Makabrer Augustfund im Watt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Makabrer Augustfund im Watt
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Den bewundernswerten Bundes- und Landesermittlern der Zentralen Auswertungs- und Sammelstellen für Kinderpornografie und Sexualdelikte im Netz (ZAC) der Polizei mit größter Hochachtung und Wertschätzung.

Manfred Eisner

MAKABRER

AUGUSTFUND

IM WATT

Roman

Nili Masal ermittelt (9)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Abbildung auf dem Titelumschlag basiert auf einem Foto der Wattolümpiade, das mit freundlicher Genehmigung von Herrn Jens Rusch, Brunsbüttel, abgedruckt wird. Die gelungene Fotomontage des vom Autor selbst aufgenommenen farbigen Totenschädels verdankt er abermals seiner langjährigen Freundin, Frau Rachel Hirsch, Fotografin aus Ramat Gan, Israel.

www.rachelhirsch-photography.com

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Der größte Kriminalitätsschwerpunkt der Bundesrepublik liegt nicht in Duisburg, Köln oder Berlin. Er steckt in Hosentaschen und steht auf Schreibtischen. Er befindet sich in der Straßenbahn, am Bahnhof, im Wohnzimmer und auf der Toilette. Immer und für jeden erreichbar. Man muss sich nicht verstecken oder eine Maske aufziehen, um dorthin zu gelangen, nur das Handy oder den Computer anschalten. Ganz einfach. Für Täter ist das Internet eine Insel der Seligen. Sie können dort tun und lassen, was sie wollen. Und genau das machen sie auch.«

[Henning Rasche, deutscher Journalist]

»Missbrauch ist Menschen zertreten wie Gras.«

[Else Pannek (1932–2010), deutsche Lyrikerin]

»Beim Wort Kindesmissbrauch zuckt die Seele zweimal zusammen – das zweite Mal an der Unterstellung, es könnte einen rechten Gebrauch von Kindern geben.«

[Peter Horton (* 1941), österreichischer Musiker und Buchautor]

»Der Begriff Kinderpornografie […] verharmlost komplett das Geschehen. Es geht da wirklich um die sexualisierte Gewalt gegen Kinder. Die Brutalität des Materials ist […] nicht abzuschätzen. Die Töne sind das Schlimmste.«

[Interview von Ankea Janssen mit Polizeiseelsorger Dietrich Bredt-Dehen, SHZ Schleswig-Holstein Am Wochenende, August 2020]

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort – Lasset die Kinder zu mir kommen …

1. Nilis Geburtstagsfeier

2. Anneke

3. Aus Nilis Tagebuch

4. Mia, Pascal und Alina

5. Trauriges Licht ins Dunkel

6. Wattolümpiade

7. Unter Observation

8. Schmerzliche Gewissheit

9. Auf der Flucht …

10. … und deren arges Ende

11. Fiete

12. Des Pudels Kern

13. Die Spinne im Netz

14. Epilog

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Weitere Bücher

Endnoten

Vorwort
Lasset die Kinder zu mir kommen …1

Im Dunkeln saß verlassen ein Kind und weinte hinaus in Nacht und Wind. Und streckte empor die zitternde Hand, das blaue Auge gen Himmel gewandt.‹ Derart beklemmend beschrieb der deutsche Dramatiker und Schriftsteller Christian Friedrich Hebbel (1813–1863) in einem seiner Gedichte zum Thema ›Das Kind‹ jenes, das verzweifelt nach der ausgebliebenen Liebe und Geborgenheit der verblichenen Mutter fleht. Wie tief muss eine zarte Kinderseele in ähnlicher Weise verletzt worden sein, wenn sie sich körperlich malträtiert und voller Scham wegen eines von einer anderen Person ihr zugefügten Sexualgewaltaktes hilflos und allein gelassen fühlt? Aber nicht nur dies: Kinderschändung hat fatale Folgen für die Entwicklung und die weitere Existenz des Opfers. Medizinredakteurin Christiane Fux 2 beschreibt in einem Fachbericht umfassend die dadurch verursachten emotionalen, psychischen und körperlichen Folgen, die letztlich zu pathologischen Angstzuständen, Wachstums-, sozialen und geistigen Entwicklungsmängeln, zutiefst gestörten Beziehungen einer ebensolchen und Sexualität und nicht zuletzt zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen führen.

