dieser zweiten, älteren Erzählung, die das unvordenkliche Geschehen sehr viel ausladender, detailreicher, man möchte fast sagen: alltagsnäher wiedergibt. Gott agiert hier wie ein höherer Handwerksmann. Er töpfert Adam aus Lehm und bläst ihm, so Luthers Übersetzung, den »Odem des Lebens in die Nase«. Er pflanzt den »Garten in Eden, gegen Osten hin«; er modelliert Eva aus Adams Rippe, und am Ende, als beide sein Gebot mißachtet haben und sich nach Verkostung der erkenntnisstiftenden Frucht ihrer Nacktheit schämen, schneidert er ihnen Kleider als Ersatz für den Feigenblattschurz, mit dem sie sich ungeschickt beholfen haben. Daß solche Fürsorglichkeit selbst nach der Verstoßung noch aufrechterhalten wird, verstärkt den Eindruck, daß es Adam und Eva zuvor an gar nichts gemangelt haben kann. Sie müssen ein paradiesisches Leben ohne jede Anstrengung geführt haben.

Tatsächlich hat Gott ihnen offenbar eine Vielzahl von Bäumen verschiedenster Art zur Verfügung gestellt, von denen sie nur zu pflücken brauchen, um ihren Hunger zu stillen (ausgeschlossen bleibt nur der geheimnisvolle »Baum der Erkenntnis«). Es scheint sich um eine natürliche, entspannte Existenz als Fruchtverzehrer gehandelt zu haben. Einzig ein kleiner Halbsatz paßt nicht in dieses Bild.

Rekapitulieren wir kurz den Ablauf: Gott erschafft zuerst den Menschen, dann legt er den Garten an, der ihn ernähren soll, dann versetzt er den (bis dahin irgendwie ortlosen) Menschen in diesen Park, der durch die Nennung der vier Flüsse, die ihn bewässern (Pischon, Gihon, Euphrat und Tigris) als kunstvoll errichtetes Biotop charakterisiert wird. Offenbar reflektiert die Erzählung hier den Aufstieg der frühen Hochkulturen Mesopotamiens. Aber es ist nicht einfach so, daß die gewaltige kulturelle Leistung, die zur Blüte des assyrischen und babylonischen Reiches führte, in der mythischen Widerspiegelung ganz allein Gott zugeschrieben wird und dem Menschen nur die passive Rolle des Genießers bleibt. Denn von göttlicher Seite ist eine Art Kooperation vorgesehen, wie Genesis 2, 15 zeigt: »Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaute und bewahrte.« (Die Zürcher Bibel übersetzt einleuchtender: »dass er ihn bebaue und bewahre«.) Der Mensch soll also nicht nur pflücken, sondern ausdrücklich »bebauen«. Er ist sogar von Gott in dieser Perspektive erschaffen worden; so jedenfalls läßt sich der Anfang der Geschichte verstehen: »Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen; denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute« (Genesis 2, 4 – 6) Der Mensch hatte offenbar von Beginn an zu tun. Das Paradies war kein Schlaraffenland.

Es geht demnach nicht einfach um den Gegensatz Natur – Kultur, sondern um zwei Ansichten der menschlichen Kultur. Auf der ersten, »paradiesischen« Stufe ist die menschliche Kultivierungsarbeit noch harmonisch eingelassen in das Wirken der göttlichen Natur. Man kann sich, obwohl die Geschichte davon nichts sagt, gut vorstellen, daß das »Bebauen« so leicht von der Hand ging wie das Früchtepflücken. Auf der zweiten Stufe, nach dem Sündenfall, kämpft der Mensch mit einer widerspenstigen Natur, die ihm das Leben auf allen Ebenen schwermacht: erstens, von außen, als Acker, der selbst bei schweißtreibendem Einsatz kaum das Nötigste abwirft; zweitens aber auch in Gestalt des eigenen, schmerzenden Körpers und drittens, innerlich, in Form der wilden Affekte wie Gier und Eifersucht, die die menschliche Gemeinschaft bedrohen. Luther hat diese zwei Stufen in seiner Übersetzung besonders markiert, indem bei ihm erst der gefallene Mann den Namen Adam trägt (Genesis 3, 8). Im hebräischen Original ist nicht eindeutig zu entscheiden, bis zu welchem Punkt »Adam« einfach »Mensch« bedeutet und ab wann das Wort ein Eigenname ist. Für Luther ist der arbeitsgeplagte, sterbliche, schamerfüllte Mensch auch das erste seiner selbst bewußte Individuum, deshalb trägt er einen individuellen Namen (und gibt kurz darauf seiner Frau den Namen Eva; Genesis 3, 20).

