Im März färbte sich der Frühling braun

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Im März färbte sich der Frühling braun
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Manfred Eisner

IM MÄRZ FÄRBTE SICH DER FRÜHLING BRAUN

Roman

Nili Masal ermittelt (4)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Abbildung ›Der sonnige Wald im März‹ auf dem Titelblatt wird mit freundlicher Genehmigung des Fotografen, Herrn Ronald Nickel aus Rüdesheim am Rhein, wiedergegeben. Die Aufnahme stammt von einer fotografischen Wandertour vom Borderkreuz zum Hundskopf im März 2016.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Nationalismus: Versuch, vor der Zukunft

in die Vergangenheit zu entfliehen«

Prof. Dr. h. c. Manfred Rommel (1928–2013),

ehemaliger CDU-Politiker

und Stuttgarter Oberbürgermeister

»Toleranz ist gut, aber nicht gegenüber den Intoleranten.«

Wilhelm Busch (1832–1908),

Zeichner, Maler und Schriftsteller

»Rassenhass ist nicht nur der Wahn

von hirnverbrannten Ewiggestrigen,

sondern ein strafwürdiges Verbrechen gegen die Menschheit.«

Manfred Eisner (* 1935), Diplomingenieur

Lebensmitteltechnologie i. R. und Autor

Für Peter Petersen

(19302017)

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Motto

Widmung

Vorwort

1. Ein ungelöster Fall

2. ›Hein Gröhl‹

3. Aus Nilis Tagebuch

4. Der Neue

5. Rückblenden

6. Makabre Entdeckung

7. Ein außergewöhnlicher Leichnam

8. Entführung

9. Deutschlands ›Erneuerer‹

10. Strategien

11. Updates

12. Fundorte

13. »Also, geschätzte Mitarbeiter, was haben wir?«

14. Blutige Vergeltung

15. Ausklang

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Weitere Bücher

Anmerkungen

Vorwort

»Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!«, fordert der Marquis von Posa gegenüber dem spanischen König Philip II in Friedrich Schillers Drama ›Don Carlos‹. Gemeint damit ist die Freiheit – in weltanschaulicher und politischer Hinsicht – zu denken, was man will, sowie das Recht, diese Gedanken auch zu äußern. Eine durchaus gewagte Aufforderung in dem von Hohenzollern-König Friedrich-Wilhelm II autokratisch und restriktiv regierten Preußen des Jahres 1787. Freiheit – und das schließt die Meinungsfreiheit ein – endet allerdings gemäß dem sehr alten Zitat eines unbekannten Urhebers dort, wo Freiheit und Rechte des Nächsten beginnen. Diese Menschenrechte eroberten im Laufe der Zeit allgemeine Weltgültigkeit, zumindest in den demokratisch regierten Ländern unseres Globus. Sie lagen ebenso bei der Formulierung unserer Verfassung, dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, zugrunde und sind wesentlicher Bestandteil unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Sollte man wenigstens meinen.

Wider die vernünftige Erwartung, dass der desaströse Zweite Weltkrieg der Welt und vor allem dem deutschen Volk die barbarischen Folgen des Rassenhasses und der hemmungslosen Massentötung von jenen infam stigmatisierten Opfern der ›Endlösung‹ vor Augen führte sowie ihnen eine entscheidende und dauerhafte Lehre gewesen sein sollte, erleben wir bedauerlicherweise heute bei unverbesserlichen Neonazis ein Wiedererwachen dieses widerwärtigen Gedankengutes.

Erst in der sehr späten Folge der systematisch an neun unschuldigen Opfern – acht davon Mitbürger mit Migrationshintergrund sowie eine Polizistin – von den drei Mitgliedern des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) begangenen kaltblütigen Morden besonnen sich allmählich die für deren Ahndung zuständigen Behörden der Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, nach den wahren Tätern zu fahnden und diese zu verfolgen, war man doch anfänglich von der irrigen – weil doch vielleicht bequemeren? – Mutmaßung ausgegangen, dass die Taten von Glaubensgleichgesinnten der Opfer begangen worden seien. Die Option, dass althergebrachtes nazistisches Geistesgut deren wahrer Beweggrund gewesen sein könnte, hatte oder wollte man offensichtlich nicht in Erwägung ziehen, obwohl doch die subversiven Aktivitäten dieser und ähnlich motivierter Elemente längst bekannt gewesen waren und – wie erst viel später unter der drückenden Beweislast zugegeben – die ermittelten Mörder allesamt von den zuständigen Verfassungsschutzämtern sogar längst ›unter Beobachtung‹ standen. Beklagenswert bleibt, dass die rechtspflichtigen Behörden damals weder präventiv noch nach den abscheulichen Taten praktisch nichts unternommen haben! Es war letztlich der spätere Selbstmord von zwei der NSU-Täter, der diese Misere ans Licht und die dritte involvierte Mittäterin endlich vor den Kadi brachte.

