Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer

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Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer
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Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer

Auf Glücksuche zwischen Frankreich und Rumänien

Mady Host

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über portal.dnb.de abrufbar.

© 2021 | 360° medien | Marie-Curie-Straße 31| 40822 Mettmann

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Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung sowie Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Inhalt des Werkes wurde sorgfältig recherchiert, ist jedoch teilweise der Subjektivität unterworfen und bleibt ohne Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität.

Redaktion und Lektorat: Christine Walter

Satz und Layout: Serpil Sevim-Haase, Lucas Walter

Bildnachweis: Alle Bilder von Daniel Henneberg, Ingo Host, Mady Host, Cornelia Reinhold, Franka Simon-Host, S. 186: Candy Szengel

Gedruckt und gebunden:

Lensing Druck GmbH & Co. KG I Feldbachacker 16 I 44149 Dortmund

www.lensingdruck.de

ISBN: 978-3-947944-11-8

Hergestellt in Deutschland

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Mady Host

Mit dem Fahrrad vom Atlantik bis ans Schwarze Meer

Auf Glückssuche zwischen Frankreich und Rumänien

Inhalt

Vorwort

Frankreich – Auf dem Loire-Radweg vom Atlantik nach Nevers rund 700 Kilometer

Frankreich Ost– Von Nevers nach Basel rund 600 Kilometer

Schweiz – Von Basel nach Radolfzell am Bodensee rund 180 Kilometer

Deutschland – Auf dem deutschen Donauradweg nach Passau rund 650 Kilometer

Österreich – Von Passau über Wien nach Bratislava rund 450 Kilometer

Slowakei, Ungarn, Kroatien – Von Bratislava über Budapest zur kroatisch-serbischen Grenze … rund 550 Kilometer

Serbien – Von Batina über Belgrad bis Bregovo rund 700 Kilometer

Bulgarien – Von Vidin nach Silistra rund 550 Kilometer

Rumänien – Von Silistra über Tulcea nach Constanța rund 500 Kilometer

Schwarzes Meer – Am Ziel

Epilog


Hinweis:

Wer sich im App Store oder im Play Store die kostenlose „MACHDEBURG – DIE APP“ herunterlädt, hat mit der AR-Funktion die Möglichkeit, an verschiedenen Stellen des Buches noch mehr über die Reise zu erfahren. Hinter allen Seiten (Abbildungen/Fotos) mit diesem Logo verbirgt sich ein Video.

Also einfach die Machdeburg-App starten, AR-Funktion aktivieren, die gesamte Abbildung erfassen und schon öffnen sich informative Filme.

Viel Spaß!


Vorwort

Mady Host hat eine unglaubliche Reise gewagt – vom Atlantik zum Schwarzen Meer, und das mit Fahrrad – sagenhafte 5000 Kilometer!

Während ich ihren spannenden Bericht lese, denke ich bei jedem Umblättern, bei jedem Kapitel – bitte mehr davon! Bitte nicht ankommen, damit es immer weiter geht.

Obgleich ich der mutigen Radlerin gleichzeitig von Herzen wünsche, dass sie ihr Ziel erreichen wird.

Mich begeistert die farbige Sprache. Mady schreibt so gekonnt, dass ich mir alle Details vorstellen kann, sie bildlich vor mir sehe. Beim Lesen fühlt es sich so an, als sei ich mit dabei, würde leibhaftig ihre Tour erleben.

Die junge Frau ist auf eine sympathische Art neugierig, sie beobachtet genau und scharfsinnig, und versteht es zudem, eine Begegnung, ein Erlebnis, einen Menschen so darzustellen, dass sich das Geschilderte, wie eine Fotografie in einem Entwicklerbad, mit Konturen und Farben zu einem ausdrucksstarken Bild vervollständigt.

Die Autorin kann aber nicht allein bildhaft beschreiben, auch bringt sie Dialoge in eine natürliche Form. Die Gespräche wirken echt, man hört die Menschen beim Lesen sprechen, mehr noch, so wie Mady den Leuten die Wörter in den Mund legt, werden die Personen durch ihre Sprache charakterisiert.

Das Schönste aber ist der Humor der Autorin; er ist nie verletzend, immer fröhlich und köstlich.

