Zschopautal ... da geht's der Heimat zu!

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Zschopautal ... da geht's der Heimat zu!
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Zschopautal

… da geht’s der Heimat zu!

Malte Kerber

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

ISBN 9783954887675

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Zschopautal-Wanderung

Kapitel-Weiser

Cover

Titel

Impressum

Der Autor Malte Kerber

Widmung

Vorausgedanken

Vor dem Start

In Döbeln

Die Wanderung

Der Wanderweg: Markierung/Skizze

1. Etappe: Döbeln – Falkenhain

2. Etappe: Falkenhain – Frankenberg

3. Etappe: Frankenberg – Augustusburg

Ruhetag: Augustusburg

4. Etappe: Augustusburg – Zschopau

5. Etappe: Zschopau – Warmbad

6. Etappe: Warmbad – Tannenberg

7. Etappe: Tannenberg – Crottendorf

8. Etappe: Crottendorf – Fichtelberg

Ruhetag: Fichtelberg/Oberwiesenthal

Heimfahrt

Epilog: Nu is Feierobnd

Hintergründe

Am Amselstein

T. Körner: Harras, der kühne Springer

Augustusburg (Gedicht)

Kleine Geschichte des Cafés Friedrich

A. Günther: Bild dir nischt ei (Gedicht)

A. Günther: Feierobnd (Liedtext)

Lachen auf Burg Scharfenstein

Das Hutzenhaisel

Blutwurz (Rezept)

Zur Geschichte des Fichtelberghauses

Sprüche von Arthur Schramm

Das Zugunglück des R 3736

Notizen des Lesers

Der Autor Malte Kerber

Zur Vita: geboren 1936. Berliner von Geburt bis heute. Verheiratet. Seine Kieze: Wedding, Prenzlauer Berg, Treptow. Schulabschluss: 7. und 12. Klasse. Armeedienst. Arbeiter. Student. Lehrer. Journalist. Dr. phil. (Kybernetik). Hausmeister. Rentner.

Zur Charakteristik: Sinnsuchender. Unterwegs auf langen Strecken (zu Fuß, auf dem Fahrrad und auch sonst im Leben). Rudergänger (im übertragenen Sinne). Kritischer. Lachender. Lesender. Liebender. Manchmal Singender. Zweifelnder. Politisch Denkender und politisch Handelnder. Nicht ohne Fehler und Irrtümer. Noch immer auf dem Weg.

Ein Aufschreiber: Schreibt seit er schreiben kann. Beruflich und auch sonst. Im Älterwerden zunehmend Gedichte. Außerdem: Kurzerzählungen. Artikel. Reiseprosa. Tagebücher. Lesungen.

Für

ANNE

Auf allen Wegen miteinander verbunden!


Gedanken vor dem Start

Ein Tagebuch führt sehr persönlich durch das Erleben und die Gedanken seines Autors. Das trifft ebenfalls für ein Wandertagebuch zu. Wenn es mehr als einen Leser finden soll, dann bedarf es einer Erklärung, warum Tag für Tag oder auch in unregelmäßigen Zeittakten Buch geführt worden ist.

Meine Frau Anne und ich, wir sind schon seit Jahren gemeinsam unterwegs. Auf der großen Wanderung durch das Leben und auch auf langen Wanderungen durch Lande und Landschaften. Das Ziel unseres „Fahrens in die Welt“: eben Lande und Landschaften kennenzulernen, aber vor allem auch andere Menschen. Nicht zuletzt entdecken wir uns selbst immer wieder neu. Eine wichtige Erkenntnis gewannen wir während tausender Wanderkilometer auf den Fahrrädern und zu Fuß:

Es geht alles seiner Heimat zu.

Anton Günther (1876 – 1937), der wohl bekannteste Volksdichter und Sänger des Erzgebirges, hat diese Verszeile in seinem Lied „Feierobnd“ geschrieben (Liedtext: Seite 85). Er dichtete es selbstverständlich in feinstem erzgebirgischen Dialekt, und so lautet die Zeile im Original:

„’s gieht alles seiner Haamit zu.“

Weit über die Grenzen des Erzgebirges und des Sachsenlandes hinaus wird es gesungen. Der Dichter beschreibt darin einfühlsam, wie die Leute nach dem vollbrachten „Togwerk“ oder „Tochwarch“ heimwärts ziehen. Die Abendstimmung über Berg und Tal, über Wald und Feld lässt sie des Tages Mühen vergessen. Aber er meinte wohl auch:

Alles findet sein Ende,

und ein jeder kommt einmal nach Hause.