Zu diesem an sich schon bangen Sachverhalt gesellt sich die bohrende Frage der Ethik: Wie kann es sein, dass sich die Gattung Mensch derart brutal und gnadenlos an ihrer – zum Teil sogar eigenen! – Nachkommenschaft vergeht? Wo liegen die Ursachen für ein derart übles Fehlverhalten? Etwa in zügellosen Machtgelüsten von durch Minderwertigkeitsgefühlen Belasteten, in einem ungehemmten Sexualtrieb oder in grenzenlosen, von wem auch immer verursachten Rachegefühlen, die an Wehrlosen geahndet werden sollen? Zahlreiche Thesen und Lehrmeinungen finden wir in Literatur, Medienberichten und wissenschaftlichen Abhandlungen, die dieser kaum an Widerlichkeit zu übertreffenden Irrung unserer Gesellschaft anhaften.

Bigott ist, dass nach den Folgezeiten der griechischen Antike, während der institutionalisierte Knaben- und Mädchenliebe gang und gäbe war, ein solches Geschlechtsfehlverhalten von Erwachsenen gegenüber Minderjährigen und Schutzbefohlenen zwar allgemein bekannt war, in der Öffentlichkeit jedoch beflissentlich totgeschwiegen wurde, war es doch ein ›unanständiges‹ Thema, das, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand Erwähnung fand – denn »darüber spricht man nicht!«. Heute hingegen übertreffen sich Tageszeitungen und Boulevardpresse, aber nicht nur diese, in ihrer Berichterstattung über aktuelle Fälle von Sexualschändung Minderjähriger, über aufgeflogene Ringe von Kinderpornodealern, aber auch endlich und ausführlich über die üblen Praktiken, die von zölibatären, vermeintlichen ›Hirten‹, aber dergleichen von verehelichten Kirchenpriestern aller Ränge seit ehedem an ihren ›Schäflein‹ hemmungslos – und leider zumeist ungeahndet – begangen wurden.

Dennoch bleibt zunächst einmal grundsätzlich festzuhalten, dass jene unsittlichen Taten, die an Kindern verübt und im heutigen Sprachgebrauch mit der leidigen Bezeichnung ›Kindesmissbrauch‹3 benannt werden, keineswegs mit Pädophilie gleichzusetzen sind.4 Viele Journalisten setzen fälschlicherweise in ihrer Berichterstattung Pädophilie mit Vergewaltigung von Minderjährigen gleich: ein Irrtum, der fatale Folgen haben kann. Wissenschaftlich betrachtet handelt es sich bei dem Begriff ›Pädophilie‹ – gegenwärtig bevorzugen Fachleute anstatt diesem die angemessenere Bezeichnung ›Pädosexualität‹ – um das betonte sexuelle Interesse eines oder einer Erwachsenen an Kindern vor deren Pubertät. Medizinisch wird es eher als eine psychische Störung der Sexualpräferenz diagnostiziert. Diese Erscheinung wird von Sexualpsychologen und Medizinern als Schicksal beurteilt, nicht als freie Wahl.5 Die Wissenschaft weiß bisher nicht, woher eine solche Sexualpräferenz kommt und was sie verursacht. Sie ereilt die Betroffenen wie jede andere Vorliebe auch, nur kann man diese nicht ändern. Bestenfalls können die Betroffenen lernen, sie zu zügeln und mit ihr umzugehen. Nur gezielte psychiatrische Behandlung kann jenen von dieser Neigung betroffenen Personen dazu verhelfen, ihre folgewidrige Pädosexualpräferenz beherrschbar zu machen.

Bedauerlicherweise verschließt sich manchem Pädosexuellen diese wichtige Erkenntnis – zumeist aus Unwissenheit, unterdrückter Scham oder Schuldgefühlen – und verführt diesen sogar zu kriminellen Handlungen wie beispielsweise der Generierung, Verbreitung und dem Dealen von kinderpornografischen Fotos, Videos und Schriften. Unter diese Tätergruppe fallen jene üblen Subjekte, die unschuldige Kinder in ihrer desolaten Nacktheit benutzen, um Aktfotos oder Videos ins Netz zu stellen. Damit beabsichtigen sie entweder Profit zu machen, Gleichgesinnte zu beglücken, indem sie deren niedere Instinkte befriedigen, oder sogar beides. Hierfür bietet ihnen leider das Internet unbegrenzte Möglichkeiten, verbreitet es doch sekundenschnell und grenzenlos ungehemmt jede noch so abstruse Information ebenso wie jedes unsittliche Angebot in alle Winkel des Globus.