Also kurzum: Das Buch von Mady Host besitzt alles, was einen guten Reisebericht ausmacht. Doch damit noch nicht genug – Mady hat sich über die sportliche Leistung hinaus eine Aufgabe gestellt – nämlich Menschen, denen sie unterwegs begegnet, nach dem Glück und deren glücklichen Momenten zu befragen. So erhält ihr Buch neben dem „blauen Faden“, als den man die Strecke entlang der Donau und die beiden blauen Farbtupfer Atlantik am Anfang und Schwarzes Meer am Ende ansehen kann, einen zusätzlichen „roten Faden“, und damit eine philosophisch-menschliche Tiefe.

Neben ihrem wunderbaren Humor hat mir am besten gefallen, wie sie anderen Menschen begegnet, nicht allein offen und neugierig, sondern mit Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wärme!

Ein klasse Buch! Wenn man schon nicht ihr Reisepartner sein kann, dann wenigstens ein Leser ihres Buches.

Carmen Rohrbach

carmenrohrbach.de

Vor der Reise ...

Ich schließe meine Augen und in meiner Fantasie taucht ein Bild von mir auf. Ganz klar, gestochen scharf und in kräftigen Farben sehe ich mich selbst: Braungebrannt, mit kernigem Gesicht und wohl trainierten Beinen stehe ich im Sportshirt vor endlos blauer Kulisse. Das Schwarze Meer, eine weite Fläche ohne erkennbares Ende, gestaltet das Foto vor meinem geistigen Auge. Neben mir steht brav mein weißes Fahrrad. Der Helm, der mir auf knapp 5000 Kilometern die Frisur zerstört hat, baumelt am Lenker, meine Ponyfransen kleben mehr an meiner Stirn, als dass sie mir attraktiv verspielt ins Gesicht fallen. Das macht mir aber überhaupt nichts aus, im Gegenteil, ich lächle, in die Kamera und in die Welt. Ich sehe glücklich aus, der Stolz über die geschafften Kilometer steht mir ins Gesicht geschrieben und die Freude über meine erlebten Abenteuer und die Erinnerung an die dabei gemachten Bekanntschaften lassen mich strahlen. Glück.

Ich öffne meine Augen, das Bild verblasst und ich spüre die Kühle des Autofensters an meiner Stirn, die vorbeisausenden Fahrzeuge zeichnen ein verschwommenes Bild aus Licht in die Dunkelheit, während unser Motorengeräusch seinen akustischen Beitrag leistet zu diesem Kunstwerk der Nacht, meiner Nacht, der Nacht, in der mein großes Abenteuer beginnt.


Anreise mit meinem Vater Ingo

Mein Vater Ingo und seine Frau Franka fahren mich zum Ausgangspunkt meiner Reise. Für diese Tour habe ich mich entschieden, weil ich genau eines will: Europa aus eigener Kraft durchfahren, auf einem Weg, der unterschiedlichste Länder miteinander verbindet. Ich will verschiedene Sprachen hören, neue Kulturen erleben, lebendigen Geschichtsunterricht erfahren und meine eigene Geografiestunde konzipieren. Ein Kontinent, der im Größenvergleich unserer Erdteile klein abschneidet, sich dabei aber aus so zahlreichen unterschiedlichen Ländern zusammensetzt, muss einfach erkundet werden.

Für mein Vorhaben gibt es wohl kaum einen besseren Radweg als den, der sich mit der Bezeichnung „ausgesprochen beliebt“ schmückt. Der EuroVelo 6 zählt zu den besonders weit ausgebauten Strecken von mehreren Routen des EuroVelo-Netzwerks. Er ist auch bekannt als Flussroute und wird mich auf etwa 5000 Kilometern von West nach Ost, von der französischen Atlantikküste bis zur rumänischen Schwarzmeerküste durch zehn Länder führen.

Die Strecke entspricht in Frankreich zunächst dem Loire-Radweg, führt dann in die Region Burgund, in das südliche Elsass sowie durch das Sâone- und Doubstal. Anschließend ebnet der Rhein-Rhône-Kanal den Weg nach Basel, von wo aus es nördlich nach Tuttlingen geht. Ab hier folge ich dem Donauradweg bis zu meinem Ziel. Dieser mächtige Fluss geleitet mich nicht nur durch Deutschland, sondern auch weiter durch Österreich, die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien und zuletzt Rumänien.

