Leise Musik aus der Ferne

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Leise Musik aus der Ferne
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Manfred Eisner



Leise Musik aus der Ferne



Roman



Engelsdorfer Verlag



Leipzig



2013




Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.dnb.de

 abrufbar.



Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig



Alle Rechte beim Autor



Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)





www.engelsdorfer-verlag.de






Inhalt





Cover







Titel







Impressum







Über den Autor







Danksagung







Wie der Zufall so spielt







1. Clarissa







2. Erinnerungen







3. Geisterstunde







4. Alltag







5. Sonntag







6. Gedanken







7. Eintönigkeit







8. Buß- und Bettag







9. Sonnabend







10. Der Ball







11. Tante Alexandra







12. Hausmusik







13. Familiendünkel







14. Aus Clarissas Tagebuch







15. Das Idol







16. Gildefest







17. Abstieg







18. Heiko







19. Aussprache







20. Onkel Suhl







21. Frühling







22. Elend







23. Das Testament







24. Neuanfang







25. Musik aus der Ferne







26. Epilog






Der Autor



Manfred Eisner, Jahrgang 1935, geboren in München, erlebte Kindheit und Jugend als Emigrant in Südamerika und kehrte erst 1957 nach Deutschland zurück. Er studierte Lebensmitteltechnologie im damaligen West-Berlin und war in diesem Beruf bis 1998 als Angestellter und noch bis 2009 freiberuflich als Industrieberater tätig. Er hielt weltweit Vorträge und schrieb zahlreiche Artikel, die – ebenso wie sein bekanntes Fachbuch – in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Seit 1981 wohnt er mit Ehefrau Anke in einer denkmalgeschützten Kate am Elbdeich in Schleswig-Holstein.




Lieber Leser,



es gibt, zweifelsohne, unzählige Liebesgeschichten. Diese hier möchte ich aber erzählen, weil mir sehr daran gelegen ist, dass deren Zeitkulisse noch mal in Erinnerung gebracht wird. Wir erleben leider eine Zeit, in der offensichtlicher Fremdenhass gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern abermals ausbricht. Haben wir denn aus der Geschichte wirklich nichts gelernt?



Mein verbindlicher Dank an meine Familie sowie an alle gleichgesinnten Freunde.




Wie der Zufall so spielt



An jenem kaltfeuchten und nebligen, späten Herbstnachmittag war ich in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes mit hochgeschlagenem Regenmantelkragen neugierig vor einem Plakat am Deutschen Schauspielhaus stehen geblieben, um mir die Übersicht des Spielplans anzusehen. Ganz plötzlich begann es heftig zu regnen und ich suchte rasch Unterschlupf in der ersten offenen Tür, die sich mir in der Nähe bot.



Die feuchte Kneipenwärme schlug sich augenblicklich auf meine Brillengläser nieder. Während ich die Brille mit dem Taschentuch reinigte, sah ich mich in dem von Rauch benebelten Lokal um. Sämtliche Tische waren besetzt und auch an der Theke herrschte reger Andrang. Lesend saß ein einsamer Gast an einem Ecktisch im Hintergrund vor einem halbvollen Bierglas. Ich trat an ihn heran und fragte, ob ich an seinem Tisch Platz nehmen dürfe. Er blickte von dem abgegriffenen, dicken Heft auf und nickte mir freundlich zu.



Ich hängte meinen nassen Regenmantel an einen Garderobenhaken und setzte mich an seinen Tisch. Bei dem schwitzenden Kellner, der gerade eilig vorbeihuschte, bestellte ich ein Alsterwasser. Danach wandte ich mich meinem Tischnachbarn zu, der sich inzwischen wieder seiner Lektüre widmete. Es war ein älterer, grauhaariger Mann. Seine leicht gebräunte Haut ließ den Südländer vermuten. Als ich ihn vorher angesprochen hatte, waren mir die dunklen Augen aufgefallen, die mich mit einem lebhaften Blick unter seinen buschigen, ebenfalls ergrauten Augenbrauen aufmerksam gemustert hatten. Er hatte ein von den Jahren gegerbtes, interessant wirkendes Gesicht und seine Stirn war von tiefen Falten zerfurcht. Diese verliefen so gleichmäßig wie mit einem Pflug auf dem Acker gezogene Gräben. Trotz der muffigen Wärme im Lokal trug er einen leger um den Hals geschlungenen roten Wollschal und einen ziemlich abgetragenen grünen Lodenjanker, unter dem ein dunkelgrüner Rollkragenpullover zum Vorschein kam.



