Ehrenmord ist kein Aprilscherz

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Ehrenmord ist kein Aprilscherz
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Manfred Eisner

EHRENMORD IST

KEIN APRILSCHERZ

Roman

Nili Masal ermittelt (5)

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die Abbildung ›Veiled-unveiled muslim woman‹ des Titelumschlags wird mit freundlicher Genehmigung der Fotografin, Mme. Sylvie Bouchard, St-Bruno Lac-St-Jean, Quebec, Canada, wiedergegeben.

(www.wix.com/miragefoto/web).

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

www.engelsdorfer-verlag.de

»Mord ist nach islamischem Verständnis nicht nur ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern auch ein Verbrechen gegen Gott …

Was im patriarchalischen Sinne als Ehre und Schande gilt, ist nicht aus dem Koran ableitbar, sondern vielmehr von bestimmten Traditionen und soziokulturellen Wertvorstellungen bestimmt … Es soll hier keinesfalls bestritten werden, dass es islamisch geprägte Familien gibt, die ihre Töchter und Söhne zwangsweise verheiraten und vor dem Hintergrund eines archaischen Ehrbegriffs Verbrechen begehen, sondern vielmehr unmissverständlich und deutlich klargestellt werden, dass der Islam weder Zwangsverheiratung noch Mord oder Selbstjustiz legitimiert. Beides ist aus islamischer Perspektive ein Verbrechen und muss entschieden bekämpft werden …«

(Auszüge aus einer Pressemitteilung der Schura Bremen e. V., 2017)

Einige der Tötungsbefehle des allvergebenden und barmherzigen Allahs aus dem Koran [Rechtleitung für die Gottesfürchtigen]:

Sure 8, Vers 12: »Da gab dein Herr den Engeln ein: »Ich bin mit euch; so festigt denn die Gläubigen. In die Herzen der Ungläubigen werde Ich Schrecken werfen. Trefft sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab!«

Sure 2, Vers 191: »Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn die Verführung zum Unglauben ist schlimmer als Töten.«

Sure 33, Vers 61: »Verflucht seien sie! Wo immer sie gefunden werden, sollen sie ergriffen und rücksichtslos hingerichtet werden.«

Sure 47, Vers 34: »Wahrlich jene, die ungläubig sind und die sich von Allahs Weg abwenden und dann als Ungläubige sterben – ihnen wird Allah gewiss nicht verzeihen. … Und Allah ist mit euch, und Er wird euch eure Taten nicht schmälern.«

(Quelle: www.islam.de – die offizielle Homepage des Zentralrats der Muslime in Deutschland).

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Lessings ehrenvolle Irrung

1. Rätselhafter Cold Case

2. Amina

3. Ein frohes Wiedersehen

4. Außergewöhnliche Lagebesprechung

5. Vielversprechende Spuren

6. … führen endlich zum Tatort

7. Habiba

8. Aus Nilis Tagebuch (und was zwischendurch auch noch geschah!)

9. Bedrohliches Unheil

10. Die Schlinge wird enger

11. Irrgarten

12. Ermittlungspuzzle

13. Wochenende

14. Indizienjagd

15. Halali

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Weitere Informationen

Anmerkungen

Vorwort: Lessings ehrenvolle Irrung

In seinem 1779 entstandenen und weltbekannten dramatischen Gedicht ›Nathan der Weise‹ nutzt der namhafte Dichter der deutschen Aufklärung Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) ein Gleichnis, das ursprünglich aus dem ›Decamerone‹ des Italieners Giovanni Bocaccio aus dem 14. Jahrhundert stammt: die berühmt gewordene ›Parabel der drei Ringe‹. Vom osmanischen Sultan Saladin im vor Kurzem von den Kreuzrittern eroberten Jerusalem befragt, welcher denn – Islam, Christen- oder Judentum – für ihn der ›wahre Glaube‹ sei, antwortet der Jude Nathan mit der Erzählung des vermögenden Vaters dreier Söhne, die er gleicherweise liebt und deswegen beim Juwelier – anstatt des gemäß der Familientradition einzigen an den vorausbestimmten Erben – drei identisch aussehende wertvolle Ringe anfertigen lässt und jeden der Söhne gesondert damit beschenkt. Als der Vater stirbt, meint deshalb ein jeder der drei Söhne, der alleinige Erbberechtigte zu sein. Sie geraten darüber in erbitterten Streit und gehen vor Gericht. Der Richter urteilt, dass keiner der drei Ringe – da sie alle absolut gleich aussehen – als der wahre Erbring erkennbar sei und sie deswegen das Erbe gleichermaßen unter sich zu teilen haben. Den Zank der Brüder deutet der Dramatiker als den Streit um die Frage, welche der drei die einzig wahre Religion sei, und folgert, dass doch alle vom selben Gott stammen. Deswegen sei die Deutung einer einzig gültigen Wahrheit sinnlos und jeder müsste demnach seine Religion gleichwertig und ohne Präjudiz ausüben dürfen.