Ich habe deshalb die oben angeführten Ereignisse als Leitmotiv für diesen Kriminalroman aufgegriffen und derart dargestellt, wie ich sie mir bei ähnlich motivierten Untaten von unseren Staatsanwälten, Polizeikräften und Gerichten gewünscht hätte. Das geschilderte Geschehen sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig.

Als positiv denkender Mensch bemerke ich gleichwohl mit Genugtuung, dass inzwischen beim größten Teil unserer Bevölkerung sowie in den meisten Mitgliederländern unserer Europäischen Union erfreulicherweise wachsende Ablehnung des neo-rechtsgerichteten Populismus wiedererwacht und dieser widerlichen Strömung die gehörige Absage an den Wahlurnen erteilt wird. Es keimt daher in mir die große Hoffnung, dass man zukünftig diesen dunklen Kräften mit der gebotenen Entschiedenheit entgegentritt und sie nicht tatenlos gewähren lässt! Demokratie und Freiheit sind keine Selbstverständlichkeit und auch nicht zum Nulltarif zu haben! Sie müssen allzeitig von uns allen entschieden verteidigt und, wo immer erforderlich, wiedererobert werden!

Manfred Eisner, im Sommer 2017

1. Ein ungelöster Fall

»Moin, Kollegen!« Fröhlich begrüßt die Teamleiterin der neu geschaffenen Task-Force Sonderermittlungen im Kieler LKA, Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, beim Betreten des ihnen zugewiesenen Arbeitsraumes ihren Partner Kriminalkommissar Robert Zander sowie die neu aus Hamburg hinzugekommene Kollegin, Kriminalkommissarin Margit Förster, die hier erst vor wenigen Tagen ihren Dienst angetreten hat. Auf ihren Schreibtischen türmen sich Aktenordner älterer, noch ungelöster Fälle von sämtlichen LKA-Dezernaten. Sie wurden ihnen in der vorigen Woche vom Hausboten Herrn Siewert auf Veranlassung ihres direkten Vorgesetzten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, zur Bearbeitung gebracht.

»Moin, Nili! Das sind ja leidige olle Kamellen, die uns unser werter Chef Herr Waldi da verabreicht hat!«, lamentiert Robert witzelnd.

 

»Ach nö«, widerspricht ihm die ›Neue‹, »das kann ich nicht unbedingt unterschreiben, Kollege Zander! Ich habe hier einen immer noch unaufgeklärten Fall vorliegen, der es meines Erachtens durchaus wert erscheint, dass wir uns mit ihm befassen!«

»Sie machen mich wirklich neugierig, Frau Kollegin.« Nili lächelt. »Aber lassen Sie uns erst einmal meine neue Errungenschaft ans Stromnetz anschließen, denn ohne einen Becher Kaffee funktioniert meine Denkmaschine nicht. Also, Robert, helfen Sie mir, bitte?«

Gemeinsam packen sie das kürzlich erstandene Wundergerät aus, das die jeweils exakte Menge Kaffeebohnen für jeden Becher abmisst und frisch gemahlen dem Dampfstrahl zuführt, der das aromatische Gebräu extrahiert. Auch Margrit Förster beteiligt sich an der Endmontage des Gerätes und füllt den Wasserbehälter.