Der Kellner brachte mir das Alsterwasser. Der Mann blickte von seiner Lektüre auf und ich prostete ihm zu. Freundlich lächelnd griff er nach seinem Bierglas und hob es mir entgegen. Hastig trank ich einen langen Schluck.



„Haben Sie großen Durst?“, fragte er mit verständnisvollem Schmunzeln. Seine Stimme war tief und männlich und klang sehr melodisch. Obwohl seine Aussprache durchaus korrekt war, hörte ich einen unverkennbar ausländischen Akzent heraus.



„Oh, ja, sogar einen riesigen!“, gab ich aufrichtig zu und stellte mein Glas auf dem Bierdeckel ab. „Leben Sie schon lange in Deutschland?“



„Schon seit fast fünf Jahren“, erwiderte er, indem er sein Heft zuklappte und es auf den Tisch legte, wohl als freundliches Zeichen dafür, dass er sich gern mit mir unterhalten wollte.



„Sie sprechen sehr gut deutsch“, stellte ich der Höflichkeit halber fest.



„Wissen Sie, ich komme aus Brasilien, aus dem Staate Rio Grande do Sul, wo es schon seit vielen Generationen eine Menge deutschstämmiger Brasilianer gibt. Ich bin dort in einer der kleineren Städte geboren und aufgewachsen, besuchte aber im Ort eine Schule, in der die deutsche Sprache als Wahlfach bis zum Abitur belegt werden konnte. Dafür hat mein Vater gesorgt, denn er hatte eine besondere Vorliebe für deutsche Komponisten und Schriftsteller. Er gab mir sogar einen deutschen, na ja, sagen wir eher, einen fast deutschen Vornamen. Da wir schon bei diesem Thema angelangt sind“, sagte er, indem er sich förmlich erhob und mir seine Hand entgegenhielt, „darf ich mich doch vorstellen: Érico Veríssimo.“



„Welch ein Zufall!“, entgegnete ich vergnügt und ergriff die dargebotene Hand. „Mein Vater hieß ebenfalls Erich.“ Ich stellte mich vor.



„Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß, hier sagt den Leuten mein Name nicht viel. Ich bin Schriftsteller, und in meiner Heimat sogar ein ziemlich bekannter“, sagte er, nicht ohne einen gewissen Stolz.



„Ach“, sagte ich, „das ist ja sehr interessant. Es ist doch für einen Schriftsteller sicherlich sehr beschwerlich, außerhalb seines heimatlichen Sprachgebietes zu wirken. In diesem Zusammenhang fällt mir gerade Stefan Zweig ein. Kurz nach der Machtergreifung durch die Nazis und dem Anschluss Österreichs zog er es vor, Deutschland zu verlassen und fand Zuflucht in Brasilien. Obwohl er dort sein wunderbares Werk ‚Brasil‘ schrieb, als Dank an Ihr Land, das ihm so gastfreundlich Asyl gewährte, konnte er die Trennung von seinem eigenen sprachlichen Umfeld nie verwinden, war voller Heimweh und nahm sich schließlich das Leben.“



„Ja, das war wirklich eine tragische Geschichte. Ich bin ihm leider nicht persönlich begegnet, weil er in Petropolis bei Rio wohnte, sehr weit weg von meiner Stadt. Allerdings war er mir als Autor schon damals bestens bekannt und ich hatte die meisten seiner Novellen und Biografien mit Begeisterung gelesen.“ Er machte eine Pause. „Da gibt es auch eine gewisse Parallelität der Ereignisse“, sagte er dann: „Sehen Sie, auch ich musste leider aus ähnlichen Gründen wie Stefan Zweig meine Heimat verlassen!“

 



„Wieso?“ Ich sah ihn verwundert an. „Wurden Sie etwa auch verfolgt? In Brasilien?“