Ein derart hochherziger Gedanke stieß gleichwohl bereits bei seiner Veröffentlichung – und dieser Zustand hat sich bedauerlicherweise bis in unsere Tage um keinen Deut geändert – auf geharnischten Widerstand seitens der orthodoxen Eiferer der beiden missionierenden Hauptreligionen: Christentum und Islam. Im Gegensatz zu diesen zwei wird man den Israeliten nicht vorhalten können, Proselytismus zu betreiben; eher ist das Gegenteil der Fall.

Christliche Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Metropoliten und protestantische Reformer aller Couleur sowie muslimische Sultane, Muftis, Mullas und Ayatollahs – alle, wie sie da waren, beharrten stets auf die ›einzige Wahrheit‹ des eigenen Glaubens und scherten sich nicht einmal in deren Namen, die Herzen ihrer Adepten gegen Andersgläubige aufzuhetzen und in Brand zu setzen, ja sogar sie zu den furchtbarsten Verbrechen gegen ›Heiden, Ketzer und Ungläubige‹ anzustiften. Die gewalttätige Ausbreitung des Islam durch das ›Schwert Allahs‹, Kreuzzüge, Inquisition, Dreißigjähriger Krieg, Zwangskonversion oder Austreibung, Gettozwang, brutalste Pogrome, vernichtende Judenverfolgungen sowie die Nordirland- und Jugoslawienkriege sind als die markantesten Beispiele erbarmungsloser und menschenverachtender Übergriffe auf Andersgläubige zu nennen. Aber nicht nur zwischen den drei monotheistischen Religionen gab und gibt es Zwist, Hass und Mord: Wohlwollend sah der Papst in Rom zu, als die Osmanen unter Mehmed II. anno 1453 die ungeliebte byzantinische christliche Ostkirche niederzwangen, Konstantinopel eroberten und dabei die ehemalige Sophienkathedrale als ihre Hagia Sophia Hauptmoschee etablierten. Die ›Heilige Wahrheit‹, seit 1934 zum Museum als repräsentatives Beispiel der byzantinischen Baukunst gewandelt, soll übrigens gemäß dem Willen des türkischen Präsidenten Erdogan [rückwärtsgewandter geht’s wohl nicht mehr!] wieder in eine Moschee umfunktioniert werden. Nach der Reformation durch Martin Luther lieferten sich Katholiken und Protestanten dreißig Jahre lang heftige und blutige Schlachten, wohlgemerkt im Namen desjenigen, der Nächstenliebe als das zweitwichtigste Gottesgebot predigte. Obwohl mittlerweile in Nordirland ein brüchiger Waffenstillstand herrscht, fetzen sich beide Konfessionen insgeheim immer noch. Menschen, die einer der schätzungsweise über 200 unterschiedlichen Kirchen und Sekten der christlichen Glaubensrichtung angehören (Römisch-Katholisch, Altkatholisch, Orthodox und Evangelisch-Protestantisch), sind sich meist nicht grün. Allein acht davon betrachten sich als Hüter des Heiligen Grabs Jesu in Jerusalem und geraten immer wieder in heftige Querelen. Aufgrund der allmählichen Durchsetzung des ökumenischen Gedankenguts hat sich erfreulicherweise der Status quo eines friedlicheren Nebeneinanders in der christlichen Welt in den letzten Dekaden allmählich etabliert.