Den ersten Teil der Reise werde ich allein meistern, dann wird mich für einige Tage mein Sandkastenfreund Daniel begleiten und von Ungarn aus geht es mit meiner Freundin und Kamerafrau Cornelia bis ans Ziel Constanța am Schwarzen Meer. Auf meinem Weg werde ich nicht nur die Kontraste erfahren, die das Allein- und zu zweit Reisen mit sich bringen, sondern vor allem die Diversität in Landschaft, Infrastruktur, Architektur und in den Kochtöpfen von Frankreich bis Rumänien beobachten.

 

Und die Menschen? Welche Mentalitätsunterschiede werde ich ausmachen? In den Portemonnaies der Franzosen wird durchschnittlich mehr Füllung sein als im Geldbeutel des rumänischen Dorfbewohners, der mir vom Straßenrand aus zuwinkt. Spielt das eine Rolle, wenn es um das Glücksempfinden eines Menschen geht? Ich werde genauer hinsehen, auch nachfragen und fürs Fotoalbum festhalten, was zwischen Atlantik und Schwarzem Meer zum Glück dazu gehört. Falls mir jemand interessant erscheint, zu dem ich mir gezielt Zugang wünsche, werde ich zu meinem Hilfsmittel, dem „magic letter“, meinem „magischen Brief“, greifen. Für jedes Land, das nicht deutschsprachig ist, habe ich nämlich einen Zettel dabei, der mich vorstellt und mein Interesse am Glück bekundet, natürlich in der jeweiligen Landessprache.


Die ersten Tage in Frankreich unterwegs

Das Leben ist zu kurz zum Unglücklichsein. Also, ab auf den Fahrradsattel und los geht es …

Als ich am letzten Maitag an der französischen Atlantikküste in Richtung der westfranzösischen Großstadt Nantes losrolle und meiner Familie zum Abschied winke, habe ich bereits meine erste Antwort: Diese Menschen, die sich liebevoll um mich kümmern, machen mich glücklich. Sie sind bei mir. Ganz gleich, ob wir uns sehen können oder aus der Ferne aneinander denken. Ich kehre ihretwegen immer wieder gern nach Hause zurück.

Aber bis dahin wird es noch dauern und ich freue mich auf eine Reise, die vor mir liegt, inklusive aller Ungewissheiten, die das individuelle Unterwegssein mit sich bringt. Morgens nicht zu wissen, wo ich abends schlafe und keine Idee davon zu haben, welchen Menschen ich begegnen werde, liebe ich. Diese Art des Reisens steht im Kontrast zu meinem ansonsten recht durchstrukturierten Alltag mit terminlichen Verbindlichkeiten, die teilweise sogar schon ein, zwei Jahre im Voraus feststehen. Wenn ich in den nächsten Wochen allmorgendlich mein Fahrrad in Bewegung bringe, indem ich die Füße auf die Pedale setze und losfahre, rolle ich also nicht nur in die Welt, sondern lasse die Welt auch auf mich zukommen.

FRANKREICH – Auf dem Loire-Radweg vom Atlantik nach Nevers ... rund 700 Kilometer

Wie heißt es so schön? Aller Anfang ist leicht. Auch wenn ich ganz allein auf mich und meine mangelnde Orientierungsfähigkeit gestellt bin, so fällt mir der Start in mein Radlerabenteuer überhaupt nicht schwer. Der Radweg ist grundsätzlich gut beschildert, und wenn ich mich doch einmal verfahre, so kann ich dieses Defizit mit meiner Kommunikationsstärke ausgleichen: Ich spreche die Landessprache ausreichend gut, dass es genügt, durchzukommen und mich sogar etwas zu unterhalten. Auf Navigationstechnik möchte ich weitestgehend verzichten, meine wasserabweisenden bikeline-Radkarten sowie mein gesunder Mund, der gerne fragt, sollen mir für die Orientierung genügen. Ich hoffe, das geht gut und ich lande nicht plötzlich in Norwegen statt an der Schwarzmeerküste …