„Bedauerlicherweise ja! Sicherlich wissen Sie es, mein Land leidet schon seit Jahren unter einer Militärdiktatur. Kaum jemand im Ausland kann es ahnen, wie gemein und brutal diese Schergen jeden verfolgen, der es wagt, gegen ihre Willkür aufzumucken und etwa ihre Schandtaten öffentlich beim Namen zu nennen. Wer nicht kuscht, muss hart darunter leiden! Als Schriftsteller ist man natürlich besonders gefährdet, außer man ist gewillt, sich denen unterzuordnen oder wenigstens folgsam zu schweigen. So musste ich wegen eines recht kritischen politischen Artikels fliehen, den ich in einer der wenigen damals noch erscheinenden, frei denkenden Zeitungen verfasst hatte.“



Mehrfach hatte ich bei seinen Worten zustimmend genickt. Auch mir war hinreichend bekannt, wie wenig zimperlich lateinamerikanische Diktatoren mit ihren Gegnern umzugehen pflegten.



„Glücklicherweise“, setzte er fort, „wurde ich von einem Vetter, einem Polizisten, noch gerade rechtzeitig vor meiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt. In derselben Nacht verließ ich mein Haus und machte mich zu Fuß auf den Weg. Nach einer langen Woche, während der ich mich tagsüber versteckt hielt und nur bei Anbruch der Dunkelheit auf die Straße wagte, überschritt ich heimlich die Grenze zu Uruguay, das ja an den Staat Rio Grande do Sul angrenzt. Dort war ich in Sicherheit! Mir wäre es mit Bestimmtheit sehr übel ergangen, hätten mich diese bösen Buben erwischt!“



Wir schwiegen. Diese Schilderung hatte offensichtlich in ihm die ganze Tragödie seines Schicksals aufgewühlt, denn er schnaufte heftig und aufgeregt. Seine Augen verrieten die aufgestaute Wut und den Hass auf seine Verfolger. Als ob er einen bitteren Geschmack in seiner Kehle wegwaschen wollte, leerte er das Bierglas mit einem Schluck.



Ich tat es ihm gleich. Dann winkte ich den Ober heran und bestellte für uns beide nach.



„Und wie kamen Sie dann hierher?“, fragte ich neugierig. Sein ärgerlicher Blick wich ebenso rasch, wie er aufgekommen war.



„Für einige Monate lebte ich in Montevideo. Dort ergab sich jedoch für mich keine Möglichkeit, Fuß zu fassen. Die dortige Landessprache ist zwar Spanisch, die ich auch spreche und verstehe, da sie dem brasilianischen Portugiesisch ziemlich ähnlich ist.“ Er lächelte: „Wir nennen dort aus Spaß die bunte Mischung aus beiden Sprachen ‚Portuňol‘. Daher beherrsche ich das Kastilianische eben doch nicht gut genug, um in dem Stil, der mir eigen ist, Essays oder Romane zu schreiben. Ich schrieb also zunächst in meiner Muttersprache, fand aber in Brasilien keinen Verlag, der es nach meiner Flucht gewagt hätte, meine im Exil geschriebenen Werke zu publizieren. Anfänglich erhielt ich noch eine kleine finanzielle Unterstützung seitens meiner Familie, aber die hatte es auch ziemlich schwer und so konnte es einfach nicht weitergehen. Damals kam mir der Zufall zu Hilfe, in Form einer Begegnung mit dem Kulturattachée der Deutschen Botschaft. Dieser Herr freute sich sehr, mich kennenzulernen, denn ich war ihm als Autor bekannt. Als er mehrere Jahre an der Botschaft Ihres Landes in Brasilien gewesen war, hatte er einige meiner Bücher gelesen. Mit seiner freundlichen Unterstützung und mit Hilfe des Goethe-Instituts erhielt ich bald darauf ein Stipendium von einer privaten Stiftung für Fortbildung von Künstlern, um in Deutschland für zwei Jahre meine Sprachkenntnisse zu verbessern.“