 

Wuchs die weltweite Bekehrung von Heiden zum Christentum zunächst überwiegend dank Missionierung – die allerdings, wenn schon nicht so brutal wie bei den indigenen Völkern Lateinamerikas, nicht unbedingt zimperlich oder überall friedlich und ohne Blutvergießen erfolgte –, verhält es sich dagegen ganz anders im Islam. Wie bereits erwähnt, expandierte der Glaube Mohammeds im Mittelalter weltweit durch die arabische Besetzung und Unterwerfung der Bevölkerungen hauptsächlich in Afrika, Persien, großen Teilen Asiens und dem Nahen Osten, waren doch die Sarazenen die ertragreichsten Sklavenjäger, die die Europäer mit der Menschenware für ihre Kolonien belieferten. In Europa waren es Mauren, die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts große Teile Spaniens und Portugals besetzt hielten. Osmanischen Eroberungstruppen gelang sogar der Vorstoß auf unseren Erdteil bis nach Wien, wo sie zweimal, im 16. und im 17. Jahrhundert, vergeblich einzudringen versuchten. Relikte dieser islamischen Expansionsbestrebungen sind im Balkan die bis heute verbliebenen muslimischen Gläubigen in Bosnien, Montenegro, Kosovo und Albanien sowie auf jenem kleinen Endzipfel des europäischen Kontinents, auf dem der westliche Teil des türkischen Istanbuls errichtet ist.

Rein historisch betrachtet entstand das Judentum schätzungsweise etwa um das Jahr 1500 v. Chr., obwohl sich bis heute die Historiker darüber streiten, wann genau Moses sein Volk aus der Sklaverei Ägyptens heraus zum Berg Sinai führte, wo sie die Zehn Gebote empfingen. Hinzu zählen 21 Jahrhunderte seit dem Wirken Jesu für das Christentum. Der Islam entstand dagegen erst anno 622 n. Chr. mit der Flucht Mohammeds aus Mekka. Mit 1.395 Jahren ist er also die jüngste der drei Konfessionen. Vergleicht man tentativ, wo sich das Christentum 14 Jahrhunderte nach seiner Entstehung befand, so könnte man räsonieren, dass die islamische Religion sich heute erst auf etwa dem Entwicklungsstand der damaligen Christianisierungskriege des Deutschen Ordens gegen Litauen befindet. Auch zu jener mittelalterlichen Epoche bestimmte ein zutiefst christlicher Glaube bei allen Ständen des Abendlandes (Könige und Adel wie auch beim Klerus und dem gemeinen Volk) deren alltägliches Leben.

Weit gefehlt ist allerdings die Auffassung, der Islam sei eine homogene Glaubensgemeinschaft. Analog zum Christentum zerfällt er doch in sehr unterschiedliche Glaubensrichtungen (hauptsächlich Sunniten und Schiiten, aber auch Aleviten, Wahhabiten, Yeziden, Ismailiten u. v. a.), die untereinander spinnefeind sind und sich seit dem Wiederaufleben des unseligen militanten Islamismus durch die Machtübernahme Irans anno 1979 seitens des schiitischen Ayatollah Chomeini samt Proklamierung seiner Islamischen Revolution aufs Blutigste bekämpfen. Im unbarmherzigen Stellvertreterkrieg in Jemen beschießen sich gegenwärtig das sunnitische Saudi-Arabien und der schiitische Iran mit gnadenlosen Bombardements und Raketen auf wehrlose Zivilisten. Aber nicht genug zu den eiskalten Serienmördern des selbst ernannten IS-Kalifats, Talibans und Al Queida: Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht vor den Moscheen der rivalisierenden Glaubensrichtungen Autobomben explodieren oder Selbstmörder sich sogar innerhalb der Gebetshäuser in die Luft sprengen und Hunderte von Betenden mit in den Tod reißen.

Die in diesem Roman geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Etwaige Übereinstimmungen mit real existierenden Personen oder Begebenheiten sind rein zufällig. Dennoch, so glaube ich, würde heute kein Richter bei objektiver Betrachtung und beim besten Willen Lessings ›drei Ringe‹ als identisch rechtsprechen. Zu groß sind die Unterschiede, die sie kennzeichnen, obwohl ihr Ursprung doch dieselbe Quelle ist: jenes religiöse Gedankengut, das Moses im Hause des Pharaos Ramses II., in dem er aufwuchs, prägte und das er seiner Gefolgschaft am Berg Sinai verkündete. Hindern sollte uns all dies allerdings nicht daran, jedem die Freiheit zur Ausübung seines Glaubens zu lassen, sofern er dies für sich tut und – ohne Einschränkungen – Andersgläubigen stets die gleichen Rechte zubilligt. Dies kann allerdings nicht bedeuten, dass hierbei etwaige in unserem Rechtsstaat verbotene Handlungen und Sitten aus religiöser Motivation begangen werden. Auch bei uns gilt die alte Weisheit: ›Bist du in Rom, tu’ wie die Römer‹.