Und das haben wir bei unserer Lebensfahrt und während unseres gemeinsamen Wanderns immer eindringlicher erfahren: Ja, es geht alles seiner Heimat zu. Vor allem im Älterwerden.

Im Jahr 2011 bereiteten wir uns ein großes und unvergessliches Wandererlebnis. „Auf Schusters Rappen“ zogen wir über den Fernwanderweg „Romantische Straße“ von den Ufern des Mains bis zum Alpenrand. Von Würzburg bis nach Füssen wanderten wir „im Stück“ 560 Kilometer, mit den Rucksäcken „am Mann“ bzw. „an der Frau“. Eine gute Leistung für unsere zu diesem Zeitpunkt gemeinsamen 146 Lebensjahre! Da wird wohl auch der erfahrene Wanderer zustimmen.

Als wir wieder zu Hause angekommen waren, lag eine wunderbare Zeit hinter uns. Schwer nur fanden wir in den Alltag zurück. Deshalb entschlossen wir uns nach einigen Wochen, dass wir 2011 noch einmal losziehen würden. Nach dem langen „Kanten“ über die „Romantische Straße“ sollte das Wanderjahr mit einer kleineren Tour ausklingen. In den Herbst hinein wollten wir wandern. In den Herbst hinein in zweifacher Hinsicht: einmal was diese Jahreszeit, ihren Reiz und ihre Besonderheiten anbetrifft. Zum zweiten hofften wir auf einen neuen schönen kleinen Abschnitt des gemeinsamen Weges in unseren Lebensherbst hinein.

Die Wanderung sollte uns wieder einmal in das Erzgebirge führen. Als Wegbegleiter entschieden wir uns für die Zschopau. Für den Fluss, der unterhalb des Fichtelberggipfels entspringt und der nach etwa 140 Kilometern in die Freiberger Mulde mündet. Doch wir wollten die Zschopau in ihrem Lauf nicht von der Quelle bis zur Mündung begleiten, so wie es meist üblich ist. In die entgegengesetzte Richtung wollten wir wandern. Von Döbeln bis zum Fichtelberg sollte die Tour gehen.

Wir lieben es, dem Gebirge und den Bergen entgegenzuziehen. Und da war es nicht nur die Quelle, aus der die Zschopau entspringt, welche uns lockte. Wir wollten vor allem zum Fichtelberg wandern. Zu ihm hinauf, um den Wolken ein Stück näher zu sein. Erreicht er auch keine alpinen Höhen, so ist er mit seiner Gipfelhöhe von 1215 Metern der höchste Berg des Erzgebirges und damit der höchste Berg im Osten unseres Landes. Nicht der alte Brocken im Harz, wie viele annehmen. Der Inselsberg im Thüringer Wald kann sich ebenfalls nicht mit dieser stolzen Höhenmarke schmücken. Doch auch diese haben ihre Besonderheiten. Die Erfahrung der Bergsteiger und Wanderer bestätigt immer wieder:

 

Jeder Berg hat das Seine.

Man muss es nur entdecken. Man sollte den Berg erleben, ihn begreifen. Am besten, indem man sich ihm aus der Ferne nähert und ihn ruhig besteigt. Übrigens sind für uns ältere Wanderer Rekordmarken nicht wichtig. Selbstverständlich freuen wir uns nach jeder Tour über bezwungene Wanderkilometer sowie über bergauf und bergab gestiegene Höhenmeter.

Wer das Unverwechselbare eines Berges mit eigener Kraft und mit seinen eigenen Sinnen erfahren kann, dem ist am Ziel seiner Sehnsucht gleichgültig, ob er auf dem Gipfel einige Meter höher steht oder eben nicht. Eine schöne Metapher auch für die Lebenswanderung, auf der sich jeder von uns befindet.