Er machte eine kurze Pause und wir tranken aus den Gläsern, die uns der Kellner zwischenzeitlich gebracht hatte. Dann fuhr er fort: „So kam ich vor fünf Jahren nach Deutschland. Erst lebte ich in Bonn. Später, nach Beendigung des Studiums, zog ich nach Hamburg. Hier hatte man mir eine Stellung als Übersetzer für Portugiesisch angeboten. Ich kann davon eigentlich gut leben. Ganz bescheiden, keine großen Sprünge, verstehen Sie? Aber ich bin zufrieden. Ein alter Mann wie ich hat keine extravaganten Bedürfnisse mehr!“



„Schreiben Sie noch?“



„Oh, ja, leidenschaftlich gern. Und nicht nur auf Portugiesisch. Weil Sie mich gerade fragen: Sehen Sie, hier“, sagte er, indem er auf das dicke Heft auf dem Tisch deutete: „Ich habe mich sogar schon in der deutschen Sprache versucht!“



„Und was ist es, etwa ein Roman?“, fragte ich gespannt.



Veríssimo nickte lächelnd. „Ja, genau! Ein Roman. Und für mich sogar ein ganz besonderer. Aber ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt interessieren wird.“



„Doch, doch, erzählen Sie, bitte!“, bedrängte ich ihn. Er hatte mich tatsächlich neugierig gemacht.



„Also gut. Die Originalfassung dieses Romans habe ich schon vor vielen Jahren, genauer gesagt im Jahre 1934, in Brasilien geschrieben, um an einem Literaturwettbewerb teilzunehmen. Er wurde prämiert und das Buch wurde sogar ein Erfolg.“ Er machte eine Pause und setzte nachdenklich fort: „Vielleicht wissen Sie, wie es in der Gedankenwelt des Autors einer von ihm verfassten Geschichte geht. Mit der Zeit identifiziert er sich dermaßen mit den Personen seines Werkes, dass diese für ihn an Realität gewinnen, so als ob sie in Wirklichkeit existierten. Er beschäftigt sich mit ihnen derart intensiv, bis sie seine Gedanken vollkommen beherrschen. Er kommuniziert und lebt sozusagen Tag für Tag mit ihnen. So ging es auch mir mit meiner ‚Musica ao Longe‘. Vor etwa einem Jahr kam mir zunächst die Idee, dieses Buch ins Deutsche zu übersetzen. Aber dann fand ich, dass es für den hiesigen Leser wohl kaum besonders interessant sein würde. Die damalige Zeit liegt weit zurück und der Ort und die Hintergründe der Handlung würden hierzulande kaum Anklang finden. Daher ließ ich diesen Gedanken fallen.



Dann geschah plötzlich in meiner Gedankenwelt eine eigenartige Metamorphose: Meine Hauptfiguren, Clarissa und Vasco, spukten immer heftiger in meiner Fantasie herum, und siehe da, eines Tages verwandelten sie sich in Clarissa und Heiko! Und so entstand nach und nach diese ‚Leise Musik aus der Ferne‘.“ Er blätterte in dem abgegriffenen Heft. „Aus dem kleinen Städtchen Jacarecangá im Staate Rio Grande wurde Oldenmoor, irgendwo im Nordwesten Schleswig-Holsteins zwischen Marsch und Geest. Die stolze Sippe der Albuquerques wandelte sich in die herrschaftliche Familie von Steinberg; Seu Locadio Santarem, mein liebenswerter und schalkhafter Pseudoweise, schlüpfte in die Hülle von ‚Onkel‘ Harald Suhl. Aus dem italienischen Bäckersohn ‚Pé de Cachimbo‘ Gamba wurde sein polnisches Konterfei ‚Klumpfuß‘ Rembowski. Den anderen Romanfiguren erging es ebenso.“



Er trank einen Schluck und besann sich für einen Augenblick. Dann fuhr er fort: „Die geänderten Persönlichkeiten, der Umzug aus dem fernen Brasilien in die hiesige Umgebung, eine vollkommen anders geartete Welt, und, vor allem, der rundweg ungleiche zeitlichhistorische Hintergrund, der gerade in dem Deutschland der schicksalhaften neunzehnhundertdreißiger Jahre eine so bedeutende Rolle spielt, verliehen den Figuren und deren Rollen in meinem Roman eine besondere Eigendynamik, die allerdings, wie ich recht hoffen will, dem Charme meiner ursprünglichen Geschichte keineswegs geschadet hat.“



Ich hatte ihm aufmerksam zugehört und war tief beeindruckt. „Könnte ich mir vielleicht das Buch einmal ansehen?“, fragte ich darauf.