 

Betrachtet man die jüngere Schöpfungsgeschichte des Elohisten, so stößt man, trotz der ganz anderen Anlage der Erzählung, auf einen ähnlichen Sachverhalt. Hier wird straff, in wenigen Sätzen, Gottes Sechstagewerk vorgeführt, das im Unterschied zur älteren Erzählung kein handgreifliches Gestalten ist. Gott spricht – und es geschieht. »Der Gott dieses Kapitels ist ein Wortemacher; er erschafft durch mündlichen Befehl.« (Kurt Flasch) So ist das Urmenschenpaar mit einem Satz da: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.« (Genesis 1, 27). Der auch grammatikalisch befremdliche Sprung vom Singular in den Plural –»schuf er ihn; und schuf sie«– ist typisch für den bündigen Erzählstil des Elohisten. Wie diese rätselhafte Verdoppelung gleich am Anfang zu denken ist, wie die Gottesebenbildlichkeit genauer zu verstehen ist, wo doch Mann und Weib einander durchaus auch unähnlich sind – all das hat in einer langen Auslegungsgeschichte zu extrem divergierenden Urteilen geführt. Doch schauen wir, wie es dem Paar weiter ergeht:

»Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht. Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise. Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln im Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so.« (Genesis 1, 28 – 30)

Wie hat man sich das Untertänig-Machen der Tiere und die Versorgung mit Pflanzen genauer vorzustellen? Ist der Mensch hier noch archaisch als Jäger und Sammler konzipiert oder betreibt er bereits Ackerbau und Viehzucht? Für letzteres spricht das »Vieh« und der auszuteilende »Samen« (Getreide) in Gottes Rede. Der Mensch in Genesis 1 ist auch darin Gott ebenbildlich, daß er schafft, der Natur nicht einfach das Vorfindliche entnimmt, sondern anbaut, plant, züchtet.

In beiden Erzählungen wird der Mensch als Kulturwesen somit deutlich vom Tierreich abgehoben. Die Paradiesgeschichte weiß nichts von einem Befehl, die Natur zu unterwerfen, dafür stellt sich der Mensch in ihr sprachlich über die Fauna. Im Unterschied zu Genesis 1 werden die Tiere hier nach dem Menschen geschaffen, und zwar mit dem ausdrücklichen Ziel, ihm Gesellschaft zu leisten:

»Und Gott der Herr sprach: ›Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei.‹ Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen war keine Gehülfin gefunden, die um ihn wäre.« (Genesis 2, 18 – 21)

Welch wunderbare Doppelbödigkeit der altorientalischen Erzählung! Zum einen unterstreicht sie die Ausnahmestellung des Menschen in der Natur. Er ist das erstgeschaffene Lebewesen, das den anderen ihren Namen gibt. Wenn dieses Namengeben aber zugleich eine Art Brautschau ist, die erst am Ende zu der Einsicht führt, daß Adam in der blökenden, grunzenden Schar seinesgleichen nicht findet, dann heißt das doch auch, daß er sich so weit nicht über das Tierreich erhoben haben kann. Oder soll vor allem betont werden, daß die Frau, die Gott ihm daraufhin aus seiner Rippe formt und die er folgerichtig als »Fleisch von meinem Fleische« (an-) erkennt, erst einmal im Tierreich zu suchen ist? Da gehörte sie nämlich, so ließe sich diese alte Patriarchenphantasie deuten, im Grunde hin.