Das Besondere des Fichtelbergs sowie seiner Tochter, der Zschopau, die er an seinem Osthang zu ihrem Lauf ins Leben entlässt, beides wollten wir erkunden. Deshalb also sollte uns der Weg an der Zschopau entlang führen. Flussaufwärts - dem Berg entgegen.

Vorausgedanken in Döbeln

September ist es geworden! Der 9. September ist heute. Schnell vergingen der Frühling und der Sommer! Der Herbst beginnt! Abwandern! Abschied nehmen vom Wanderjahr 2011, in dem wir uns das große Erlebnis „Romantische Straße“ erwanderten. Nun noch einmal „Hinaus in Wald und Flur!“ Für das Zschopautal entschieden wir uns also. Die etwa 140 Kilometer, die der Fluss von seiner Quelle bis zu seiner Mündung läuft, die wollen wir ihm „entgegenlaufen“. Also flussaufwärts wandern.

Starten werden wir morgen an der Freiberger Mulde bei Technitz. Dort, wo die Zschopau ihren eigenen Lauf beendet. Das Ziel unserer Wanderung ist der Fichtelberg, an dessen Nordhang das schöne Flussmädchen ihr Quellgebiet hat. Im Vergleich zu unseren sonstigen Wanderunternehmungen handelt es sich um eine kleine Tour – was ihre Zeitdauer und die Kilometerzahl anbetrifft. Doch die Vorbereitung gestaltete sich auch diesmal recht aufwändig.

Ich hatte die Absicht, es uns nach Möglichkeit recht bequem werden zu lassen. So wollte ich die Etappen „freundlich“ gestalten. Länger als 22/23 Kilometer sollten sie nicht werden. Doch das erwies sich bei der Vorbereitung im Hinblick auf die Unterkünfte zum Teil als schwierig. Vor allem wollte ich garantiert wissen, dass wir an jedem Tagesende ein gebuchtes Quartier unserer Wahl ansteuern konnten. Unsere Vorstellung: angemessener Komfort und freundliche Zimmerpreise, die unserem Geldbeutel entsprechen.