Zelten in Frankreich – mein Zuhause

Der Loire-Radweg selbst macht es mir auch leicht, ihn zu mögen, denn er ist vor allem aufgrund seiner ursprünglichen Landschaft, die ihn umgibt, reizvoll. Die Loire gilt als einer der letzten ungezähmten Flüsse Europas. Sie ist für größere Schiffe überwiegend zu seicht, so darf sie fließen, wie es die Natur ihr vorgibt. Hin und wieder verlässt der Weg den Fluss und gräbt sich in die Weinberge, was mich nicht selten in den ersten Gang herunterschalten lässt, manchmal sogar – ich gebe es nur ungern zu – auch ein Stück keuchend zum Schieben zwingt, mit 25 bis 30 Kilogramm Gepäck aber eigentlich auch kein Wunder. Alles in allem macht Fidibus, so habe ich mein Trekkingrad während meiner heimischen Trainingsfahrten getauft, vom ersten Kilometer an einen guten Job. Ich sitze vor dem Zelt und wünsche mir, dass es weiter so gut laufen wird, wie es das gerade tut. Ich bin schnell im Hier und Jetzt meines Radlerabenteuers angekommen: Wenn ich nicht gerade fahre, pausiere ich, wechsele hier und da ein paar Worte, als würde ich es schon lange so tun. Ja, meinen Reiserhythmus habe ich gefunden. „Einfach machen“ wird schnell zu meinem Motto. Ich spüre keine Einsamkeit, weder auf der Strecke noch beim Kochen am Zelt. Die Dinge sind, wie sie sind, und sie sind gut. Ja, darüber bin ich glücklich.

Und damit bin ich augenscheinlich nicht allein. In Le Thoureil, einer winzigen Ortschaft mit rund 450 Einwohnern, die keine zweihundert Kilometer von meinem Tourstart, nahe dem Atlantik, entfernt liegt, muss ich einfach stoppen, als ich auf der Loire-Uferpromenade einen liebevoll gestalteten Eiswagen mit rot-weißer Markise entdecke. Ich beobachte die Menschen, die fröhlich schnatternd anstehen, und den Verkäufer. Er lächelt, hat für jeden Kunden ein freundliches Wort auf den Lippen. Seine kullerrunde Brille, das weiße Käppi und die blau-weiß karierte Hose stehen ihm ausgezeichnet und unterstreichen seine sympathische Erscheinung. Während er Eiskugeln in Waffeln schaufelt, stelle ich mein Fahrrad ab und will gerade meine Kamera aus der Tasche holen, als mich eine quirlige Frau um die Vierzig im perfekten Englisch anspricht. Sie fragt nach dem Woher und Wohin und erzählt dann genauso ausgiebig wie zügig, dass sie einige Jahre in Paris lebte, dort im Onlinemarketing tätig war und jetzt ganz in der Nähe dieses Ortes ihr Zuhause habe und Bootstouren auf der Loire anbiete.


Glücklicher Eisverkäufer

„Gestern war ich zwölf Stunden auf dem Wasser“, erklärt sie mir, während ich die Kamera startklar mache.

„Das klingt toll“, freue ich mich.

Der Eisverkäufer hat gerade Leerlauf und gesellt sich zu uns. Ich erzähle ein wenig von mir und meiner Reise. Meine Gesprächspartnerin und der Eisverkäufer kennen sich und wechseln plötzlich einige rapide gesprochene Worte in ihrer Landessprache. Dabei werfen sie einen Seitenblick auf mich und zwinkern einander zu. Dann lotst mich Henricus, wie sich der Eismann vorgestellt hat, zu seinem Wagen, öffnet das mit einer goldenen Abdeckung geschützte Eisfach. Er taucht seinen Portionierer in die kalte Masse, während sich die ehemalige Pariserin Patricia meine Kamera schnappt. Ich weiß, dass sie damit etwas Gutes vorhat, will aber dennoch nachhaken, was. Per Fingerzeig auf ihren geschlossenen Mund bringt sie mich allerdings zum Schweigen. Henricus tritt hinter seinem Wagen hervor, holt mich an seine Seite und drückt mir eine gefüllte Eiswaffel in die Hand. Patricia, die einige Meter vor uns Stellung bezogen hat, betätigt den Auslöser. Ich lache. Henricus freut sich: „Siehst du, du lächelst, weil ich dir ein Eis geschenkt habe. Und da ich dir eine Freude machen konnte, bin nun auch ich glücklich.“

„Schön, dass die Überraschung gelungen ist“, schaltet sich Patricia ein und gibt mir die Kamera zurück.