Nili schaltet die Heizung für das Wasser ein. »Ich hoffe, auch Ihnen schmeckt meine Lieblingskaffeemarke«, meint sie, während sie eine Tüte Darbovens Idee Classic öffnet und die duftenden gebrannten Bohnen in den Trichter rieseln lässt. Durch ein patentiertes Behandlungsverfahren vor der Röstung sind die Bohnen sehr magenfreundlich, büßen allerdings weder ihren anregenden Koffeingehalt noch das Aroma ein. Übrigens: Um die Milch für den Kaffee gekühlt zu halten, habe ich bereits einen kleinen Kühlschrank beantragt.« Nili holt ihren Becher mit dem geschwungenen roten Aufdruck ›Mi querido Tinto‹ und stellt ihn unter die Auslauftülle des Gerätes. Schließlich drückt sie die Taste mit dem Becherlogo. Es dauert einige Sekunden, dann portioniert und mahlt der Apparat den Kaffee und presst die gemahlenen Bohnen zusammen. Wenig später zischt es, und kurz darauf fließt das braune Getränk dampfend in Nilis Becher.

»Was bedeutet die Aufschrift? Spanisch?«, fragt Robert und deutet auf ihren Becher.

»›Mein geliebter Tinto‹, sinngemäß der Kaffee, wie ihn die Kolumbianer liebevoll nennen und in Unmengen genießen. Ich bekam ihn als Andenken von Sandra, eine liebe Kollegin, mit der ich dort im vorigen Jahr zusammen mit Oberstaatsanwalt Harmsens Tochter Kitt auf Banditenjagd war, um geheime Kokaplantagen und Kokainhersteller aufzuspüren. Aber das ist eine längere Geschichte, vielleicht ein anderes Mal. Sobald jeder seinen Becher Kaffee hat, wollen wir uns jetzt lieber den Fall näher ansehen, der Kollegin Försters besonderes Interesse geweckt hat.«

Während sie genüsslich am frisch gebrühten Kaffee nippen, trägt Margrit aus der Akte vor. Es ist schon fast ein Jahr her, seit die achtzehnjährige Gymnasialschülerin Heide Mertens spurlos verschwunden ist. Ein eigentlich hübsches, blondes Mädchen, das mit blauen Augen vom herumgereichten Bild strahlt, wären da nicht die vielen kleinen Ringe und anderes Gedöns an Nase, Lippen und Ohren, mit dem sie ihr Gesicht piercen ließ.

»Warum sich die jungen Leute von heute so etwas antun, ist mir schleierhaft«, wundert sich Robert.

Margrit berichtet weiter, dass Heide von ihrer alleinerziehenden Mutter und ihren Lehrern als eine nette und fröhliche junge Deern beurteilt wurde, deren baldigem Abi dank eines passablen Notendurchschnitts nichts mehr im Wege gestanden habe. Die vom Vater kurz nach Heides Geburt geschiedene Mutter Anna Mertens ist Frisörin in einem Salon in der Innenstadt. Im dritten Stock eines Wohnhauses wohnt sie in einer eigenen kleinen Zweieinhalbzimmerwohnung, die sie nach dem Tod ihres Vaters, ein eingefleischter Gewerkschaftler und SPD-Mitglied, mit der kleinen ihr hinterlassenen Erbschaft gerade noch finanzieren kann. Vom Gatten Eike Mertens, ein arbeitslos gewordener Arbeiter des ehemaligen Alsen Zementwerks, trennte sie sich, nachdem dieser in die üble Gesellschaft von krawalligen Kumpanen aus dem rechten Spektrum geraten, zunehmend dem Alkoholgenuss verfallen und wenig später an Leberzirrhose verstorben war. Sportlich betätigte sich Heide seit der frühen Jugend beim Fechtverein im Steinburger Sportklub und konnte dort einige Erfolge feiern und Trophäen gewinnen. Ihre Fechtausrüstung hatte sie sich von den zusammengesparten Trinkgeldern gekauft, die sie in den Ferien und an den Wochenenden in einem Eiscafé in der Innenstadt bekam. Mit ihrer schönen Altstimme bereicherte sie einen Gospelchor, mit dem sie gelegentlich auf Konzerttourneen in der Umgebung auftrat. Laut Aussage ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler war sie eine stets hilfsbereite und sportlich begeisterte Schulkameradin, gut gelaunt und allseits beliebt, immer gefällig, wenn man sie um Unterstützung bat.