Meine Erfahrung bei der Suche im Internet: Auch im Erzgebirge haben die Hotels und Pensionen mit einigermaßen versprochener Qualität ihren „guten“ Preis. Wir werden bald sehen, ob und wie mir die Planung und Organisation unserer Zschopauwanderung mit den genannten Prämissen gelungen ist. Was das erste Quartier hier im „Döbelner Hof“ anbetrifft, können wir die Frage positiv beantworten. Ein feines und vor allem ruhiges Zimmer konnten wir am späten Nachmittag beziehen.

~~~~~~

In Berlin heute Vormittag dicker und ungemütlicher Regen. Schon auf dem Weg von der Heidelberger Straße im heimatlichen Alt-Treptow zum nahe gelegenen S-Bahnhof wurden wir nass bis aufs Hemd. Wir stellten fest: Unsere alten Wanderanoraks sind hinüber. Beide brauchen wir noch für diese Tour neue Wind-/Regenjacken. Alle Sparsamkeit in Ehren!

Militärisch pünktlich standen wir auf der untersten Ebene des Berliner Hauptbahnhofs, um im Zug Hamburg – Berlin – München – Innsbruck unsere Bahncard-geschützten Plätze einzunehmen. Übrigens: Mit diesen vier Städten haben wir auch bereits Wanderbekanntschaften geschlossen. Am intensivsten selbstverständlich mit Berlin! Viele Kilometer sind wir in unserer Heimatstadt schon auf Entdeckungstouren unterwegs gewesen. Sowohl zu Fuß als auch auf den Fahrrädern. Und die Radwanderung „Rund um Berlin“ ist uns in guter Erinnerung geblieben! 550 Kilometer strampelten wir da in einer guten Woche.

Im Zug während der Fahrt nach Leipzig ein interessantes Gespräch mit einem Sachsen, der in der Nähe der Messestadt zu Hause sei, wie er mir erzählte. Er arbeite als Techniker auf der Baustelle der Elbphilharmonie in Hamburg. Auch so ein Projekt, bei dem die Kosten im Vergleich zur Planung aus dem Ruder laufen würden. Und mit den Terminen läge man schon über zwei Jahre im Rückstand, beurteilte er den Stand der Arbeiten. Er lächelte dabei ein wenig. Warum wohl?

In Leipzig mussten wir umsteigen. Immer, wenn ich die weite Halle dieses eindrucksvollen Kopfbahnhofs betrete, erinnere ich mich an meine Leipziger Studentenjahre und an meine Aspirantenzeit an der „Kalle“-Marx-Universität. So auch diesmal. Mit ein wenig Wehmut, wie ich mir gestehen muss. Da spielt vor allem der Gedanke eine Rolle, wie schnell die Lebensjahre seit damals doch vergangen sind.

Mit der kleinen Regionalbahn juckelten wir nach Döbeln. Die Industrievororte von Leipzig, die wir durchfuhren, deprimierend in ihrer Verlassenheit. Die Landschaft wurde waldiger und hügeliger. Die Freiberger Mulde meldete sich nach kurzer Zeit durch das Abteilfenster bei uns an. Bald war unser Ziel erreicht. Der Döbelner „Hauptbahnhof“ – ein Bahnhof von der verlassenen Sorte, wie sie heute vielerorts üblich sind und immer mehr werden.

Döbeln trägt wie manch andere Stadt den Beinamen „Goldene Stadt“. Nach einer kurzen Busfahrt ins Zentrum stellten wir fest, dass es sich trotzdem nicht um ein vordergründig schillerndes Exemplar seiner Art handelt. Zwischen den auslaufenden Hängen des Erzgebirges gelegen, das Zentrum von zwei Armen der Mulde umfasst, wirkt die Stadt insgesamt sehr seriös, solide und irgendwie arbeitsam. Letzteres mag an einigen schönen Beispielen der Industriearchitektur aus der Gründerzeit liegen. Eindrucksvoll das alte Häusergeviert des Marktplatzes, das Rathaus und die stolze Nicolaikirche. Von deren hohem Turm begrüßte uns beim Abendspaziergang mit feierlichen Klängen ein Posaunenchor.