Manfred Eisner, im Sommer 2018

1. Rätselhafter Cold Case

»Ich denke, wir haben hier wieder einen interessanten Fall, der mich besonders bewegt und dem wir uns widmen sollten!« Kriminalhauptkommissarin Nili Masal hält einen Aktendeckel hoch, um die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter ihres Teams Sonderermittlungen des Kieler LKA auf sich zu lenken. Robert Zander, Margrit Förster und Ferdinand Csmarits blicken von ihren Bildschirmen zu ihrer Teamleiterin auf.

»Was haben Sie da wieder einmal aus dem Stapel der Cold Cases ausgegraben, Nili?«, fragt Robert. Jeder von ihnen hat auf seinem Schreibtisch einen Aktenstoß von jenen etwa einhundertachtzig ›erkalteten‹ Kriminalfällen, die im Land Schleswig-Holstein aus welchen Gründen auch immer bisher nicht abgeschlossen werden konnten. Ungelöste Fälle bleiben beim LKA so lange bestehen, bis man begründet davon ausgehen kann, dass sämtliche darin involvierte Akteure nicht mehr am Leben sind. Erst dann dürfen sie endgültig geschlossen und ad acta gelegt werden.

»Es handelt sich um ein aufsehenerregendes, weil auch doppeltes Tötungsdelikt, das sich vor etwa eineinhalb Jahren in Glückstadt ereignete. Man fand die beiden Toten in einem älteren Renault Mégane mit belgischem Kennzeichen, der wohl in der Nacht zuvor unbemerkt am Parkplatz der Elbfähre nach Wischhafen abgestellt worden war. Auf dem Fahrersitz befand sich die Leiche eines jungen Mannes, der sich anscheinend mit einem Kopfschuss selbst getötet hatte und dem anschließend die Tötungswaffe aus der Hand gefallen war, die sich übrigens auf dem Beifahrersitz befand. Ein gewisser Ole Harms, Inhaber des dortigen Imbiss, entdeckte den Wagen mit dem Toten, als er um fünf Uhr in der Früh hinfuhr, um zu öffnen, und seinen Pkw direkt daneben abstellte. Er rief sofort die Glückstädter Kollegen. Es waren – lasst mich mal sehen – der Polizeistationsleiter Sönke Jürgens mit seinen Leuten Elke Brodersen und Frank Nissen, die zum Fundort gelangten und den Wagen untersuchten. Dabei fanden sie im Kofferraum die zweite, eine halb nackte weibliche Leiche. Diese war allerdings mit einem großen Messer, das ihr noch tief in der Brust steckte, getötet worden. An beiden Händen fehlten ihr die Finger und die Daumen, und das entstellte Gesicht trug deutliche Spuren einer brutalen Misshandlung. Diese wurden ihr offensichtlich vor dem Tötungsakt zugefügt.« Nili macht eine Pause. Ihre Kollegen sind von ihrem Vortrag regelrecht ergriffen.

»Ganz schö happig!«, entfährt es Fachinspektor Ferdl Csmarits, der aus dem österreichischen Burgenland stammt und der Abteilung im Rahmen des Europol-Fach-Austauschprogramms zugeordnet ist und sich als Erster dazu äußert.

»Da der Fall bis heute nicht gelöst werden konnte, darf ich wohl davon ausgehen, dass die Tat als eine Selbsttötung des Mannes inszeniert wurde, der vorher die Frau bestialisch mutiliert und erstochen hat, um sich dann selbst zu richten. Ich vermute auch, dass der Fundort nicht der Tatort gewesen sein kann«, bemerkt Kriminalkommissar Zander.

»Und wieso der belgische Wagen?«, argwöhnt seine gleichrangige Kollegin Margrit Förster. »Wie passt der ins Bild?«

»Könnt ma net a bisserl mehr erfahr’n?«, will Ferdl wissen.