 

Erst seit dem Jahr 2015 reagiert der deutsche Gesetzgeber mit mehr Strenge, indem er zunehmend die Gesetze und Befugnisse zur erweiterten Netzüberwachung durch speziell geschulte IT-Ermittler bei Bundes- und Länderkriminalamt verschärft. Neben der Aufdeckung von Dealern kinderpornografischer Werke und Konsorten sollten Kinder vor den Betreibern zunehmender Cyber-Grooming-Net-Adressen besser geschützt werden. Hierbei handelt es sich um anfänglich harmlos erscheinende Chat-Sites, mit denen sich bösartige und meist als Jugendliche getarnte Erwachsene das Vertrauen von Minderjährigen erschleichen, um sie später mit den unredlich ergatterten Informationen unter Druck zu setzen, zu mobben und zu erpressen. Infamer geht’s wohl nicht!

Inzwischen gilt allerdings als klinisch erwiesen, dass der überwiegende Anteil von Kinderschändern nicht ›pädophil‹ ist, und ebenso, dass kein anerkannter Pädosexueller unbedingt ein derart möglicher Täter ist. Für das abartige Geschlechtsagieren von Menschen, die, wie auch immer, Kinder lediglich als Sexualobjekte benutzen, ohne unbedingt einer pädosexuellen Neigung zu unterliegen – oder ebenso die oben beschriebenen unflätigen Aktivitäten im Netz betreiben –, wäre deswegen die Bezeichnung ›pädokriminell‹ eher angebracht.

Zusammenfassend bleibt uns daher lediglich die bittere Erkenntnis, dass unsere Welt wegen dieser schändlichen menschlichen Defizite kein Garten Eden ist. Wieder habe ich ein solch schauriges Leitmotiv für diesen Roman gewählt, erscheint es mir doch unerträglich brisant: Wie zuletzt die schier unglaubliche und für Behörden und Jugendamt unverzeihliche Tatenreihe von Lügde, Münster und Bergisch Gladbach in Nordrhein-Westfalen häufen sich notorisch die pädokriminellen Skandale, die ans Licht kommen und unsere Gesellschaft zunehmend belasten. Dennoch sind wie in den vorangegangenen acht Nili-Masal-Ermittlungsfolgen auch die nachstehend geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen rein fiktiv und von mir frei erfunden. Eine etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen, deren Berufen und Dienstgraden oder den geschilderten Begebenheiten wäre rein zufällig.

Manfred Eisner, im Winter 2020/21

1. Nilis Geburtstagsfeier

Dem vorangegangenen nassen und meist zu kühlen Monat Juli folgt diesjährig ein allmählich zunehmend sonniger, warmer und trockener August. Nili Masals vierzigster Geburtstag fiel in die letzte und durch angespannte Aufklärung sowie Jagd nach dem Täter gekennzeichnete Juliwoche.6 Deshalb wurde die obligate Feier mit Familie, Kollegen und Freunden – übrigens unter allseitigem Überstimmen von Nilis vehementem Vetoversuch – auf das jetzt bevorstehende Wochenende verschoben. An diesem Freitagnachmittag verfassen die Kriminalkommissare Robert Zander und Margrit Förster – Angehörige der von der Kriminalhauptkommissarin geleiteten Kieler LKA-Abteilung Sonderermittlungen – gemeinsam ihren schriftlichen Bericht von der letzten Operation. Fachinspektor Ferdinand Csmarits, Leihgabe der Polizei im österreichischen Eisenstadt, der im Rahmen des Europol-Fachaustauschs das Team mit seinem IT-Erfahrungsschatz verstärkt, teilt am Bildschirm seines PCs Erkenntnisse mit dem Jüngsten im Team, Kommissar-Anwärter Timo Bohn.

Nili sucht wieder einmal in den unzähligen Cold Cases nach ungelösten Fällen, bei denen ihr eine Wiederaufnahme sinnvoll erscheint. Dabei fällt ihr eine fast vier Jahre alte Akte in die Hände, deren Inhalt sie schaudern lässt. Es ist der Fall eines spurlos verschwundenen Kindes aus dem Kreis Steinburg. Trotz intensiver Nachforschungen und monatelanger Ermittlungen in alle Richtungen war es damals der ›SOKO Pascal‹ nicht gelungen, den Verbleib des sechsjährigen Jungen aufzuklären und ihn den todunglücklichen Eltern Eike und Magdalene Heger wiederzubringen. Seine Leiche konnte ebenfalls nicht gefunden werden. Die SOKO wurde nach einem halben Jahr unfruchtbarer Bemühungen schließlich aufgelöst und die Akte durch die Staatsanwaltschaft als ungelöst geschlossen. Sie wanderte – wie leider ebenso viele andere unaufgeklärte Fälle – in den Aktenkeller des Kieler LKA.