Die Stadt hatte 1945 Glück. Im „Endkampf“ des totalen Krieges, den Nazideutschland vom Zaune gebrochen hatte und der nach Deutschland zurückgekehrt war, wurde sie von einigen vernünftigen und mutigen Deutschen kampflos an die Sowjetarmee übergeben. Folglich schlug ihr der Krieg fast keine sichtbaren Wunden. In diesem Zusammenhang soll sie den Beinamen „Goldene Stadt“ erhalten haben. Wir gewannen den Eindruck, dass es sich um eine „gemütliche Stadt“ handelt. Dies ist wohl auch der Tatsache geschuldet, dass in Döbeln offensichtlich schon kurz nach 18:00 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Wenige Einheimische auf den Straßen, Touristen waren überhaupt nicht zu sehen. Aber wir fanden zum Glück noch ein „Chinesisches Restaurant“, das für uns ein magenfüllendes Abendbrot bereithielt.

Wir waren die einzigen Gäste, das Essen restaurant-chinesisch, die Abschluss-Schnäpse „auf Kosten des Hauses“. Wie üblich handelte es sich dabei nicht um Schnaps, sondern um ein Zuckerwässerchen. Das Gespräch mit der hübschen Besitzerin des Etablissements interessant und sehr freundlich. Sie erzählte uns ein wenig von ihren Geschäftssorgen und auch von Integrationsproblemen der Vietnamesen im Geschäftsleben von Döbeln.

Auf dem kurzen Weg ins Hotel freute ich mich noch einmal über das liebevoll erhaltene bzw. wiederhergestellte kleinbucklige Kopfsteinpflaster auf den Plätzen und in den Gassen. Sogar die schmalen Gleise der Döbelner Pferdebahn gibt es noch. Die traditionsreiche Bahn fährt aber nur noch auf Bestellung. Für Touristen, für Besucher der Stadt, für Hochzeitsgesellschaften oder einfach für neugierige Leute, die mal mit einer alten Straßenbahn fahren wollen.

Jetzt lege ich den Kugelschreiber gleich aus der Hand. Wie schon oft in Hotel- oder Pensionszimmer erlebt: Das Licht zum Schreiben zu dürftig, der Bildschirm des Fernsehgeräts für altersmüde Augen zu klein. Folglich: Ab ins Bett!

Ach so: Anne und ich, wir haben uns hier in Döbeln noch neue Anoraks gekauft. Die erste Jacke, welche mir angeboten worden war, konnte und wollte ich nicht mit 350 Euro bezahlen. So exklusiv kann und muss die Ausrüstung ja nicht sein! Aber wir haben doch zwei ordentliche Anoraks erworben. Unsere alten Jacken, sauber und für normalen Gebrauch noch funktionsfähig, brachten wir zur freundlichen Leiterin der Touristinformation. Sie versprach uns, diese an eine soziale Kleidersammelstelle weiterzugeben. Jetzt aber endgültig: Ruhe im Schiff!

Die Wanderung


Wegweiser des Zschopautalweges


Markierungszeichen des Zschopautal-Wanderwegs weißes Rechteck mit rotem Querbalken

Wanderweg – Skizze siehe: folgende Seiten



10. September
1. ETAPPE


Döbeln – Technitz – Waldheim – Burg Kriebnitzstein – Falkenhain am Kriebnitzstausee

22 Kilometer

Obwohl uns kein nächtlicher Großstadtlärm störte, schliefen wir unruhig. Startfieber? Vorfreude!

Beim Frühstück im Hotelrestaurant großes Gewimmel. Eine dänische Reisegruppe beherrschte das Revier. Die Verabschiedung von der Hotelchefin von unserer Seite aus betont sachlich, da wir am Vorabend von ihr unhöflich behandelt worden waren. Die uns zahlenmäßig überlegene Touristenschar hatte sie überfordert, so dass wir bei ihr kein Abendbrot bekamen.

Als wir lostrabten, lag Döbeln noch in völliger Morgenruhe. Sehr verschlafene Sonnabendmorgenstimmung in der Kleinstadt. Eine ältere Frau, welche die Straße fegte, romantisierte das Bild. Eine andere etwa Gleichaltrige, die aus dem Fenster nach dem neuen Tag Ausschau hielt, fehlte ebenfalls nicht im Bild. Dagegen waren Kirchgänger, wie man für eine Kleinstadt annehmen müsste, noch nicht zu sehen. War es zu früh, oder war dies dem „atheistischen Osten“ geschuldet, wie in den westlichen Bundesländern immer wieder mehr oder weniger vorwurfsvoll festgestellt wird? Es stimmt schon: Auch nach unseren Wanderbeobachtungen sind zum Beispiel in süddeutschen Städten zur Sonnabendmorgenzeit oder des Sonntags die Kirchgänger von der Zahl her deutlich sichtbar auf dem Weg in die Gotteshäuser.