»Ihr habt alle richtig vermutet«, fasst Nili zusammen, »der Fall ist viel komplizierter, als er sich auf den ersten Blick darstellt. Ich habe für euch die umfangreiche Akte scannen lassen. Ihr findet sie auf euren Bildschirmen unter dem Kennwort ›Doppelmord in Glückstadt‹. Ich denke, es ist am besten, wenn jeder von euch den Fall zunächst einmal von vorn bis hinten durcharbeitet. Weisungsgemäß gehe ich jetzt erst einmal mit unserem direkten Vorgesetzten Walter Mohr zum Chef, um den Doppelmord als unseren nächsten Bearbeitungsfall zu melden und sein Einverständnis einzuholen. Ich habe mir da einige Punkte notiert, die uns weiterführen könnten. Wir sprechen uns nach der Mittagspause wieder, okay?«

Während Nili sich auf den Weg macht, um sich vom Leiter des Dezernats 21 das Plazet für ihr Vorhaben einzuholen, studieren ihre Kollegen eifrig die Fallakte und die vielen darin enthaltenen Aussagen der dazu befragten Zeugen. So erfahren sie, dass es sich bei dem Toten am Steuer des Wagens um den achtundzwanzigjährigen Kfz-Mechaniker Uwe Wilkens handelt, gebürtig in der Gemeinde Peissen bei Itzehoe als Sohn eines inzwischen verstorbenen evangelischen Pfarrers. Er war in Wewelsfleth ansässig, wo er auch seine kleinere markenfreie Meisterwerkstatt betrieb. Er wohnte in einer kleinen Wohnung, die er sich im Obergeschoss seiner Werkstatt eingerichtet hatte. Uwe Wilkens war eine eher durchschnittliche Erscheinung. Beruflich und persönlich achteten ihn dennoch an seinem Wohnort Nachbarn und Kunden als einen sehr geschätzten Mitbürger. Da er wegen seiner Lungenschwäche – er erlitt von Jugendalter an einige ziemlich heftige asthmatische Anfälle – keinen Wehrdienst leistete, engagierte er sich ersatzweise bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr, wo er mit seiner fachlichen Fertigkeit wertvolle Dienste leistete. Eine frühe junge Liebschaft mit der Tochter des Wehrführers endete tragisch, als diese bei einer Segelregatta mit ihrem Boot am Störsperrwerk kenterte und über Bord ging. Trotz intensiver Suchaktion wurde ihre Leiche nicht gefunden. Wahrscheinlich hatte die starke Ebbströmung der Elbe sie hinaus in die Nordsee getrieben.

Das weibliche Opfer im Mégane konnte, obwohl es stark entstellt war und ihm die Finger fehlten, rasch identifiziert werden. Die vierundzwanzigjährige, im marokkanischen Fes geborene Frau namens Saadet Bassir war ortsbekannt. Ursprünglich muslimischen Glaubens, bezeichnete sie sich nach Angaben der Befragten jedoch mehrfach als glaubenslos. Im Alter von fünf Jahren floh ihr Vater aus politischen Gründen aus Marokko. Ibrahim Bassir, von Beruf Schuster, hatte insgeheim gegen die autokratische Herrschaft des Könighauses aufbegehrt. Wegen der Teilnahme an einer Demonstration war er verhaftet und gefoltert worden, konnte aber fliehen und erhielt deswegen hier politisches Asyl. Er fand zunächst Arbeit bei einem Hersteller von orthopädischem Schuhwerk und holte seine Familie nach. Als sich der Inhaber aus Altersgründen zurückzog, übernahm Ibrahim Bassir Werkstatt und Geschäft. Seine Frau Fatima gebar ihm nach Saadet in Deutschland drei weitere Kinder, von denen aber nur eines – Saadets jüngerer Bruder Chalid – am Leben blieb. Als Saadet die Mittelschule beendet hatte und volljährig wurde, verließ sie das elterliche Haus und begann trotz des geharnischten Widerstands ihrer Familie eine Lehre als Restaurationsfachfrau im Oldenmoorer Elbmarschen Hof. Nachdem sie diese erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde sie von Sören Backhus, Inhaber des Restaurants Rigmor am Glückstädter Marktplatz, als leitende Serviererin eingestellt. Sie war eine hübsche und immer dezent gekleidete junge Frau, die durch ihre aparte Schönheit und ihren weiblichen Charme auffiel. Abgesehen von ihrer Familie, mit der sie jeglichen Kontakt abgebrochen hatte, wurde sie von allen, die sie beruflich und privat kannten, als hilfsbereit, nett und höflich bezeichnet. Natürlich gab es da einige männliche Wesen, die sie insgeheim mit lüsternen Blicken begehrten, es aber wegen ihrer Herkunft nicht öffentlich wagten, sich ihr zu nähern. Andere, allzu zutraulich oder gar handgreiflich gewordene Gäste konnte Saadet jedoch geschickt abwehren, indem sie laut und für alle im Restaurant hörbar verkündete, dass das unangemessene Berühren des Bedienungspersonals nicht im Menüpreis inbegriffen sei. Einer der Gäste, der häufiger versuchte, sich ihr auch außerhalb des Gasthofes zu nähern, war der Apotheker Dr. Wilfried Heumann, ein etwa sechzigjähriger Witwer. Bei einem wiederholten Versuch verursachte er im Restaurant einen regelrechten Eklat. Er wurde des Lokals verwiesen und Sören Backhus erteilte ihm Hausverbot.