„Ich hätte eigentlich nichts dagegen“, antwortete er mit dem ihm so eigenen Schmunzeln. „Doch leider ist meine Handschrift ziemlich unleserlich und dieses Manuskript steckt voller Korrekturen. So ergibt es wirklich keinen Sinn!“



Während der folgenden Pause sah er mich an. Dabei musste er offensichtlich die Enttäuschung, die auf meinem Gesicht geschrieben stand, bemerkt haben, denn er fügte rasch hinzu: „Wenn Sie es aber wirklich möchten, kann ich Ihnen ein wenig daraus vorlesen.“



„Das finde ich sogar noch viel besser!“, sagte ich.



Der Schriftsteller klappte sein Manuskript auf und las mit melodischer Stimme vor.




1. Clarissa



Clarissa zeichnet mit Kreide jene Landschaft auf die Tafel, die ihre Schüler später nachzeichnen sollen. Ein Häuschen mit Tür und Fenstern auf einem Hügel, daneben eine mächtige Esche. Wie bei uns zu Hause, denkt sie im gleichen Augenblick, in dem sie den mächtigen Stamm und die Äste zeichnet. Dazu einen Weg, der sich durch die Landschaft schlängelt, um sich am Horizont zu verlieren. Kreidewölkchen auf dem schwarzen Tafelhimmel, eine runde und fette Sonne mit funkelnden Strahlen, ein kleiner Teich, in dem Enten schwimmen …



Clarissa geht einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Das Murmeln der Stimmen hinter ihr nimmt zu und ebbt wieder ab, wie Orgelmusik. Ein Stuhl fällt um. Explosives Lachen.



„Ruhe!“, ruft die Lehrerin, indem sie sich den Schülern zuwendet. „Passt jetzt gut auf und seht euch das Bild, das ich auf die Tafel gezeichnet habe, genau an.“



Alle Augen richten sich auf das schwarze Rechteck. Ein kleiner Finger zeigt zur Decke.



„Fräulein von Steinberg!“



„Was willst du, Hannes?“



„Wie kommt es, dass das Dach von dem Haus bis in die Wolken hineingeht?“



Gelächter. Clarissa unterdrückt ein Lächeln. „Pst! Ruhe!“, ruft sie streng. Und dann fährt sie mit einer weichen Stimme fort: „Nein, Hannes. Das Dach ragt nicht in die Wolken hinein. Wenn man ein Haus von Weitem ansieht, bekommt man zwar diesen Eindruck, und auch auf Bildern und Fotografien ist es immer auf diese Weise zu sehen. Es kann ja auch gar nicht anders sein.“



Hannes gibt nicht auf. „Warum nicht?“



„Weil es nicht anders geht.“



Eine andere Hand schnellt hoch.



„Was ist, Gisela?“



„Hat das Haus nicht auch einen Schornstein?“



Clarissa lächelt. „Möchtest du, dass ich einen Schornstein hinzufüge?“



Gisela nickt eifrig mit dem Kopf.



„Also zeichnen wir eben einen Schornstein hinzu.“ Sie baut einen Schornstein aus Kreidestrichen auf das Dach.



Noch ein piepsiges Stimmchen: „Es feh’t noch was, Fräu’ein ’ehrerin!“



„Also sag schon!“



„Der Rauch.“



„Ach so. Ja, du hast recht!“ Und bald steigt Rauch aus dem Kamin in die Wolken empor. „Fehlt noch irgendetwas?“



„Es fehlt!“



„Was denn?“



„Eine Kuh.“



Lachen.



Die Lehrerin wirft einen hilflosen Blick auf ihre Schüler.



„Um Gottes willen, Wiebke! Warum willst du denn ausgerechnet eine Kuh auf diesem Bild haben?“



„Weil mir Kühe so gut gefallen.“



„Na gut. Wir zeichnen also noch deine Kuh hinein …“



Sie wendet sich wieder der Tafel zu und fängt an, die Kuh zu skizzieren. Die Schnauze, die Hörner, den Nacken, den Körper, den Schwanz …



„Da fehlt noch etwas, Fräulein von Steinberg!“



„Sag, Jochen, was fehlt?“



„Der Titt!“



Lautes Lachen, Aufruhr.