»So weit zum Hintergrund der vermissten Person«, resümiert die Kriminalkommissarin. »Über ihr unerklärliches Verschwinden nur noch Folgendes: Seit jenem frühlingshaften ersten Schultag nach den Osterferien war Heide nicht mehr am Kaiser-Karl-Gymnasium zum Unterricht erschienen. Laut ihrer Mutter, die daraufhin eine Vermisstenanzeige erstattete, war sie mit einer Freundin namens Marianne, der Mutter allerdings nicht bekannt, über die Ferien nach Sylt gefahren, wo die beiden Mädels angeblich eine Stelle als Serviererinnen in einem Strandimbisslokal angenommen hatten. Die Mutter berichtete, sie hätte am Tag nach der Abreise eine SMS von Heide bekommen, in der sie schrieb, sie sei gut angekommen und alles wäre okay. Die polizeilichen Ermittlungen verliefen im Sande, da man weder Spuren von besagter Marianne oder Heide noch von einer Bahnfahrt der beiden oder des von ihr genannten Lokals auf der Insel ausmachen konnte.«

»Wahrlich seltsam, da haben Sie recht, Frau Kollegin. Sonst nichts Brauchbares in der Akte?« Nili schaut ihre Kollegin fragend an.

»Nicht wirklich. Nach mehr als sechs Monaten der ergebnislosen Suche ordnete Staatsanwalt Dr. Uwe Pepperkorn im Einklang mit der Oberstaatsanwaltschaft an, die Soko Mertens aufzulösen und die Akte bis auf Weiteres ruhen zu lassen.«

»Wer war in Itzehoe der Leiter der Soko? Wohl doch nicht unser werter Bekannter ›Hein Gröhl‹?«, fragt Robert Zander mit vielsagendem Grinsen.

Nili lächelt ihn an.

Margrit sieht nach. »Hier wird ein leitender Kriminaloberrat Werner Thumann genannt, der allerdings kurz darauf in den Ruhestand getreten ist und nachfolgend von einem Kriminaloberrat Heinrich Stöver – etwa Ihr Hein Gröhl? – ersetzt wurde. Ansonsten werden die beiden Kripokommissare Gehrke und Neumann erwähnt, die ebenfalls mit dem Vermerk ›in den Ruhestand versetzt‹ gekennzeichnet sind. Dann werden da noch KK Sven Müller und KK Thies Kreyens von der Kieler Bezirkskriminaldirektion genannt. Sie haben die Itzehoer Riege verstärkt.«

»Aha, also dann rufe ich gleich mal die Kollegen von der Moko II an, die kenne ich. Sie wurden inzwischen zu Oberkommissaren befördert.« Nili greift zum Telefonhörer. »Die beiden waren auch zeitweise an der gemeinsamen Bearbeitung des Mordfalles Thomas Greve beteiligt und halfen bei der Aufdeckung der dunklen Machenschaften des Tiedemann-Clans.1 Robert, Sie kennen ja KOR Stöver von unserem letzten Fall. Würden Sie bitte bei ihm nachfragen, ob er sich noch an wesentliche Einzelheiten erinnert?«

Als er nickt, wählt sie eine Nummer und wartet.

»Moin, Kollege Kreyens, hier ist Nili Masal vom LKA. Wie geht es Ihnen?« Nach der Begrüßung erklärt Nili dem Oberkommissar der Mordkommission II in der Kieler Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße den Grund ihres Anrufs. »Wir sind eine neu gegründete Sektion im LKA und wurden mit der erneuten Bearbeitung ungelöster ›cold cases‹ beauftragt – also jene leidigen, mangels Ermittlungserfolgen unerledigt gebliebenen und ›erkalteten Fälle‹, die noch immer in den Archiven schlummern. Wir sind da auf einen Fall gestoßen, an dem Sie und Ihr Kollege Müller beteiligt waren. Sicher erinnern Sie sich an das Verschwinden des Mädchens Mertens im vorigen Jahr. Würden Sie und KOK Müller uns bald besuchen? Mein Team ist sehr daran interessiert, aus erster Hand zu erfahren, was Sie uns berichten können.« Sie lauscht den Worten des Kollegen Kreyens. »Gut, passt auch, dann treffen wir uns eben heute zum Mittagessen in Ihrer Kantine. Schönen Dank für die Einladung und bis dann!« Sie legt auf und blickt hinüber zu Robert, der gerade telefoniert.