„Natürlich verschenke ich mein Eis nicht immer an die Leute, aber die Reaktion der Menschen ähnelt deiner. Mein Job ist positiv besetzt, und Passanten, die sich an einem sonnigen Tag ein Eis kaufen, sind in den meisten Fällen glücklich, spätestens, wenn die kalte Köstlichkeit auf ihren Zungen schmilzt“, grinst mich der Mann mit dem Glücksjob zufrieden an.

„Das glaube ich Ihnen“, erwidere ich, „Ihr freundliches Lächeln strahlt über die ganz Uferpromenade“, füge ich auf Englisch an.

„Zeit für einen Abstecher zum Wasser“, entführt mich Patricia auf eines der traditionellen Loire-Holzschiffe, an deren Mast sich ein Segel spannen lässt. Zusammen mit ihrem Kollegen bietet sie mehrstündige Touren an. Gern fährt sie mit den Gästen flussaufwärts und lässt sich dann mit ihnen still zurücktreiben. Die daraus entstehende Ruhe, in die sich nur die Geräusche der Natur mischen, führt sie ganz bewusst herbei.

„Das ist meine Meditation“, erklärt sie, während sie sich ans Steuerrad stellt und mir sanftmütig zulächelt, die Krempe ihres Hutes wirft einen leichten Schatten auf Gesicht, Hals und Dekolleté.

Der Loire-Radweg stattet charmanten Orten wie Saumur, dessen Schloss aus dem 14. Jahrhundert hoch über dem Fluss thront, genauso einen Besuch ab wie Souzay-Champigny, einer Gemeinde sechs Kilometer östlich von Saumur. Souzay verfügt über ein Netz von unterirdischen Straßen, die bereits im 11. Jahrhundert in den Stein geschlagen worden sind, die Einkaufsstraße mit Geschäften in den einzelnen Höhlen wurde sogar noch bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts genutzt. Die Wegführung beeindruckt mich so sehr, dass ich meinen Fidibus schiebe, was zudem meine Beinmuskeln schont. Der recht steile Radweg geleitet mich zunächst durch eine Öffnung direkt in den Felsen, der sich in einem Bogen über mich spannt. Das Gestein, was an arglos zerknülltes Papier erinnert, erstreckt sich nicht durchgängig über den Weg, sodass das Tageslicht noch immer eine Chance hat, sich zu zeigen. Ich gehe an zugemauerten Eingängen vorbei und kann die einstmals hier ansässigen Geschäfte erahnen. Dann, entlang einer mit Efeu bewachsenen Mauer, verläuft der schmale Weg wieder ganz unter freiem Himmel. Wenig später wird es dann aber doch noch einmal recht dunkel, und einige in den Boden eingelassene Strahler müssen für Helligkeit sorgen. Es sind nicht nur die schattigen, teils recht finsteren Wegstücke, die mich begeistern, sondern auch das Flair des Ortes. Ich begegne hier niemandem, fühle mich aber dennoch gut aufgehoben, vor allem zwischen hellen Steinhäusern, von deren Mauern üppiges Grün mit roten Blüten fällt.


Radweg in der Nähe von Saumur

Ich rolle weiter und komme in Turquant mit einem Künstler ins Gespräch, der sein Atelier mitten im Felsen hat. Als wir seinen Arbeitsort betreten, fahre ich mir über die Gänsehaut auf meinen Armen. Er teilt mir mit, dass er sich nach eineinhalb Jahren an die Kälte gewöhnt hat und dass das Glück darüber, etwas zu erschaffen und dies dann sogar zu verkaufen, die Sorge um kalte Finger deutlich übertrifft. Seine Augen lächeln, während er sich über eine Werkbank beugt. Der Franzose, der noch keine Dreißig sein kann, trägt sein langes gewelltes Haar zum Zopf gebunden und erklärt mir, dass diese Region für ihre „troglos“ bekannt sei – so finden sich Restaurants, Galerien, ja sogar Hotels in Höhlen. Er empfindet es als großes Glück, auf diesem Fleckchen Erde kreativ arbeiten zu können. Ich verstehe, wovon er spricht, sehe mich noch einmal um, als ich Fidibus aus dem Eingangsbereich schiebe.