Clarissa schreit: „Ruuuhe! Jochen, benimm dich!“



Jochen senkt die Augen.



Clarissa bittet um Aufmerksamkeit. „Jetzt schaut euch bitte alle diese Landschaft genau an. Danach werde ich das Bild löschen und jeder von euch wird es in seinem Heft aus dem Gedächtnis nachzeichnen.“ Sie lässt einige Minuten verstreichen. „Achtung, ich lösche jetzt.“



Sie nimmt den Schwamm und die Landschaft aus Kreidestrichen verschwindet in einem weißen Nebel.



„So, und jetzt los, alles zeichnet!“



Sie geht an ihr Pult zurück. Vom Podium aus sieht sie auf ihre Schüler herab, und als sich die kleinen Köpfe über die Hefte beugen, hat sie den Eindruck, als ob eine Vielfalt farbiger Früchte – blond, braun, rötlich und hier und da dunkel – auf den Wellen eines Stromes schwimmen würde.



Welch eigenartiger Vergleich! Früchte! Wer weiß wohl, was einmal aus diesen Kindern wird? Wie viele große Männer und Frauen der Zukunft sitzen hier auf ihrer Schulbank, mit der Bleistiftspitze an der Zunge, eifrig bemüht, die Landschaft aufs Papier zu zaubern, die ihnen das „Fräu’ein ’ehrerin“ auf der Tafel vorgezeichnet hat?



Clarissa versinkt in ihren Gedanken. Helles Licht scheint durch die Fenster. Der Vormittag altert dahin. Ein Kalenderblatt an der Wand verkündet, dass wir heute den 20. September 1931 haben. Eine Weltkarte behauptet, dass die Erde eine Kugel mit abgeflachten Polen sei. Von den anderen Klassen dringen markante Stimmen herüber: Lehrer, die laut sprechen. Die dunkle Stimme von Herrn Möller aus der Fünften, Heikes schrille Stimmlage aus der Zweiten.



Clarissa steigt vom Podium herab und wandert mit den Händen auf dem Rücken durch die Reihen der Schulbänke. Sie gewöhnt sich jetzt langsam an die Kleinen. In den ersten Tagen war es ihr sehr mulmig zumute: Sie stand zum ersten Mal allein vor einer Schulklasse und sie hatte sogar Hemmungen, laut zu sprechen. Sie wurde rot, wenn sie sprach. Diese kleinen Gesichter – einige ernst, andere boshaft oder gehässig, andere wieder anscheinend gleichgültig oder frech und alle insgesamt irgendwie geheimnisvoll – hielten sie stets in Alarmbereitschaft. Sie befürchtete, dass irgend so ein kleiner Lümmel sie beschimpfen würde oder dass sie sich alle weigern würden, ihre Anordnungen zu befolgen.

 



Ihre Ängste schwanden jedoch nach und nach. Jetzt ist sie Herr der Lage – natürlich nicht immer …! Die Namen der meisten ihrer Schüler kennt sie bereits auswendig. Sie mag sie schon sehr, als ob sie ihr gehörten, ihre Brüder und Schwestern, ihre Kinder wären …



Eine schwache Stimme ist zu hören: „Fräulein von Steinberg!“



„Was ist, Beate?“



„Wenn man nicht zeichnen können …“



„Kann, Beate, kann …“



„Wenn ich nicht eine Kuh zeichnen kann, darf ich dafür eine Katze zeichnen?“



„Du darfst.“



Clarissa wandert weiter durch die Klasse. Sie verweilt vor einem Fenster. Wie verschieden ist doch eine wirkliche Landschaft von der, die man mit Kreide auf eine schwarze Tafel malen kann! Unmöglich, den ungewöhnlich blauen Septemberhimmel, die überwiegend noch grünen, aber schon leicht gelblich schimmernden Blätter der Bäume, die dunkle Marscherde, die grünen Wiesen und die Häuser aus roten Backsteinen nur schwarz-weiß wiederzugeben … Aber um bei der Wahrheit zu bleiben: Die von Malern erzeugten Bilder sind manchmal doch sehr viel schöner als die echte Natur, ist es nicht so?