Während sie die zahlreichen Berichte in dem Ordner überfliegt, sinniert Nili über eine ähnlich geartete Suchmeldung, die ihr vor wenigen Tagen aus ihrem Heimatort Oldenmoor zu Ohren kam. Eine Vierzehnjährige war von einem gemeinsamen Wochenende mit einer Freundin in Friedrichskoog am letzten Sonntagabend nicht wieder heimgekehrt. Das verzweifelte Elternpaar Paul und Gitta Schrader musste zunächst von den Eltern besagter Itzehoer Schulfreundin erfahren, dass ihre Anneke diese beiden Tage nicht in deren Wochenendhaus an der Nordsee verbracht hatte. Auch deren Tochter Gesche konnte nicht angeben, wo Anneke gewesen war. Anneke hatte ihrer Freundin lediglich gesagt, dass sie ein ›super-hype cooles Weekend‹ vorhabe und ihr am darauffolgenden Montag davon erzählen werde. Ebenso ergebnislos verliefen die Nachfragen und Anrufe bei Bekannten, weiteren Schulkameraden und deren Eltern. Sämtliche Kontaktversuche auf Annekes Smartphone landeten nur immer wieder auf deren Anrufbeantworter. Nachdem die Schraders schließlich eine Vermisstenmeldung bei der Polizeidienststelle der Elbmarschen-Kleinstadt erstattet hatten, startete die Suchaktion. Beamte der Bezirkskriminalinspektion in der Großen Paaschburg in Itzehoe leiteten umgehend die Fahndung nach Anneke ein.

Nili richtet ihren Blick auf die beiden Kollegen. »Sagen Sie, Ferdl, haben wir etwas über den Fall der als vermisst gemeldeten Jugendlichen aus Oldenmoor? Wegen der turbulenten vergangenen Woche habe ich diese Meldung nur am Rande wahrgenommen.«

»Okay, Frau Chefin, mir schaun mal nach! Also, Timo, auf geht’s!«

Unter Anleitung des IT-Experten macht sich Timo eifrig an der Tastatur des PCs zu schaffen. Kurz darauf vermeldet er: »Bingo, gute Nachrichten, Frau Nili! Die Itzehoer Kollegen haben das Mädchen gefunden!« Dann berichtet er, dass man am Mittwoch in aller Frühe, nachdem ihr Handy geortet wurde, die körperlich unversehrte Jugendliche aufgefunden habe. Sie sei entführt worden, habe sich aber aus der Gefangenschaft befreien und vor ihrem Entführer fliehen können. Aus Angst, dieser könne sie verfolgen, versteckte sie sich in einer Scheune und schlief dort vollkommen erschöpft auf dem Heuboden ein. Damit sie zur Ruhe komme, habe man sie ins Itzehoer Klinikum gebracht und in der Psychiatrischen interniert. Weitere Erkenntnisse betreffend Tat und Täter gebe es derzeit noch nicht.

Nili greift zu ihrem brandneuen iPhone, das sie vor wenigen Tagen von ihren Dezernatskollegen zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Bevor sie wählt, überträgt sie mit einem melancholischen Seufzer die Rufnummern der Kollegen in der Bezirkskriminalinspektion Itzehoe von ihrem lieb gewonnenen alten ›Dampfhandy‹ und wählt die Nummer des dortigen Büros.

»Moin, Dörte, ich bin’s, Nili«, begrüßt sie die Kriminaloberkommissarin Westermann, die das Gespräch angenommen hat. »Ich wollte mich erkundigen, ob ihr inzwischen etwas Neues im Fall Anneke Schrader erfahren habt.«

Dörte berichtet von der Entscheidung der Ärzte, dass das Mädchen erst morgen früh befragt werden dürfe. Ihr Chef, Kriminaloberrat Stöver, habe sie und ihren Kollegen Hauke Steffens damit beauftragt.