»Danke für die Auskunft, Herr Kriminaloberrat. Ich gebe es an Frau Masal weiter.« Robert Zander beantwortet Nilis und Margrit Försters fragende Blicke mit bedauerndem Kopfschütteln. »Hein Gröhl hat damals gerade KOR Thumann ersetzt, als der Fall zu den Akten gelegt wurde. Er wurde kurzfristig von Eutin in die Bezirksinspektion nach Itzehoe versetzt, um für Thumann einzuspringen, der einen Herzinfarkt erlitten hatte. Da auch die anderen beiden Beamten inzwischen nicht mehr im Dienst sind, ist wohl kaum noch jemand in der Großen Paaschburg tätig, der über diesen Fall etwas Dienliches aussagen kann. KOR Stöver hat aber versprochen, auf jeden Fall bei seinen Leuten herumzufragen, und meldet sich gegebenenfalls wieder. Ich soll seine besten Grüße an die Frau Kriminalhauptkommissarin ausrichten!«

»Na denn«, sagt Nili, »lasst uns hoffen, dass wir beim Mittagessen von Kreyens und Müller mehr erfahren!«

*

»In der Tat, ein sehr mysteriöser Fall. Ich habe es außerordentlich bedauert, dass wir mangels brauchbarer Spuren und wegen zweier gleichzeitiger Mordfälle die Beamten abziehen und den Fall bisweilen zurückstellen mussten!« Staatsanwalt Dr. Uwe Pepperkorn – damals in Itzehoe zuständig und heute bei der Staatsanwaltschaft in Kiel tätig – hat sich am Mittagstisch in der Polizeikantine der Blumenstraße zu der Beamtenrunde gesellt, die sich gerade dem Fall Heide Mertens zugewendet hat. Während der Unterhaltung machen sich die Herren an das heutige deftigere Tagesgericht, Rübenmalheur mit Kochwurst und Schweinebacke. Die beiden Frauen haben sich von der Salattheke den Cäsar-Salat mit Putenstreifen geholt. Aus den Schilderungen der beiden Moko-Kollegen und des Staatsanwaltes erfahren sie einige Details, die sie den Akten nicht entnehmen konnten.

»Heides Mutter muss ziemlich streng gewesen sein und hat ihre Tochter wohl an der kurzen Leine gehalten«, bemerken die beiden KOK Müller und Kreyens einvernehmlich. Heide hätte einer Schulfreundin anvertraut, dass sie wegen Kopfschmerzen und Verdauungsstörungen keine Antibabypille vertrage und ihre Mutter ihr deswegen den Umgang mit jungen Männern verbiete, weil sie panische Angst habe, dass sie schwanger würde.

»Na ja, Grund genug für so ein Mädel, Ausreißversuche zu wagen!«, bemerkt Nili.

»Irgendwelche heimlichen männlichen Freundschaften bekannt?«, fragt Robert.

»Es wurde nichts in diesem Sinne aktenkundig«, erwidert der Staatsanwalt. Die beiden Moko-Beamten bestätigen die Aussage mit einem Nicken.

»Sie hat’s aber sicherlich nicht ausgeschwitzt!«, wagt sich Margrit Förster hervor. »Ich war als Teenager ein ebenso bemitleidenswerter Fall von väterlicher und mütterlicher streng angeordneter Keuschheit und habe es dennoch geschafft, diese mit List zu hintergehen. Meine Eltern waren besondere Anhänger der körperlichen Ertüchtigung – ausgesprochene ›Mens sana in corpore sano‹-Freaks –, und da ich eine gute Schwimmerin war, verordneten sie mir dreimal in der Woche den obligatorischen Gang in die Ohlsdorfer Schwimmanstalt. Neben einem professionelleren Schwimmstil hat mir der damalige Trainer auch anderweitige Geschicke beigebracht, allerdings erst, nachdem ich ihn dazu ermuntert hatte.«

»So eine Schlimme waren Sie also!« Dr. Pepperkorn schmunzelt. »Ich frage lieber nicht nach dem Namen des Trainers, von wegen Unzucht mit Abhängigen!«

»Wäre auch mit Sicherheit verjährt, lieber Herr Doktor!«, meint Nili. »Aber ich denke, die Kollegin Förster hat uns mit ihrer jugendlichen Anekdote einen wichtigen Anstoß gegeben. Wenn ich es richtig erinnere, war Heide Mertens doch im Fechtklub sehr aktiv und auch erfolgreich. Wurde diese Umgebung ausreichend durchleuchtet? Ich meine, vielleicht hat sie dort eine nähere Freundschaft oder Beziehung gepflegt.«

»Darüber ist uns nichts bekannt geworden, sorry!«, bemerkt Müller.