Es vergehen einige Minuten. Clarissa fühlt eine Leere im Magen. Hunger? Ihr Blick wendet sich zur Uhr: halb zwölf.



In ihren Gedanken läuft ein Kurzfilm ab: die Diele im Herrenhaus, der Papa, die Mama, Tante Therese, das Esszimmer, der gedeckte Tisch, die schmackhafte frische Suppe, die das Lenchen in ihrer Küche zubereitet hat.



„Fräulein von Steinberg! Ich kann die Sonne nicht malen … sie wird nicht rund!“



Clarissa setzt sich neben Petra auf die Bank, nimmt ihr den Bleistift aus der Hand und zeichnet in deren Heft eine schöne, runde Sonne auf den Himmel aus kariertem Papier.



Der Unterricht ist für heute zu Ende. Die Schule, denkt Clarissa, gleicht einem riesigen Drachen, der durch das Maul des Hauptportals die Kinder ausspeit, die schreiend in einem Reigen aus farbigen Kleidern herausströmen. Genau wie die Tiere in den Märchen …



Der Drachen aus rotem Backstein mit den zwanzig Augen seiner Fenster wohnt auf einem Hügel. Zu seinen Füßen liegt Oldenmoor in der strahlenden Mittagssonne: Die vielen dunklen Reetdächer, vermischt mit hell- und dunkelroten Dachpfannen, kontrastieren mit dem bereits herbstgefärbten Laub der Bäume, mit den abgeernteten und längst wieder gepflügten Feldern, mit dem Grün der Tannen und Fichten. Die mit Katzenköpfen gepflasterten Straßen sehen aus wie dunkle Narben im Körper der Kleinstadt. Hoch über den Dächern ragt der mit Grünspan überzogene Kirchturm auf dem Marktplatz hervor.



Clarissa wartet auf Heike. Während des Wartens denkt sie nach. Wenn die Felder ein Meer wären – die durch die Entwässerungsfleete durchzogene Marsch besteht eher mehr aus Wasser als aus Land –, dann wäre Oldenmoor eine Insel. Eine verlorene Insel. Ein kleines Eiland mit eigenartigen, komischen Bewohnern. „Onkel“ Suhl, Hein Piepenbrink, Herrn Johansens Tanzkapelle, das Colosseum, der „Bildpalast“ – Herrn Ehlers’ Kino, das Café Petersen am Marktplatz …



Heike unterbricht Clarissas Gedankenausflug: „Wollen wir, Clarissa?“



„Ja, lass uns gehen!“



Gemeinsam gehen sie den Weg von der Schule hinunter in die Stadt. Heike, mit ihrer verbogenen Brille auf der roten, glänzenden Nase, beschwert sich unaufhörlich über ihre Klasse. Diese unruhigen, geschwätzigen, schlecht erzogenen Gören! Nicht zum Aushalten! Sie hat eine metallische Stimme, die sich anhört wie energische, rhythmische Hammerschläge. Sie spricht mit einem autoritären, belehrenden Gehabe, das manchen von denen, die immer unterrichten, so eigen ist. Stets sitzen ihre Strümpfe schief – Wollstrümpfe, dünne Beine, ausgetretene Schuhe. Trotzdem, Clarissa mag sie. Sie ist ihr die liebste ihrer Kollegen. Nicht eingebildet, gerade heraus, einfach. Und außerdem verlangt sie nicht einmal, dass man viel spricht: Sie sprudelt einfach los, und es stört sie nicht im Geringsten, wenn man ihr weder zuhört noch antwortet.



„Das Pensum ist ein Wahnsinn! Das Schuljahr ist viel zu kurz, um das alles zu schaffen!“ Sie spricht mit übertriebenem Staccato, als ob sie unsichtbare Nägel in die Luft einschlagen wolle. „Ich möchte gern denjenigen sehen, der das alles schaffen kann!“



Heike spricht weiter, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, so als ob sie sich bei den Wolken beschweren wolle. Clarissas Gedanken wandern auf eigenen Wegen.