»Darf ich euch begleiten, Dörte? Es ist meine Absicht, dass sich unsere Abteilung intensiv mit diesen und ähnlichen Misshandlungstaten an Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Ich habe hier etliche ungelöste derartige Fälle vorliegen und möchte deshalb so viel wie möglich über die letzten einschlägigen Entwicklungen aus erster Hand erfahren.«

»Ich denke, das geht in Ordnung, vorausgesetzt, unser ›Hein Gröhl‹ hat nichts dagegen. Ich weiß, der Kriminaloberrat schätzt dich sehr, aber bei dem weiß man ja nie! Allerdings kann ich mir sein Plazet erst nachträglich am Montag einholen, denn soeben hat er uns ein gutes Wochenende gewünscht und ist gegangen. Na denn, in Gottes Namen, herzlich willkommen morgen um zehn Uhr vor dem Klinikum!«

Nili bedankt sich und beendet das Telefonat. Dann hebt sie für einen kurzen Moment die Fallakte hoch, die sie vorher durchgeblättert hat. »Okay, liebe Kollegen, dann bitte ich Sie, sämtliche Fälle von misshandelten sowie vermissten Kindern und Jugendlichen aus Ihren Cold-Case-Aktenstapeln herauszufischen. Ab sofort werden wir dieser entsetzlichen Gesellschaftspest näher rücken. Dann machen auch wir erst mal für heute Schluss! Und ich freue mich besonders, Sie alle morgen am frühen Nachmittag auf dem Holstenhof meines Onkels und meiner Tante in Oldenmoor begrüßen zu können. Ferdl, sind Sie so lieb …?«

»Aba selbstverständlich, Frau Chefin! Mir kemma alle zamma in mein Barockengel, Ehrensach!«

*

Wenig später fahren Nili und ihr Lebensgefährte und direkter Vorgesetzter, Erster Kriminalhauptkommissar Doktor Walter Mohr – von Vertrauten und nahestehenden Kollegen liebevoll ›Waldi‹ genannt –, in dessen Passat zu Nilis Heimatort. Auch Kollege Robert Zander begleitet sie, denn er ist seit einigen Monaten mit Habiba Mansour, der hübschen jungen Palästinenserin, liiert, die seit ihrer Entlassung auf Bewährung zusammen mit Nilis Großmutter Clarissa Keller und Mutter Lissy Masal im Onkel Suhls Haus wohnt und Ima Lissy bei der Arbeit auf deren Geflügelhof entlastet.7 Robert hat beim Nachbarn Friedl Jansen ein kleines möbliertes Zimmer gemietet, um mit Habiba zweisame Wochenenden verbringen zu können. An der Abfahrt Neumünster Mitte verlassen sie die A 7, um dann über Bundesstraßen zunächst die Kreisstadt Itzehoe und anschließend das Ziel am Elbdeich zu erreichen. Hocherfreut und wie immer herzlich wird das Trio von Abuelita und Ima Lissy bei ihrem Eintreffen begrüßt. Auch Habiba kann ihren Robert empfangen, sie ist bereits von ihrer Arbeit auf dem Eulenhof zurückgekehrt.

Alle umarmen Nili und beglückwünschen sie nachträglich mit »Mil felicidades para tu cumpleaños, querida!« zu ihrem besonderen Geburtstag.8 Nili ist gerührt und versucht ihre Ergriffenheit zu überspielen. »Ihr müsst mir doch nicht derart deutlich aufs Butterbrot schmieren, dass ich jetzt mit vierzig ’ne alte Schachtel bin!« Mit einem verzerrten Lächeln wischt sie sich ein paar Tränen aus den Augen. Dann fügt sie an: »Aber irgendwie freue ich mich nun doch, dass ihr mich wegen der Geburtstagsfeier umgestimmt habt. Übrigens, dazu wollte ich fragen, ob ich noch irgendetwas …«

»Darüber brauchst du dir überhaupt keinen Kopf zu machen, Nili«, unterbricht sie Habiba. »Wir haben es fest im Griff und alles ist vorbereitet. Du musst morgen nur auf dem Holstenhof erscheinen, alles andere geht dann wie von selbst. Lass dich überraschen!«

»So, und jetzt bitte ich euch zu Tisch!«, wirft Abuelita ein. »Es gibt eine leckere Süßkartoffel-Kürbis-Suppe mit Kokosmilch. Das Grundrezept habe ich mir zwar gestern von einer Fernsehsendung gemopst, aber ihr wisst ja, ohne etwas mehr Kamum geht bei mir gar nichts!«9

*

Nachdem Nili und Waldi in aller Frühe ihr gewohnheitsmäßiges Joggingprogramm absolviert und anschließend gemeinsam mit Abuelita und Ima Lissy gefrühstückt haben, machen sie sich auf den Weg nach Itzehoe. Wie üblich sind auch an diesem Samstagmorgen die begehrten Parkplätze in unmittelbarer Nähe des Klinikums belegt. Kurzerhand beschließen sie, dass nur Nili der Befragung Annekes durch Dörte Westermann und Hauke Steffens beiwohnen soll. Zudem wäre ein vierköpfiges Auftreten der Beamten eher kontraproduktiv.