An diesem Ort entsteht nicht nur Kunst, sondern der Bau selbst ist ein Kunstwerk. Dichter Efeu fällt vom Felsen, in den Fenster und Türen, Räume und Flure geschlagen wurden. Etwas Neues, Besonderes kennenzulernen, macht mich heute glücklich. Ich bin mir meines Privilegs, diese Reise machen zu können, bewusst und empfinde es als großes Glück, interessanten Menschen wie dem Künstler begegnen zu dürfen. Neben der Spontaneität, die ich auf Reisen ohne vorgebuchte Übernachtungsorte so sehr schätze, ist es vor allem der Zugang zur Bevölkerung, weshalb ich gern per Fahrrad oder auch als Rucksackreisende umherziehe. Wenn ich mit meinem bepackten Fidibus vorfahre, öffnet sich manche Tür. Auch mein kreativer Gesprächspartner hatte mich gleich neugierig angelächelt, als ich mich dem Eingangsbereich näherte. Allein die Tatsache, dass ich mein Gepäck und auch mich selbst auf einem unmotorisierten Zweirad befördere, scheint die Botschaft „Ich komme in Frieden“ auszusenden.

Mein Finger fährt über das glatte Material meines Tourenbuches und bleibt an einem wohlklingenden Namen hängen: Chambord. Als ich mich vor meiner Reise mit der Loire-Region befasst habe, bin ich einem Schloss nämlich immer wieder begegnet: dem „Château de Chambord“, welches das größte und wohl auch prächtigste aller Schlösser an der Loire ist. Der Renaissancebau wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt.

Ich freue mich sehr darauf, diese Meisterleistung menschlicher Baukunst zu besuchen, und versuche mir das nasse Wetter schönzureden, als ich bei kaum mehr als zehn Grad Celsius mein klitschnasses Zelt verstaue. Den Beschilderungen nach Chambord folgend, gelange ich an eine Stelle, welche auf einmal in die entgegengesetzte Richtung verweist. So bitte ich einen Passanten, mir auf meiner Karte zu zeigen, wo ich mich gerade befinde. Als er blättern will, weil ich offensichtlich nicht einmal annähernd da bin, wo ich hoffe zu sein, lasse ich die Schultern dann doch ziemlich enttäuscht hängen. Ich triefe vor Nässe, mir ist kalt und meine Finger erinnern an ungekochten Spargel, so steif fühlen sie sich an. Ich dachte eigentlich, Halbfingerhandschuhe im Juni seien ausreichend … Ich weiche auf eine mäßig befahrene Landstraße aus, die mir aufgrund des Regens und der schlechten Sicht nicht gerade als sicherster Weg für eine Radfahrerin erscheint, und bemühe dann noch mal Google Maps. Ein wenig irre ich noch umher, auch weil die Internetverbindung mir in einem waldreichen Abschnitt verloren geht, und werde für meine Mühen entlohnt, als sich das Schloss dann recht plötzlich vor meinen Augen empor reckt. Es ist wirklich gigantisch, mir stockt der Atem vor Überraschung über diese immense Menge an Pracht, wenn auch in einen Regenschleier gehüllt. Zusammen mit etwa fünfzig Erstklässlern in kleinen gelben Fahrradwesten erreiche ich die gepflegten Grünanlagen, die das Schloss säumen. Ich überlege, ob ich hineingehe. Der Renaissance-Bau, in dem auch Leonardo da Vinci seine Spuren hinterlassen haben soll, ist gigantisch. Die stolze Anzahl von 440 Räumen und 84 Treppen belegen die Ausmaße. Aber auch von außen gibt es einiges zu bestaunen, der Schlosspark muss sich seiner Größe von etwa 5500 Hektar nämlich auch nicht schämen, er nimmt damit nahezu die gleiche Fläche wie Paris ein. Auf einem kleinen Teich treiben sogar Boote.

 

Château de Chambord

Die offensichtliche Schönheit dieses Bauwerks spricht dafür, auch einen Blick ins Innere zu werfen, mein eiskalter, nasser Körper und die steifen Finger legen aber ein Veto ein. Die unbeantwortete Frage „Wohin mit Fidibus und Gepäck?“ gibt den Ausschlag, nach kurzer Erkundung der Außenanlage weiterzufahren. Das Flair dieses Ortes, das ich trotz der unangenehmen Wetterbedingungen gespürt habe, soll mir als Erinnerung genügen. Noch ahne ich nicht, wie weise diese Entscheidung ist und wie sehr ich einen zeitlichen Puffer bis zum Einbruch der Nacht heute noch brauchen werde …