Wie immer man die Rätsel und Widersprüche der Ursprungsgeschichten auslegt, eines läßt sich zusammenfassend festhalten: Sie entwerfen den Menschen von vornherein als Kulturwesen (das Wort »Kultur« kommt ja von lat. colere = anbauen, bebauen). Im Paradies gibt es Arbeit, allerdings handelt es sich um eine Arbeit nicht im Kampf, sondern im Einklang mit der Natur (bzw. mit Gott als dem, der alles so eingerichtet hat). Das Schmerzhafte, Überfordernde, Angsterregende und Grausame, das unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Kulturleistungen ist, erscheint wie weggezaubert. Selbst wo im biblischen Text Gewalt in den Blick tritt, wird das Thema nicht weiter verfolgt. Die menschliche Herrschaft über die Natur muß, neben der Erlaubnis zur Domestizierung der Tiere, ja auch die zu ihrer Tötung einschließen. Der Mensch als das einzige Lebewesen, das weiß, was es heißt, anderes Leben zu vernichten, hat dieses Recht seit jeher für sich in Anspruch genommen. In der Schöpfungsgeschichte ist aber allein von der Stiftung von Leben, nicht von seiner Zerstörung die Rede. Die Paradieserzählung läßt die Tiere nur zum Zweck der adamitischen Besichtigung und Benennung durch den Garten defilieren; es ist nicht ganz klar, was hinterher aus ihnen wird. Führt Gott sie womöglich wieder aus dem Garten hinaus? Waren Adam und Eva Vegetarier? Auffällig ist jedenfalls auch hier die Aussparung des Fleischverzehrs – sowohl innerhalb der Tierwelt als auch im Verhältnis Mensch-Tier. Das brutalste Faktum der Nahrungskette paßt so wenig zum Bild des paradiesischen Friedens wie die Mühsal des Pflügens und Erntens beim »Bebauen« des Ackers.

Adam und Eva waren nicht faul, sie leisteten – modern ausgedrückt – unentfremdete Arbeit. Und da sie von keiner Anstrengung wußten, auch in Sachen Arbeit noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, verfügten sie auch über keinen Begriff von Entspannung. Sie lebten schlicht, eins mit sich und ihrer Tätigkeit. Der Fluch der Arbeit, das lehrt diese alte Geschichte, liegt wesentlich auch in der durch den Sündenfall erworbenen Fähigkeit zu »unterscheiden«, und damit in Phasen der Plackerei vom Glück des Nichtstuns zu träumen.

Goldenes Zeitalter – Arkadien

Mit den orientalischen Paradiesphantasien verwandt ist der Mythos vom Goldenen Zeitalter in der griechisch-römischen Antike. Der älteste überlieferte Text stammt von Hesiod, dem ersten biographisch faßbaren Autor der europäischen Literaturgeschichte (um 700 v. Chr.). Werke und Tage, eine seiner beiden überlieferten Schriften, ist das Buch eines Landwirtschaftsexperten, der schonungslos die Beschwerlichkeiten und Entbehrungen des bäuerlichen Lebens schildert. Auch hier ist das Menschengeschlecht zu peinvoller Arbeit verdammt, auch hier gab es aber einst einen Urzustand ungetrübten Glücks. Es war jenes Zeitalter, da noch Kronos, der Vater aller Götter, regierte und den Menschen unendliche Wohltaten bescherte.

»Diese lebten unter Kronos, der im Himmel als König herrschte, führten ihr Leben wie Götter, hatten leidlosen Sinn und blieben frei von Not und Jammer; nicht drückte sie schlimmes Alter, sie blieben sich immer gleich an Händen und Füßen, lebten heiter in Freuden und frei von jeglichem Übel und starben wie von Schlaf übermannt. Herrlich war ihnen alles, von selbst trug ihnen die kornspendende Erde Frucht in Hülle und Fülle. Sie aber taten ihre Feldarbeit ganz nach Gefallen und gemächlich und waren mit Gütern gesegnet, reich an Herden und lieb den seligen Göttern.«

Sehr viel stärker als in der biblischen Erzählung werden die Urmenschen bei Hesiod als Bauern und Viehzüchter, ätherische Landwirte sozusagen, vorgestellt. Sie arbeiten, aber eben »ganz nach Gefallen« und »gemächlich«, inmitten einer Verwöhnnatur, die nichts zu wünschen übrig läßt.

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