Um Kräfte zu sparen, hatten wir uns entschlossen, die langweiligen Straßenkilometer bis zum „scharfen Start“ direkt am Zusammenfluss von Zschopau und Mulde nicht zu laufen. Das erwies sich im Verlaufe des Wandertages als richtig, da sich die erste Etappe als unerwartet anspruchsvoll und lang präsentierte. An der Busendhaltestelle bis auf uns und ein Mädchen keine wartenden Fahrgäste. Wir stiegen als einzige in den vierrädrigen Vertreter des öffentlichen Nahverkehrs ein. Das sollte sich als ein kleiner Vorteil erweisen.

Durch die Busfahrt kamen wir noch zu einer kleinen interessanten Rundfahrt um Döbeln. Über die Hügel führt die Linie fast rund um die Stadt. So erschloss sich uns der Reiz ihrer Lage zwischen den Ausläufern des Erzgebirges und an den Ufern der Mulde. Als Zugabe erklärte der freundliche Busfahrer einiges zu den Stadt- und Landschaftsbildern. Wir bedankten uns beim Verabschieden.

Technitz – ebenfalls verschlafener Ort, wenngleich deutlich kleiner und dörflicher als das benachbarte Döbeln. Nach zwei oder drei Landstraßenkilometern standen wir am „scharfen Start“ unserer Wanderung. Wir sahen die Zschopau in die größere Freiberger Mulde „aufgehen“. Hier von der Mündung des erzgebirgischen Flusses wollen wir bis zu seiner Quelle wandern. Das sollen laut Wanderheftangaben genau 137 Kilometer sein. Die ersten etwa 22 Kilometer sind wir heute gewandert. Beweisfotos unseres Startstandpunktes sowie unseres Etappenzieleinlaufs wurden mit der kleinen Digitalkamera „geschossen“.

 

Am Anfang der ersten Etappe liefen wir einige Zeit auf einer kleinen Landstraße oberhalb des Flusses. Wir hatten Mühe, die Wandermarkierung zu finden. Endlich entdeckte Anne das rote Band auf dem etwa 20 x 30 Zentimeter großen weißen Viereck. Diesmal an einem in den Wiesenboden eingerammten Holzpfosten. Rotes Band – das Zeichen für einen Hauptwanderweg. Im Gebirge markiert es meistens den Kammweg. Das eigentliche Zschopautal-Logo soll eine stilisierte grüne Burg zeigen. Wir haben es heute noch nicht entdeckt.

Nach einer längeren Wiesenüberquerung gelangten wir endlich an den Fluss. Hier strömt er ruhig in seinem Lauf, aber sehr kräftig. Wir liefen in typischer Flussauenlandschaft: verwachsene Uferränder, feuchte und zum Teil sumpfige Wiesenstellen, sich dem Wasser zuneigende Bäume. Sogar die Bissspuren fleißiger Biber an Baumstämmen entdeckten wir. Die Sonne malte kräftig mit an diesem interessanten Landschaftsbild. Weiße Wolken am blauen Himmel rundeten das Postkartenmotiv ab. „Klärchen“ machte uns aber bald mit sommerhaften Temperaturen zu schaffen. In einer Kleingartensiedlung, durch die unser Weg führte, mussten wir um neues und frisches Wasser für unsere Trinkflaschen bitten. Die Bitte wurde uns, wenn auch mit erstaunten Blicken, gewährt. Anne stellte fest, dass die Spenderfrau nicht das Wasser aus dem Hahn hatte ablaufen lassen, bis es eine kühle Temperatur erreichte. Unaufmerksamkeit oder Sparsamkeit?

In der Nähe des Ortes Limmritz das erste Eisenbahnviadukt, das wir auf unserer Wanderung sahen. Ein kühnes Bauwerk wohl aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, welches da immer noch den Fluss überspannt. Feine Handwerkerarbeit die Brücke – Stein auf Stein gemauert und nicht aus langweiligen großen Betonteilen zusammengesteckt, wie das in heutigen Zeiten üblich ist.

Zusätzlicher Schaueffekt: Eine zweite Brücke spannte sich in der Spiegelung auf der Wasseroberfläche über den Fluss. Allerdings auf dem Kopf stehend. Ein interessantes Fotomotiv!