»Habt ihr das auch wirklich hinterfragt?«, hakt Staatsanwalt Pepperkorn etwas scharf nach.

Kreyens und Müller sehen sich an und Letzterer antwortet: »Wir beide waren nicht persönlich im Fechtklub. Soweit ich weiß, hat das der damalige Soko-Leiter Thumann selbst erledigt, noch bevor wir zu seiner Gruppe hinzubeordert wurden.«

»Gut, dann übernehmen wir das!«, beschließt Nili. »Jedenfalls danken wir Ihnen für diese Aussprache. Wir haben nun zumindest einen losen Faden, an dem wir anknüpfen können!«

*

»Guten Tag, Herr Schindler. Nett, dass Sie uns sofort empfangen. Das hier ist Kriminalkommissarin Margrit Förster und ich bin Kriminalhauptkommissarin Nili Masal. Wir sind vom Team Sonderermittlungen des LKA und recherchieren erneut im Fall der vermissten jungen Frau Heide Mertens, die ja aktives Mitglied Ihres Fechtklubs gewesen ist.«

 

»Guten Tag, meine Damen. Ich kann von mir sagen – und spreche vermutlich für alle hier –, dass ich sehr dankbar bin für diesen erneuten Anlauf der Polizei. Es wird Zeit, dass der Verbleib unserer geschätzten Heide endlich aufgeklärt wird!« Arnold Schindler, seines Zeichens Abteilungsleiter im Steinburger Sportklub, ist ein gereifter und athletisch anmutender Zweimetermann Anfang vierzig mit freundlich blickenden braunen Augen und einem kahl rasierten Schädel.

»Können Sie uns Näheres über die vermisste Person erzählen? Ich meine, was hat sie hier bei Ihnen so getan, wer waren ihr Trainer, ihre Sportfreunde und -freundinnen? Hat es neben dem Fechten noch andere soziale Aktivitäten gegeben, an denen Heide beteiligt war? Uns interessiert ganz besonders ihr soziales Umfeld.«

Arnold Schindler nickte. »Meine Frau Brigitte war ihre Trainerin und kann Ihnen sicherlich mehr Details nennen als ich, sie hat sie ja direkt betreut. Ich habe ihr schon gesagt, dass Sie kommen, sie wird gleich hier sein. Aber ich wundere mich doch sehr, denn all diese Fragen wurden uns schon damals von Ihrem Kollegen von der Kripo gestellt, von Herrn Ober…«

»Thumann vielleicht? Meinen Sie den? Der Herr Kriminaloberrat erlitt leider kurz darauf einen schweren Herzinfarkt und ist aus dem Dienst ausgeschieden.«

»Ja, Thumann, so hieß er. Dem haben wir alles genau erzählt und er hat es sich in seinem kleinen schwarzen Büchlein aufgeschrieben. Aber jetzt, wo Sie das sagen …«

Die Tür öffnet sich. Eine Frau mit langen blonden Haaren tritt ein. Sie trägt ein eng an ihren schlanken Körper anliegendes weißes Fechtdress.

»Hallo, Schatz. Lieb, dass du kommst!« An die beiden Kommissarinnen gewandt sagt Arnold Schindler: »Darf ich vorstellen: meine Frau Brigitte …«, sein Blick schweift zurück zu der Blonden, »die beiden Damen vom LKA in Kiel.« Er wendet sich wieder dem Thema zu: »Also, wenn der damalige Leiter der polizeilichen Untersuchung kurz darauf aus gesundheitlichen Gründen ausfiel, dann wundert mich das nicht …« Er hält inne. »Na ja, langer Rede kurzer Sinn: Ich überlasse das Feld meiner Frau, die Ihnen sicherlich weiterhelfen kann. Auf Wiedersehen, meine Damen, und hoffentlich dieses Mal viel Erfolg!« Nachdem Nili und Margrit Förster sich vorgestellt und sich ausgewiesen haben, wiederholt Nili die Fragen.