Uwe Wilkens lernte Saadet zwei Jahre nach dem Verlust seiner ersten Freundin kennen. Es war nur wenige Monate vor dem Polterabend seines besten Freundes und Feuerwehrkameraden Bruno Wittkamp. Die Feierlichkeit richtete der Vater der Braut im eigenen Restaurant Rigmor von Glückstadt aus. Silke Backhus, einzige Nachkommin, hatte Köchin gelernt und sich bereits ihre ersten Lorbeeren bei namhaften Gastronomen in Kiel und auf Sylt verdient. Sie sollte in wenigen Jahren das bestens renommierte Gasthaus im traditionellen und zünftig renovierten Kaufmannshaus aus dem Jahre 1692 in vierter Generation übernehmen. Silke und Saadet mochten sich von Anfang an gut leiden und wurden rasch Freundinnen. So geschah es wie von selbst, dass die vier jungen Leute des Öfteren zusammenkamen und ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Es brauchte nicht lange, bis Saadet und Uwe aneinander Gefallen fanden und sich schließlich ineinander verliebten. Allerdings war eine solche Liaison nicht allen alteingesessenen Glückstädtern genehm. Abgesehen von den argwöhnischen Blicken einiger engstirniger, selbst ernannter ›Vaterlandswächter‹, denen grundsätzlich jegliche Anwesenheit von Geflüchteten und Asylsuchenden aus fremden Ländern ein tiefer Dorn im (rechten) Auge sind, waren es nicht zuletzt auch orthodoxe Muslime, die engere Verbindungen einer der ihrigen mit hiesigen Ungläubigen kategorisch missbilligten. Saadet ließ dies jedoch kalt, war sie sowieso bei diesen Leuten wegen ihrer Abkehr von Familie und Religion bereits verdammt und verfemt.

 

Bei der Zeugenbefragung des Freundes Bruno Wittkamp – wie auch seitens seiner Frau Silke – wurde berichtet, dass Saadets siebzehnjähriger Bruder Chalid mehrmals seine Schwester bedrängte, sich von ihrem ungläubigen Freund Uwe Wilkens zu trennen sowie zum wahren Glauben und in den Schoß ihrer Familie zurückzukehren. Eines Tages begegnete ihr sogar der Vater in Begleitung des Imam Akim Durmaz, um sie letztmalig zu ermahnen, ihre ketzerischen Umtriebe aufzugeben und damit den Zorn Allahs abzuwenden. Der Imam sagte später aus, sie habe ihnen dabei unmissverständlich ihre endgültige Abkehr vom Islam und von der Familie erklärt, was für eine Muslima eine unverzeihliche Sünde sei. Etwa eine Woche vor der Tat habe Chalid Uwe und Saadet aufgelauert und sie mit einem Messer bedroht. Dem hinzugeeilten Bruno Wittkamp sei es jedoch gelungen, den aufgebrachten Jungen zu entwaffnen und ihn wegzuschicken. Von einer Anzeige gegen ihren Bruder sah Uwe Wilkens auf das inständige Bitten seiner Freundin ab.