Unser Wanderweg führte uns einige Male vom Flussuferweg hinauf in die Hänge. Es ging durchaus zur Sache! „Naufwärts“! Ich hatte nicht vermutet, dass sich die Zschopau hier unten vor dem Erzgebirge so tief und „attraktiv“ in die Landschaft eingearbeitet hat. Ein Vorteil ihres doch wilden Laufs: keine Autostraße am Fluss störte unseren Landschaftseindruck, kein mülliger Lärm nervte unsere Ohren. Leider vermissten wir im Gegensatz zur Wanderung über die „Romantische Straße“ im Frühsommer dieses Jahres den Gesang der Vögel. Unsere gefiederten Sangesfreunde sind wohl meist schon unterwegs gen Süden, oder sie haben zwitscherndes Liebeswerben wegen getaner Arbeit nicht mehr nötig.

Gegen Mittag erreichten wir Waldheim. Ja, Waldheim! Dieses „Waldheim“, an das fast jeder denkt, wenn er den Namen der alten sächsischen Stadt hört. Ihr ungeliebtes Symbol sahen wir zuerst, als wir auf das Panorama der Stadt blickten: die Justizvollzugsanstalt, einst das größte Gefängnis Sachsens und eines der ältesten seiner Art in Europa.

Mitten in der Stadt klotzt schwergewichtig das Zuchthaus Waldheim – die heutige Justizvollzugsanstalt. Ein Ausbrechen soll damals fast unmöglich gewesen sein. Das dürfte in unseren Tagen wohl noch mehr zutreffen. Mit dem Begriff „Waldheimer Prozesse“, die 1950 an diesem finsteren Ort stattfanden, wird zwanzig Jahre nach der Bildung der neuen deutschen Bundesrepublik häufig immer noch die gesamte DDR-Geschichte „belegt“. Dass es bei diesen Prozessen vor allem und meistens um Kriegsverbrecher und Kriegsverbrechen ging, gerät bei dieser Art Geschichtsaufarbeitung meistens in den Hintergrund.

Doch zurückliegende finstere Geschichte interessierte uns an diesem schönen Sonnentag nicht. Von einer Zschopaubrücke aus genossen wir den Blick auf das Zentrum der Stadt, auf ein prachtvolles Jugendstilhaus am Ufer des Flusses, auf das Rathaus und seinen eindrucksvollen Turm sowie auf die prächtige St. Nicolaikirche.

Auf dem weiten ovalen Marktplatz herrschte gähnende Langeweile. Die Geschäfte geschlossen, wenig Leute, nur der prächtige Wettinbrunnen plätscherte redselig im Selbstgespräch vor sich hin. Mit Mühe fanden wir ein Eiscafé, in dem wir pappige Toaste als Mittagsmenü akzeptieren mussten.

Wir zogen weiter und erfreuten uns noch an einigen schönen Häusern aus der Jugendstilzeit. Waldheim wird auch als „Stadt des Jugendstils“ bezeichnet. Was wir nicht gewusst hatten: Waldheim ist die Geburtsstadt des Bildhauers Georg Kolbe – des „Vaters“ der von mir in meiner Jungmännerzeit einst so geliebten „Tänzerin“. Noch immer schwebt die lebensgroße Bronzeplastik unvergleichlich zart in der Alten Nationalgalerie zu Berlin. Wir erwiesen dem Meister vor seinem Geburtshaus am Georg-Kolbe-Platz eine kleine Gedankenreverenz.

Schön führte uns anschließend die Markierung mit dem roten Balken unter dem Blätterdach der Bäume an der Zschopau entlang. Hier erhellte sich für uns auch das Rätsel, warum einige Kilometer unseres bisherigen Wanderweges als die „Bankrottmeile“ bezeichnet werden. Ein älteres Ehepaar aus Waldheim, mit dem wir ins Gespräch gekommen waren, klärte uns auf: In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts baute man die Bahnstrecke Riesa – Chemnitz. Die enormen Kosten für die Viadukte, Stützmauern und Erdarbeiten im Zschopautal brachten die Eisenbahngesellschaft in Finanznot. Sie ging pleite. Aus diesem Grunde erhielt der Abschnitt Limmritz – Waldheim den Beinamen „Bankrottmeile“. Was man doch auf Wanderungen so alles erfahren kann! Merkwürdiges und Merkenswürdiges! Wir bedankten uns bei den freundlichen Waldheimer Leuten für den Wissenszuwachs. Sie wünschten uns für die Wanderung einen guten Weg.

Zur berühmten Burg Kriebstein ging es doch einige „Höhenmeterchen“ bergauf. Burgen liegen ja meist auf dem Berg. Burg – Berg klingt so schön beieinander. Anne stieg und schritt wacker vor sich und vor mir hin. Ich bekam doch Konditionsschwierigkeiten. Auch aus diesem Grund verzichteten wir auf eine Besichtigung der sehenswerten Burg und steuerten auf direktem Wege den Hafen an der Talsperre Kriebstein an.