Zunächst benötige ich aber erst einmal Energie für meinen durchnässten Radlerkörper und mache Rast in Beaugency, einer Stadt, die aufgrund ihrer Loirebrücke mit 22 gotischen Bögen und einer Länge von 440 Metern bekannt ist. Lange war sie der einzige Übergang zwischen Orléans und Blois. In der Stadt selbst bedaure ich den noch immer niederprasselnden Regen, denn dieser Ort gilt als beeindruckendes Beispiel mittelalterlicher Militärarchitektur in Frankreich. Mir gefällt das Stadtbild, und ich würde gern mehr sehen als die nasse Welt außerhalb der Bäckerei, an deren Fenster ich nach draußen blicke, während ich mir ein Mandelcroissant und heiße Schokolade schmecken lasse. Auch wenn es keine Sitzgelegenheiten gibt, lässt mich die Bäckersfrau gewähren, so lange, bis ich zum Supermarkt um die Ecke rollen kann.

Es ist kurz vor 15 Uhr und die Ladenöffnung steht unmittelbar bevor. Mit mir warten eine Gruppe Teenie-Jungs, eine freundlich wirkende Omi und ein Pärchen mittleren Alters, das mich immer wieder anlächelt. Während ich einkaufe, wartet Fidibus voll beladen vor der Tür, nur die Lenkertasche habe ich abgeknipst. Aus Sorge um mein Hab und Gut wollte ich eigentlich auch immer die komplette und fest verstaute Kameraausrüstung, vielleicht sogar das hochwertige Zelt mitnehmen, wenn ich das Rad zum Einkaufen abstellen muss, aber hier an diesem beschaulichen Ort habe ich eher das Gefühl, die Menschen würden auf mich aufpassen, als irgendetwas Böses im Schilde zu führen. So verhalte mich ausnahmsweise mal etwas lockerer.

Das Alleinreisen selbst funktioniert gut für mich, aber Dinge wie unbeschwert einkaufen, Sehenswürdigkeiten von innen anschauen, in freier Wildbahn zelten, mit vier statt mit zwei Augen auf Wegverlauf und Verkehr größerer Städte schauen – all das habe ich als Alleinreisende nicht. Mein Multitasking ist schon in mancher Stadt auf die Probe gestellt worden: Route finden beziehungsweise behalten, nicht umfahren lassen, selbst nicht umfahren, Sehenswürdigkeiten entdecken, filmen, fotografieren, dabei noch einen Seitenblick riskieren, ob nicht irgendwo ein Lebensmittelgeschäft zu finden ist … Aber es geht und wird mit jeder Stadtpassage auch etwas leichter.

Nach Verlassen des Ortes komme ich gut voran und freue mich aufs Erreichen meines Tageszieles Orléans. Der Regen pausiert sogar ein Weilchen und der Fahrtwind gibt meiner Kleidung die Chance, etwas trockener zu werden. Voller Vorfreude stelle ich mir vor, wie ich auf dem Campingplatz in meinem gemütlichen Zelt sitze, erst heiße Nudeln zu warmem Tee löffele, mir dann als Dessert einen süßen Tassenpudding zubereite. Ich werde nicht allzu spät ankommen, kann nach dem Tagebuchschreiben bestimmt noch viele Seiten meines Krimis lesen, vielleicht sogar besonders zeitig schlafen gehen … Meine Gedanken werden vom erneut einsetzenden Regen ertränkt. So kurz vorm Ziel! Gemein. Kurz vorm Ziel? Pustekuchen! Ich muss meine Karte wohl falsch gedeutet haben, denn ich biege am Stadtrand von Orléans zu früh ab und wundere mich über die kleine Nebenstraße, in der ich mich plötzlich befinde. Ein erneuter Blick auf den Plan lässt mich ernsthaft zweifeln, ob das stimmen kann. Ich sehe mich nach Fußgängern um, aber bei dem Mistwetter ist hier niemand unterwegs, nur ein Autofahrer rollt gerade los und hinterlässt eine Lücke, hinter der eine geöffnete Haustür sichtbar wird. Darin steht ein weißhaariger Mann und winkt seinem abreisenden Besucher hinterher. Ich stoppe und nutze die Gelegenheit, ihn nach dem Weg zum Campingplatz in Orléans zu fragen, dabei wische ich die Tropfen auf der transparenten Regenhülle meiner Lenkertasche beiseite und deute auf den anvisierten Punkt.