Allerdings war diese Lage weder Saadet noch ihrem mit ihr inzwischen intim gewordenen Freund Uwe geheuer, wussten sie doch aus den Medien, dass außerehelicher Geschlechtsverkehr ebenso wie Abtrünnigkeit vom Islam in einigen Ländern, in denen die Sharia alleingeltendes Gesetz ist, auch heute mit dem Tode bestraft werden. Zudem waren ja bereits in ähnlichen Fällen sogar in Deutschland muslimische Frauen von ihren Vätern, Brüdern oder Ehemännern aufgrund dieser vermeintlichen Verstöße gegen religiöse Sitten getötet worden.1

Als Ermittlungsleiter für die Aufklärung des Doppelmordes war der damalige Staatsanwalt Dr. Uwe Pepperkorn (heute in Kiel tätig) sowie die Bezirkskriminalinspektion Itzehoe unter der Leitung des auch damaligen Kriminaloberrats Werner Thumann zuständig. Sowohl er als auch dessen ermittelnde Beamte KHK Jonas Gehrke und KOK Horst Neumann waren inzwischen vom Dienst ausgeschieden. Die furchtbare Tat war nach gleichlautenden Einschätzungen des Leichenbeschauers vor Ort wie auch von Professor Dr. Klamm vom Gerichtsmedizinischen Institut am Universitätskrankenhaus in Kiel, der die Obduktion beider Leichen vorgenommen hatte, in der Nacht vom achten auf den neunten des vorvorjährigen Oktobers zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht begangen worden. An dem bislang nicht ausfindig gemachten Tatort sei zunächst die schon vorher mehrfach brutal sexuell missbrauchte Frau danach geschlagen und furchtbar misshandelt und schließlich erstochen worden. Daumen und Finger wurden ihr post mortem mit einem scharfen Schnitt – vielleicht mit einer Trennscheibe – von beiden Händen akkurat an den Gelenken abgetrennt und waren nicht aufgefunden worden. Der Täter hatte offensichtlich beim sexuellen Überfall auf das Opfer Kondome benutzt, allerdings fanden sich auf ihrem Kleid geringste Spermaspuren, die ihm wohl beim Entfernen der Präservative unbemerkt entkommen sein mussten. Die DNA-Untersuchung hatte allerdings keine bisher verwertbaren Ergebnisse erbracht, da sie weder in der Kartei vorhanden war noch bei den untersuchten männlichen Verdächtigen eine Übereinstimmung aufwies. Die Tatwaffe zeigte keinerlei brauchbare Fingerabdrücke.

Unmittelbar nach der Ermordung der Frau wurde der Mann – der an Armen und Beinen Spuren von Zwangsfixierung mittels Kunststoffkabelbinder trug – mit einem an der rechten Schläfe aufgesetzten Schuss regelrecht hingerichtet. Durch einen weiteren Abschuss mit der Tötungswaffe waren ihm Schmauchspuren an der rechten Hand beigebracht worden. Diesen hätte er allerdings nicht selbständig durchführen können, da er gemäß Obduktionsbericht zu dem Zeitpunkt bereits tot war. Bei dem auf dem Beifahrersitz neben dem Toten gefundenen Revolver handelte es sich um eine Kurzlaufwaffe der Marke Smith & Wesson Kaliber 22. Sie war nicht registriert und stammte vielleicht auch aus dem Ausland. Aus ihr waren zwei Schüsse abgefeuert worden – die leeren Patronenhülsen befanden sich noch in der Trommel. Dies erhärtete die Mutmaßung über den zweiten Abschuss zur Vortäuschung einer Selbsttötung, da sich nur eines der Projektile im Schädel des Opfers wiederfand. Auf der Waffe stellte man nur Fingerabdrücke des Opfers, aber keine auf den Munitionspatronen fest.

Die toxikologische Untersuchung seines Mageninhalts brachte ans Licht, dass das Opfer mittels starker Überdosis eines Benzodiazepins mit den Wirkstoffen Temazepam und Triazolam sediert worden war. Wilkens hatte wohl deswegen weder von der Folterung seiner Freundin noch von seinem eigenen Sterben etwas mitbekommen. Wahrscheinlich verbrachte der Täter (man mutmaßte allerdings auch, ob er all dies allein getan oder Helfer gehabt haben konnte) dann beide Leichen in den Renault mit belgischem Kennzeichen und fuhr diesen zur Fundstelle am zu dieser späten Stunde verwaisten Fähranleger.