Vor dem Eingang des Hauses C, in dem sich das Zentrum für Psychosoziale Medizin befindet, steigt Nili in der Robert-Koch-Straße aus und gesellt sich zu den bereits wartenden Kollegen. Diese hatten mehr Glück und konnten ihren Polizeiwagen nahe der Auffahrt abstellen. Nach einer kurzen Begrüßung und nachträglichen Glückwünschen zu Nilis Geburtstag gehen sie gemeinsam zur Anmeldung.

Wenig später kommt ihnen der Stationsarzt entgegen, der sie zu einem der Krankenzimmer führt. »Der Zustand der Patientin ist recht stabil«, berichtet er. »Trotzdem bitte ich Sie, bei der Befragung sehr behutsam vorzugehen. Das schlimme Ereignis könnte ein Trauma verursacht haben, aber wir können zurzeit noch nicht ermessen, wie tief es das Mädchen seelisch erschüttert hat. Erfreulicherweise zeigt sie bislang keine entsprechenden Symptome.«

 

Sie betreten das Doppelzimmer, das zurzeit nur von Anneke belegt ist. Die Eltern des Mädchens sitzen neben dem Bett. Frau Schrader weint still vor sich hin, während sie Annekes Hand hält. Dörte und Nili bleiben an der offenen Tür stehen, Hauke dahinter im Flur.

Der Stationsarzt geht voran und begrüßt das recht hübsche langhaarige, blonde und dunkelblauäugige Mädchen betont fröhlich. »Guten Morgen, Anneke! Wie geht es dir heute?« Nachdem sie ihm versichert hat, dass es ihr gut gehe, erkundigt er sich, ob sie sich imstande fühle, die Fragen der Beamten zu beantworten. Nachdem sie bejaht hat, deutet Nili ein leichtes Nicken in Richtung der Eltern an. Der Stationsarzt versteht und bittet das Ehepaar Schrader, den Beamten ihren Platz zu überlassen. Dann gibt er ihnen freundlich zu verstehen, dass es sinnvoll wäre, wenn sie das Zimmer zusammen mit ihm verlassen würden. Ihre Tochter werde dann sicherlich offen sprechen. Nachdem Paul und Gitta Schrader mit einem kurzen Gruß aufgestanden und hinausgegangen sind, treten Nili und Dörte näher an das Bett des Mädchens heran. Hauke schließt die Tür, lehnt sich von innen dagegen und zückt seinen Notizblock.

»Hallo, Anneke, ich bin Kriminaloberkommissarin Dörte Westermann von der Kripo Itzehoe. Dies hier ist meine Kollegin Nili Masal vom LKA in Kiel, und der Herr dort an der Tür ist mein Partner Hauke Steffens. Wir sind gekommen, weil wir wissen möchten, was mit dir geschehen ist. Ist es okay, wenn wir dich duzen und dir ein paar Fragen stellen?«