Brigitte Schindler nimmt Platz und erzählt: »Heide war eine äußerst begabte, agile und wendige Säbelfechterin. Wir hatten sie hier im Verein seit ihrem neunten Lebensjahr. Sie war sehr eifrig und erzielte von Anfang an gute Erfolge in Wettkämpfen. Auch menschlich war sie eine sehr ausgeglichene und sympathische Kameradin, allseits beliebt und geschätzt. Ich kann nicht erinnern, dass sie überhaupt einmal unangenehm auffiel. Soziale Veranstaltungen außerhalb der sportlichen Wettbewerbe? Ja, da gibt es bei uns einige. Unser Klubbasar, die Weihnachtsfeier und zwei- oder dreimal im Jahr die Vereinsdisco für unsere Mitglieder – nein, eine Band können wir uns nicht leisten, da sorgen Diskjockeys für die Tanzmusik.«

Nili fragt nach befreundeten Klubkameradinnen.

»Am besten, Sie kommen morgen Abend wieder«, sagt Brigitte Schindler, »da trainiert ihre Gruppe. Sie können die Mädels ja selbst fragen.« Auf Nilis Nachfragen hin sagt sie: »Nee, ich kann nicht bestätigen, dass der Herr Kommissar sie hierzu befragt hat. Wenn überhaupt, dann sicherlich nicht hier im Hause, daran würde ich mich erinnern.«

Bevor sich Nili und Margrit Förster für die Auskünfte bedanken und von Brigitte Schindler verabschieden, sagt diese ihnen zu, ihnen die erbetene Liste der Vereinsmitglieder an das LKA zu faxen. Nili folgt einem instinktiven Geistesblitz: »Bitte auch die Namen und Anschriften der Diskjockeys und Cateringfirmen, die Sie für Ihre Veranstaltungen engagiert haben.«

*

Auf der Rückfahrt nach Kiel ziehen die beiden Frauen einige Schlussfolgerungen aus den soeben erhaltenen Informationen.

»Nicht zu glauben, dass von der Befragung, die Thumann angeblich durchgeführt haben soll, kein Sterbenswörtchen in der Akte zu finden ist!«, lamentiert Margrit.

»Das stimmt«, gibt Nili ihr recht. »Mich hat das auch gewundert. Könnte aber sein, dass Thumanns Herzinfarkt dazwischenkam. Fragt sich nur, wo das kleine schwarze Büchlein abgeblieben ist, von dem Herr Schindler sprach. Ich werde Kriminaloberrat Stöver danach fragen, vielleicht befindet es sich noch im Archiv der Großen Paaschburg. Am besten, ich bitte ihn, mich morgen Abend bei der Befragung der Mädels zu begleiten. Ich will dem nicht vorgreifen, aber mir schwant, dass wir auf Frau Schindlers Liste sehr wahrscheinlich jemanden finden werden, der mehr als wir über das Verbleiben Heides weiß!«

*

Am Abend treffen sich Nili und – wie man heute so sagt – der Mann an ihrer Seite in ihrem Stammlokal Taverna Syrtaki bei Georgios und Marita ganz in der Nähe ihrer Wohnung – quasi ›um die Ecke‹. Nili und ihr direkter Vorgesetzter, der Erste Kriminalhauptkommissar Dr. Walter Mohr, seines Zeichens stellvertretender Leiter des Dezernats 21 beim Kieler LKA, zuständig für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität, sind seit einigen Monaten ein Paar.

»Ich kann euch heute unsere leckere Moussaka nach dem Spezialrezept von Maritas Großmutter empfehlen«, rät ihnen der Wirt.

Waldi sieht Nili fragend an.

Nili nickt begeistert. »Schmeckt wirklich einmalig gut, sollten wir bestellen!«

»Endaksi, lieber Georgios«, sagt Waldi zum Wirt, »das geht in Ordnung. Und bring uns bitte gleich auch noch eine Karaffe deines köstlichen roten Kamares und dazu eine große Flasche San Pellegrino, ich habe nämlich einen Riesendurst.«

Georgios lächelt und geht davon.

»Na, mein Schatz, wie war dein Tag?«, fragt Waldi seine Liebste.

»Ach, Waldi, da hast du uns aber eine Berglawine alter Kamellen beschert! Aber stell dir vor, unsere neue Kollegin hat aus diesem Wust bereits einen hochinteressanten Fall herausgepickt und wir sind schon voll darauf abgefahren!« Ausführlich berichtet sie von ihren heutigen Aktivitäten.