Die Fahndung nach dem rätselhaften Auto über Europol ergab nach langwieriger Recherche, dass der alte Renault Mégane zwar tatsächlich etwa drei Monate vor der Tat vom Hof eines Autohändlers im belgischen Grenzort Bütgenbach entwendet worden war, andererseits aber die am Fahrzeug angebrachten falschen Kennzeichen von einem anderen, längst abgemeldeten Pkw aus Gent stammten. Da zunächst wegen des naheliegenden Verdachts eines sogenannten Ehrenmordes Vater und Bruder als engste Familienmitglieder als mutmaßliche Täter infrage kamen, hatte man diese eingehend vernommen. Man konnte ihnen aber weder irgendwelche Spuren an den Opfern oder am Fundort der Leichen noch anderweitig das Verbrechen nachweisen, da sie beide mit einem wasserdichten Alibi aufwarteten: Bereits vier Tage vor und drei Tage nach der Tat waren die Eltern mit dem Bruder nachgewiesenermaßen zu Besuch bei Freunden in Berlin gewesen. Allerdings war auch die festgestellte Vergewaltigung des Opfers vor der Tötung ein für sie entlastendes Indiz: kaum glaubhaft, dass weder Vater noch Sohn sich am Opfer derart vergangen hätten. Dennoch bestand immer noch die Hypothese, es könnte sich um einen Auftragsmord gehandelt haben, begangen durch einen von der Familie beauftragten Täter. Sowohl die dubiose Herkunft des Fahrzeuges, in dem Saadet aufgefunden worden war, als auch der Tötungswaffe des zweiten Opfers wären damit erklärt. Alle in diese Richtung angestellten Ermittlungen führten jedoch in eine Sackgasse. Auch intensive Suchaktionen mit Unterstützung durch die Kriminaltechniker des LKA führten nicht zur Aufdeckung des Tatortes.

Bei der Rückkehr von ihrer Berlinreise war die Familie vom Gewalttod der Tochter und Schwester zutiefst betroffen und geschockt. Sie trauerten um sie aber eher im Stillen, weil sie sich ihnen doch entfremdet hatte. Nachdem Uwes und Saadets Leichen von der Gerichtsmedizin freigegeben worden waren, hatte Vater Ibrahim Bassir sich mit Imam Durmaz beraten und bestimmt, dass Saadet keine Bestattung, weder von ihrer Seite noch nach dem muslimischen Ritual, zustehe. Es waren die Freunde Bruno und Silke Wittkamp, die für eine Trauerfeier im kleinen Kreis sowie die stille Beisetzung der beiden auf dem Wewelsflether Friedhof sorgten. Da trotz wiederholten Drängens seitens Dr. Pepperkorn keinerlei verwertbare neue Spuren gefunden wurden, erlitt der Fall allmählich das Schicksal all jener, die durch aktuelle und vor allem akute Ereignisse überlagert werden und schließlich ganz unten in der Lade ›unerledigt‹ landen. Nachdem der Staatsanwalt auch noch von Itzehoe nach Kiel versetzt und die damalig zuständigen Beamten in den Ruhestand getreten beziehungsweise verstorben waren, geriet der Fall allmählich in Vergessenheit. Und jetzt, bedingt durch eine plötzliche Laune der Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, sollte er wieder aufgenommen werden?

»Was kann sich unsere Chefin wohl dabei gedacht haben?«, posaunt KK Margrit Förster mit skeptischer Miene in den Raum, als sie mit der Lektüre durch ist.

»Na ja, wie ich aus der Akte entnehme, hat man damals wohl eher im Kreis der direkt Betroffenen ermittelt. Wie ich unsere Nili inzwischen kennengelernt habe, hat sie in der Geschichte irgend so einen losen Faden gefunden, den sie jetzt aufnehmen will. Allerdings komme auch ich nicht darauf, welcher es gewesen sein könnte«, kommentiert KK Robert Zander, der inzwischen großen Respekt vor dem besonderen Spürsinn seiner Vorgesetzten hat.