Die beiden Freundinnen biegen in die Deichstraße ein. Mit lautem Geratter fährt ein Automobil an ihnen vorbei. Ein Hund hebt das Bein und hinterlässt flüssige Arabesken an einem Lichtmast. Die Sonne wird von einer dicken Wolke verschluckt. Sie gehen weiter. Die blitzblanken Glasfenster der Häuser glitzern in der Sonne, die jetzt wieder vom blauen Himmel herunterscheint.



„Hast du die neuen Hüte im Modehaus Suhr gesehen?“



Clarissa schüttelt den Kopf: Sie hat nicht. Sollte etwa Heike diese komische neue Mode mögen, mit dem winzigen Kopfteil und den riesigen, weit herabhängenden Krempen, diese Hüte, die man so ganz hoch oben auf dem Scheitel trägt? Nein, nicht möglich! Heike trägt immer nur Baskenmützen. Einfach und billig.



Sie gehen jetzt schweigend nebeneinander her. In der Rathausstraße begegnen sie mehreren Passanten, die man gewohnheitsmäßig grüßt und die ebenso automatisch zurückgrüßen. Gegenüber dem Colosseum steht Frisör Johansen, der auch die Tanzkapelle leitet, vor seiner Tür und blättert in der Lokalzeitung. Sie sind an Heikes Wohnhaus angelangt.



„Tschüss!“



„Tschüss!“



Sie geben sich einen Kuss. Heike hat diese ekelige Angewohnheit, auf den Mund zu küssen. Clarissa muss sich zusammennehmen, um ihren Widerwillen zu verbergen.



In der Kaiserstraße kommt sie am Haus von Harald Suhl – „Onkel Suhl“ – vorbei, das hellbraun getünchte Gebäude mit dem spitzen Giebel, an dessen Obergeschoss der kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün gestrichene Balkon mit den schönen weißen Schwänen hervorragt. Und oben auf dem Dachfirst die Windfahne mit dem dürren, schwarzen Wetterhahn. Wie viele Erinnerungen sind mit diesem Hause verbunden! Als sie noch ein kleines Mädchen war, kam Clarissa eines Abends dort hin, um mit ihren Spielkameraden durch das Teleskop von Onkel Suhl zu schauen, eine von Grünspan überzogene Metallröhre. Der Alte mit seiner brüchigen Stimme gab seltsame Sprüche von sich, die niemand so recht verstand, lutschte ständig Pfefferminz-Pastillen und trug eine kleine Wollmütze auf dem kahlen Kopf.



„Kommt her, ihr dürft durch das Teleskop gucken“, lud er die Bande ein und knurrte wie ein misstrauischer, junger Hund.



Clarissa schaute durch das Okular des Rohres. Onkel Suhl erklärte alles: „Der Mond ist ein Satellit der Erde. Was du da gerade siehst, sind die Krater der erloschenen Vulkane auf der Mondoberfläche …“



Was Clarissa in Wirklichkeit sah, war irgendetwas Weißliches, Undeutliches und Undefinierbares.



„Hast du auch die Berge bemerkt?“, fragte er mit eigenartiger Stimme. „Und auch die Seleniten, die Mondmenschen?“



Clarissa hatte Angst vor Onkel Suhl. Sie bejahte, nur damit er nicht ärgerlich wurde. Aber Vetter Heiko lachte frech in das Gesicht des Alten: „Ach was! Nix ist da zu bemerken! Dein Periskop taugt nix, Onkel Suhl!“



„Du Lump!“, fuhr ihn der Alte an, in einem Ton zwischen Entrüstung und Belustigung.



Sie zuckte zusammen. Was für ein furchtloser Knabe war doch der Heiko. Er hatte tatsächlich den Mut, dem Onkel Suhl zu widersprechen …



Danach stieg die ganze Bande die dunkle Stiege hinab. Aufgescheuchte Mäuse huschten an ihnen vorbei. Auf dem Schreibtisch dieses seltsamen Alten lag ein furchterregender Totenkopf. Clarissa schloss fest ihre Augen und eilte an diesem vorbei. Ach! Dieses obere Stockwerk war doch sehr geheimnis