Nachdem sich Anneke zu allem bereit erklärt hat und auch einverstanden ist, dass ihre Aussage aufgezeichnet wird, beantwortet sie die gezielten Fragen, die ihr Dörte und Nili abwechselnd stellen, und erzählt, was ihr geschehen ist. Über die Internet-Chat-Site ›boyfriend‹ hatte sie überraschend ein gewisser Kenny kontaktiert. Er gab an, siebzehn Jahre alt zu sein. Woher dieser Kenny kam und wie er den Kontakt hatte herstellen können, wusste sie nicht. Nach und nach hatten sie Informationen über den jeweils anderen sowie Fotos ausgetauscht. Auf diese Weise erhielt Anneke Bilder eines attraktiven Teenagers, einer Zweimastsegelyacht, die in der Marina Wendtorf an der Ostsee lag, des Elternhauses in Hamburg-Winterhude und eines pompösen Reetdachhauses in Kampen auf Sylt. Der Vater sei angeblich Anlagedirektor einer renommierten Privatbank und die Mutter freischaffende Journalistin. Anneke zeigt Dörte und Nili ein auf ihrem Handy gespeichertes Foto des besagten Kenny. Ihnen blickt ein hübscher blonder und freundlich lächelnder Jüngling entgegen, der sich lässig gegen die Motorhaube eines rasanten roten Ford Mustang lehnt. Dann erzählt das Mädchen weiter: »Er schrieb mir immer ganz lieb und ich fand ihn sehr sympathisch. Nach und nach haben wir uns angefreundet und auch ich habe ihm mehrere Fotos von mir, unserem Haus und dem letzten Sommerurlaub auf Mallorca geschickt. Vor etwa einer Woche schrieb er mir, er sei in mich verliebt und wolle mich unbedingt treffen. Wir könnten doch übers Wochenende nach Sylt fahren, er wolle mich dort seinen Eltern vorstellen. Ich würde wahlweise bei ihnen im großen Haus oder in einem Hotelzimmer in Kampen übernachten. Über die Kosten müsse ich mir keine Gedanken machen. Da ich wusste, dass mir meine konservativen Eltern einen solchen Ausflug niemals erlauben würden, erfand ich die Notlüge mit dem Besuch bei Gesches Eltern in Friedrichskoog. Die beiden sind gut mit meinen Eltern bekannt und Gesche hat schon öfter bei uns übernachtet. Ich dachte, wenn Kennys Eltern ebenfalls auf Sylt sind, würde das auf dasselbe hinauslaufen. Niemals hätte ich geahnt, dass alles gefaked war! Wir verabredeten, dass ich Kenny am Freitag nach Schulschluss um vierzehn Uhr am Dithmarscher Platz in Itzehoe treffe. Von da aus würden wir gemeinsam nach Sylt fahren. Als ich dort ankam, war von Kenny keine Spur und ich wurde unruhig. Auf einmal kam ein nett aussehender älterer Mann auf mich zu und fragte mich, ob ich Anneke sei. Er zeigte mir ein Bild von Kenny und einen Ausdruck unseres letzten Chats mit dem vereinbarten Treffpunkt. Er erzählte, Kenny habe unterwegs eine Panne mit seinem Mustang gehabt. Der sei in eine Werkstatt in der Nähe von Elmshorn abgeschleppt worden und werde dort repariert. Er sei ein guter Freund des Werkstattinhabers und Kenny habe ihn gebeten, mich abzuholen und mich zu ihm zu bringen. Ich wunderte mich zwar, dass Kenny mich nicht angerufen hatte, aber da mir der Mann dessen Foto und unseren Chat zeigen konnte, stieg ich arglos in seinen Transporter. Wir fuhren auf die Autobahn in Richtung Süden, was mich weiter beruhigte, da ich ja annahm, dass Kenny von Hamburg aus zu mir auf dem Weg gewesen war. Irgendwann zeigte der Mann auf eine Wasserflasche und bemerkte, ich könne daraus trinken, falls ich Durst habe. Die Flasche war anscheinend noch nicht geöffnet worden, sodass ich ohne Bedenken daraus trank. Dann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder wach wurde, lag ich mit gefesselten Händen auf einer Matratze auf dem Boden eines halbdunklen Raumes.«

Angesichts dieser Erinnerung kullern plötzlich dicke Tränen aus Annekes Augen. Nili setzt sich zu ihr ans Bett und reicht ihr ein Papiertaschentuch. Dann greift sie nach ihrer Hand. »Ganz ruhig, Anneke! Wenn es dir zu viel wird, können wir gern eine Pause machen oder dieses Gespräch ein anderes Mal fortführen.«

Anneke wischt die Tränen fort und verneint mit einem Kopfschütteln. »Bitte nicht, Frau Kommissarin! Ich möchte jetzt alles erzählen, damit Sie dieses Schwein so schnell wie möglich finden und festnehmen!«

»Danke, das wissen wir sehr zu schätzen. Du bist wirklich ’ne tapfere Deern!«, sagt Dörte mit Bewunderung in ihrer Stimme.

Anneke macht Anstalten, nach dem Glas Wasser zu greifen, das auf dem Nachttisch steht. Nili reicht es ihr und sie trinkt daraus.

»Du kannst uns ruhig ›Nili‹ und ›Dörte‹ nennen, Anneke. Als Nächstes würden wir gern von dir erfahren, ob dieser Kenny dir seinen Familiennamen genannt hat.«

Das Mädchen denkt kurz nach, dann sagt sie: »Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, dass er ihn beiläufig erwähnt hat. Es war irgendwas mit ›Mai‹ – ›Maywald‹ oder ›Meifort‹. Tut mir leid, mehr fällt …«

Nili quittiert das Gesagte mit einem Lächeln. »Macht nichts, ist nicht so wichtig. Wie ging’s dann weiter?«