„Wollen Sie nicht erst einmal auf einen heißen Kaffee reinkommen, Sie sind ja ganz nass“, lautet seine Antwort. „Mein Name ist Jean“, fügt er dann noch lächelnd an.

Ich mustere den Mann, höre kurz auf mein Bauchgefühl, das grünes Licht gibt, und nicke dann. Er stößt die Tür auf und gibt mir zu verstehen, dass ich mein Fahrrad samt Gepäck einfach hineinschieben soll. Wir befinden uns in einem länglichen Schuppen, von dem aus wir scharf abzweigen und in einer urgemütlichen Essküche landen. Auf einem riesigen massiven Holztisch stehen ein Teller mit Käse, eine Schüssel Tomaten, eine Tüte mit Backwaren, benutzte Weingläser und Tassen sowie leere Weinflaschen – Zeugen des Essens, was hier gerade erst stattgefunden haben muss. Ich nehme die Einladung, Platz zu nehmen, dankbar an und erfahre von Jean, dass er Familienbesuch hatte, der gerade erst wieder abgereist ist. Ich lege meine Hände um die Tasse, die mir mein Gastgeber hingestellt hat. Jeans Französisch ist für mich sehr gut zu verstehen, sodass ich schnell einiges über ihn erfahre. Er deutet auf das Geschirr vor uns und erklärt mir, dass er Familie auf Korsika hat.

„Sie waren zu Besuch und haben Wein mitgebracht. Von dort kommen nämlich die besten Weine der Welt“, klärt er mich stolz auf und lächelt glücklich.

„Was macht Sie denn besonders glücklich?“, will ich wissen.

„Das ist einfach“, erwidert Jean prompt. „Hinter mir liegen Tage voller Glück. Ich habe für alle gekocht, wir haben zusammen gesessen, geplaudert und den besten Wein von der schönsten Insel getrunken. Ich liebe Korsika, die Landschaft, die Gerüche – alles an der Insel macht mich froh. In diesem Jahr war ich mit meinem 16-jährigen Sohn dort. Wir sind in unserem Oldtimer über die Insel gefahren. Das war pures Glück, wir zwei Männer in diesem Auto, auf einem zauberhaften Fleckchen Erde.“

Er bietet an, mir sein Auto nach dem Kaffeetrinken zu zeigen, es stehe hinter dem Haus, unter seinem Carport. Ich nicke begeistert und erfahre noch, dass er eine Frau hat, die um einiges jünger ist als er und aus Peru stammt. Der gemeinsame 16-jährige Sohn spreche aber kaum Spanisch, sondern nur die Sprache seines Wohnlandes Frankreich.

„Leider haben Sie meine Frau verpasst“, erklärt mir Jean, „Sie ist gerade in der alten Heimat, weil ihr Vater gestorben ist. Ansonsten leben wir hier gemeinsam und sie arbeitet im Krankenhaus.“

Er denkt nach und fügt an: „Natürlich war auch der Tag unserer Hochzeit ein sehr glücklicher, ja, das war ein bedeutender Höhepunkt in meinem Leben. Es ist normal, dass – und ich meine das keinesfalls negativ – irgendwann der Alltag einkehrt, und in diesen mischen sich dann immer wieder Highlights, zum Beispiel der Familienbesuch oder die Inselrundfahrt mit meinem Sohn.“

Wie auf ein Stichwort erscheint selbiger in der Küche und begrüßt mich mit Wangenküssen. Das schwarze Haar und die ebenso dunklen Augen verraten die Herkunft seiner Mutter.

Nachdem ich den besten Kaffee meines Lebens ausgetrunken habe, gehen Jean und ich nach draußen, wo er mir sein Liebhaberstück zeigen möchte. Sorgsam hebt er die Plane an, rollt sie zur Seite, bis ich das Prachtexemplar bewundern kann. Es ist ein Fahrzeug der Morgan Motor Company, britischer Sportwagenhersteller, der im Jahr 1909 von Harry Frederick Stanley Morgan gegründet worden ist. Vor mir glänzt der dunkle Lack des edlen Cabrios, an dessen Seite Jean gern fürs Foto posiert.