Dort herrschte heute am Sonntag reger Betrieb. Anne bekam als Lohn für ihren Wanderfleiß eine doppelte Portion Leck-Eis. Nach einer guten halben Stunde Wartezeit bestiegen wir ein Fährschiff, das uns ans Tagesziel brachte. So schlossen wir unsere Wanderetappe sogar noch mit einer kleinen Dampferfahrt ab. Wir genossen die schönen Sichten auf den Talsperren-See. Die Fähre legte in dem kleinen Ort Falkenhain direkt neben der Jugendherberge an. Das stimmte uns gar nicht traurig! Unsere Wanderkraft hatte sich für diesen Tag erschöpft.

Die Jugendherberge besteht aus einem Bungalowdorf, idyllisch am See gelegen. Ich hatte uns angemeldet und eine Holzhütte gebucht. Die Begrüßung durch die Rezeptionsmitarbeiterin freundlich-lustig. Wir bekamen sogar, obwohl nicht bestellt, einen Bungalow mit Dusche und WC. Die Einrichtung jugendherbergsgemäß schlicht und einfach, aber alles sauber. Müde und doch zufrieden über den schönen Wandertag bezogen wir unser Quartier. Der Küchenchef der Jugendherberge servierte uns ein Riesenschweineschnitzel, ungesund dick paniert. Der Hunger trieb es „nei“!

Nach einem kleinen Rundgang über das Gelände des Bungalowdorfes saßen wir vor unserem Holzhaus, beide eine Flasche dunkles Weizenbier vor der Nase, blickten auf den See, sahen auf der anderen Seite des Sees die Sonne hinter den bewaldeten Hügeln verschwinden und beträumten den verdämmernden Tag. Erinnerungen an den Liepnitzsee kamen uns in den Sinn. Als Dauercamper auf der Insel Großer Werder im Norden von Berlin hatten wir viele solcher Traumabende erlebt. Abende, die ihre Spuren im Gedächtnis hinterließen und sich in den Herzen verwurzelten. Auf dem Uferweg spazierten an unserer Hütte Angelfreunde vorbei, ebenfalls Gäste der Herberge. Fast nur dickbäuchige Männer zogen mit Bierflaschenpacks bzw. Bierkästen Richtung Grillplatz.

Zu den Gästen der Jugendherberge gehören auch zwei Dauergäste, ein älteres Ehepaar aus Waldheim, Rentner. Sie mieten sich für jeweils eine Saison in einem Bungalow ein, wie sie uns erzählten. Wir waren mit ihnen in ein Neugier-Gespräch gekommen. Doch so richtig konnten wir sie nicht „aufschließen“. Offensichtlich waren sie unsicher, wie sie uns alte Tramper einordnen sollten. Die folgende Begegnung verdient es eher, festgehalten zu werden.

Vor dem Verwaltungsgebäude der Herberge gibt es einen großen Kiosk, an dem sich die Herbergsgäste zusätzlich versorgen können. Vor allem das Getränkeangebot ist reichhaltig. Ein etwa vierzigjähriger DHJ-Angestellter betreut Angebot und Verkauf. Wir versorgten uns bei ihm mit dem erwähnten Weizenbier und auch mit Selters für den morgigen Wandertag. Aus irgendeinem Grunde kam ich mit dem Kumpel in ein anfangs spaßiges Wortgefecht. Ich fragte ihn, warum weiß ich nicht, ob er „gedient“ hätte. Er antwortete: „Ja, bei den Kommunisten!“ Meine Gegenfrage darauf: „Bei denen im Osten oder bei denen im Westen, da gibt es ja auch welche?“ Er erklärte etwas mürrisch, dass er in der DDR 1988 zur Bereitschaftspolizei nach Leipzig „geholt“ worden wäre. „Im Osten gab es doch keine Freiheit!“ so erläuterte er.

Ein wenig ging das Frage-Antwort-Gespräch hin und her. Ich wollte abschließend von ihm wissen, wie es ihm denn heute so ergehen würde. Er darauf: „Also in der Saison bin ich jeden Tag hier im Kiosk. Von früh bis abends. Jeden Tag! Das ist schon ein harter Job, da hast du keine Freizeit mehr.“ Ich strich ihm spöttisch aufs Butterbrot seiner Meinung: „Na fein, da hast’e also deine neue Freiheit!“ Er winkte mit einer ärgerlichen Handbewegung ab.

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