»Meine Hände waren zwar mit einem Kabelbinder gefesselt, aber die Beine waren frei, sodass ich mich zuerst auf den Bauch legte und mich dann hochstemmte und so auf die Knie kam. Danach konnte ich langsam aufstehen. Auf einmal war mir übel und ich musste mich gleich mehrmals in einen neben der Matratze stehenden Eimer übergeben. Dazu kamen irrsinnige Kopfschmerzen. Als es mir wieder etwas besser ging, untersuchte ich mein Gefängnis. Das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt und durch die Ritzen kam nur wenig Licht. Ich ging kreuz und quer durch den Raum, er war etwa zehn Schritte lang und acht Schritte breit. Ich bin ein Meter neunundsechzig groß und die Holzbretterdecke über mir befand sich nur etwa dreißig Zentimeter über meinem Kopf. Demnach war der Raum circa zwei Meter hoch. Die Wände waren aus unverputzten Rotsteinen, der Fußboden aus rohem Estrich. Die Luft war feucht und es roch modrig. Ich vermute daher, dass ich in einer alten Kate oder einer Scheune gefangen gehalten wurde. Eine dicke Holztür in der Wand war von außen verriegelt. Irgendwann stolperte ich gegen einen Hocker, auf dem zwei Coladosen und eine Schachtel Pizza standen. Nach der bösen Erfahrung mit der Wasserflasche wagte ich es zuerst nicht, daraus zu trinken. Ich war stinksauer auf mich selbst, weil mich mein Entführer so leicht überrumpelt hatte. Allmählich kam ich zur Ruhe und überlegte, wie ich aus meinem Gefängnis fliehen konnte. Dann hörte ich Motorengeräusche, die näher kamen, und erkannte den Van meines Entführers. Rasch legte ich mich zurück auf die Matratze und stellte mich schlafend. Wie in Zeitlupe öffnete sich kurze Zeit später die Tür und ich sah durch meine zusammengekniffenen Augen, wie der Mann mit leisen Schritten eintrat. Er hielt eine große Stablampe in der Hand und peilte die Lage. Da ich mich nicht rührte und weder die Getränke noch die Pizzaschachtel angefasst hatte, nahm er wohl an, ich sei noch immer bewusstlos. Er kam näher und leuchtete mir ins Gesicht. Ich stöhnte leise und tat so, als würde ich gerade zu mir kommen. Dann beugte er sich über mich und strich mir mit der Hand über die Haare. Er konnte ja nicht ahnen, dass ich seit zwei Jahren regelmäßig in einem Taekwondo-Studio trainiere und dort bereits den braunen Gürtel erworben habe. Als der geeignete Augenblick gekommen war, verpasste ich ihm mit beiden Händen einen harten Kantenhieb an die Kehle und stieß ihn mit angewinkelten Beinen beiseite. Wie ein Kartoffelsack fiel er zu Boden und blieb dort regungslos liegen. Ich sprang auf und floh durch die offene Tür ins Freie. Nachdem ich durch einen kleinen Wald gelaufen war, kam ich auf eine enge asphaltierte Straße und lief diese entlang, bis ich in der Ferne das inzwischen vertraute Motorengeräusch hörte. Sofort verließ ich die Straße, rannte über eine Koppel und konnte mich gerade noch rechtzeitig hinter eine Mauer ducken, als der Transporter im Schritttempo an mir vorbeifuhr. Ich hatte Glück, dass mich mein Verfolger nicht bemerkte. Dann wartete ich ungefähr eine Viertelstunde und wollte gerade aufstehen, als ich den Wagen zurückkommen hörte. Diesmal fuhr er deutlich schneller. Soweit es mir möglich war, setzte ich meinen Weg über die Felder fort. Irgendwann sah ich einige junge Kühe auf einer kleinen Koppel und entdeckte in der Nähe eine Scheune, in der ich mich auf dem Heuboden versteckte. Ich rieb so lange den Kabelbinder an einer Heugabel, bis das Material nachgab und ich mich befreien konnte. Dann muss ich sofort eingeschlafen sein, denn ich war total ausgebufft. Ich erwachte erst am nächsten Morgen wieder, als zwei Polizisten in die Scheune kamen und meinen Namen riefen. Als ich erfuhr, dass man mich über mein Handy geortet hatte, war ich glücklich, dass ich es vorsorglich in der inneren Gürteltasche meiner Jeans verstaut hatte. Das mache ich immer so, seit mir mein vorheriges iPhone im Gymnasium geklaut wurde. In meiner Panik habe ich während der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, meine Eltern oder die Polizei anzurufen.« Anneke seufzte und trank noch einen Schluck Wasser.