»Da habt ihr euch tatsächlich eine harte Nuss herausgepickt.« Waldi zieht eine Augenbraue hoch und überlegt. »Ich kann mich dunkel an diesen Fall erinnern, er hat damals eine Menge Schlagzeilen gemacht. Und wenn überhaupt jemand etwas zur Aufklärung des Falles herausfindet, dann sicherlich du und dein Team, mein Schatz! Und nun lass uns darauf diesen guten Schluck trinken – evkaristo Georgios! Jamas, liebe Nili!« Mit einem fröhlichen Blick bedankt sich Waldi beim Wirt, der gerade Wein, Mineralwasser und Knoblauchbrot sowie ein Schüsselchen Tzatziki an den Tisch gebracht hat, und prostet Nili zu.

Während sie die leckere Moussaka verspeisen, erfährt Waldi weitere Details von den heutigen Recherchen. »Was mutmaßt du, Nili, was könnte der Deern passiert sein?«

»Also, zunächst sind Kollegin Förster und ich uns einig, dass sehr wahrscheinlich eine heimliche Liebschaft dahintersteckt. Das mit der Servierstelle auf Sylt war nur ein Vorwand, um mit ihrem Galan wo auch immer zwei ungestörte Liebeswochen verbringen zu können. Auch die angebliche Freundin namens Marianne existiert mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ebenso wenig wie das Strandlokal auf Sylt. Aber da fällt mir gerade etwas ein.« Nili macht eine Pause, legt Messer und Gabel an den Tellerrand und sieht ihrem Geliebten in die Augen. »Was wäre, wenn …?«

»Was meinst du, Nili? Sag’s doch einfach!«

»Na ja, ich denke gerade daran, ob nicht vielleicht auch ihr Mister Unbekannt ebenso wie sie seit damals vermisst wird.«

»Du meinst, beide könnten …?« Waldi überlegt kurz und sagt dann: »Ja, das könnte passen! Wirklich ein brillanter Gedanke, Nili! Kompliment!«

*

Als der ›NDR Info‹-Sprecher um sechs Uhr in der Früh die ersten Nachrichten des Tages vorliest, liegen Waldi und Nili eng umschlungen im Bett. Verärgert dreht Nili den Wortschwall ab und kuschelt sich wieder an Waldis Brust.

»War mal wieder traumhaft, mein Liebster! Warum geht so eine Liebesnacht immer so rasch vorbei?«

»Nützt nichts, Nili, ich muss auch raus. Und du hast heute Morgen deinen Termin am Schießstand, nicht wahr?« Er richtet sich auf und schwingt die Beine aus dem Bett. »Lass uns aber zuerst Maritas üppige Moussaka beim Joggen wieder etwas abspecken!«

*

Eine Stunde später stehen die beiden unter der wiederbelebenden heißen Dusche. Mit einem schrillen Juchzen quittiert Nili den plötzlichen eiskalten Wasserguss, der aus der Brause auf sie herniederströmt, denn Waldi hat beherzt den Hebel der Mischbatterie herumgedreht.

»Du bist ja brutal!«, beschwert sie sich lachend und flieht eilig aus der Duschkabine, um sich abzutrocknen.

»Ist aber nötig, von wegen Erkältungsvorbeugung!«, erwidert Waldi fröstelnd, während er mannhaft den kalten Erguss über sich ergehen lässt.

Nachdem sie ein schnelles Frühstück zu sich genommen haben, gehen sie gemeinsam in die Tiefgarage. Wortlos geben sie sich einen langen Abschiedskuss. Waldi steigt sodann in seinen Dienstpassat, Nili in ihren grünen Cross Polo.

*

Das Sonderermittlungstrio trifft sich heute am Schießstand. Es ist das erste Mal, dass sie diese vorgeschriebene Prozedur gemeinsam absolvieren. Sie erweisen sich als treffsichere Schützen.

»Hoffen wir nur, dass wir niemals in die Verlegenheit kommen, mit unseren Waffen auf Menschen schießen zu müssen«, kommentiert Margrit die lobenden Worte des Schießwartes.

»Mussten Sie jemals Ihre Dienstwaffe benutzen, Nili?«, fragt Robert.