Yoga in Savitri

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Yoga in Savitri
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Yoga in Savitri

M. P. Pandit


SRI AUROBINDO BHAVAN

BERCHTESGADENER LAND


Copyright 2020

AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel

Wilfried Schuh

www.auro.media

Englischer Originaltitel:

Yoga in Sri Aurobindo’s Epic SAVITRI

Deutscher Titel:

Yoga in Savitri M. P. Pandit 2. Aufl. 2020 ISBN 978-3-937701-63-9

Copyright 1976/95:

Dipti Trust,

Pondicherry 605002, Indien

Deutsche Ausgabe

mit freundlicher Genehmigung von

Lotus Brands,

Inc., PO Box 325,

Twin Lakes, WI, 53181, USA

© Fotos und Textauszüge

Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Puducherry, Indien

Über den Autor

M. P. Pandit hat durch seine zahlreichen Schriften über Sri Aurobindo viel zum Verständnis seiner Werke beigetragen. Er verbrachte über fünfzig Jahre im Sri Aurobindo Ashram, die meiste Zeit davon als Sekretär der Mutter. Auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrung hat er ausführlich über die Veden, Upanishaden, die Gita, den Tantra, über Okkultismus, Psychologie und Yoga im Lichte von Sri Aurobindos integraler Sicht geschrieben und gesprochen. Er gilt als authentischer Vertreter von Sri Aurobindos Philosophie und ihrer Anwendung, wie sie von der Mutter gelebt wurde.

* * *

Vorwort

Auf bestimmte Weise ist das ganze Epos Savitri Yoga. Denn außer dem Yoga Aswapatis während seiner vielen Phasen, außer Savitris Suche in ihren aufeinanderfolgenden Stufen, gibt es den Yoga der Erde, die nach Identifikation mit den strahlenden Himmeln strebt, nicht zu sprechen vom Yoga der leuchtenden Wahrheits-Welt, die sich auf unserem Erdball verwirklichen will. Diese Auswahl ist hier vom Gesichtspunkt des Yoga des individuellen Menschen getroffen worden, der im Grunde genommen der Kernpunkt aller Dimensionen des Yoga ist.

* * *

InhaltTitelseiteCopyrightÜber den AutorVorwortI. DER RUFII. BEDINGUNGENIII. SCHWIERIGKEITENIV. DER VERLAUFGuideCoverInhaltsverzeichnisStart

Teil I

RUF

Heaven’s call is rare, rarer the heart that heeds.

*

Der Ruf des Himmels ist selten, seltener das Herz, das ihm folgt.

(XI.1)

Von den zahllosen Geschöpfen der Erde, die sich in ihrem Bewusstsein entwickeln, haben nur einige eine Ebene erreicht, auf der sie für einen Übergang vom menschlichen zum göttlichen Zustand vorbereitet sind. Die wahrnehmende Intelligenz des Göttlichen in der Manifestation erkennt sie, und es ergeht ein Ruf an sie, sich Gott zuzuwenden. Dieser Ruf kann vielerlei Formen annehmen – von innen, von außen – durch jedes Mittel, das zur Hand ist. Aber nicht alle, die so gerufen werden, hören den Ruf in den Turbulenzen ihres Lebens; und sogar von denen, die ihn vernehmen, beachten ihn nicht alle. Viele sind noch in ihre Fesseln verliebt, immer noch von den Interessen des niederen Lebens angezogen. Nur sehr wenige antworten auf den Ruf und ändern ihre Lebensrichtung.

EWIGKEIT SPRICHT

Eternity speaks, none understands its word.

*

Ewigkeit spricht, doch keiner versteht ihr Wort.

(IV.3)

Die Menschen sind so in das unruhige Leben der Sinne vertieft, dass sie sich ihrer selbst kaum bewusst sind, abgesehen in den Regungen, in denen sie wahllos hin und her geworfen werden. Selbst die wenigen, die sich ihres mentalen Selbstes bewusst geworden sind und abseits der äußeren Lebensbewegungen stehen oder zu stehen versuchen, verlieren sich im Lärm der eigenen Gedankentätigkeit und emotionalen Aufruhrs. Sie sind sich weder ihrer Seele bewusst noch der Andeutungen, die von ihr kommen. Die Seele, Delegierte des Ewigen in der in Zeit und Raum fortschreitenden Evolution, spricht in ihrer eigenen Sprache – eine Sprache der Gewissheit, echter Vision und Wahrheit, aber die Oberflächenpersönlichkeit kümmert sich selten darum. Und selbst wenn es dem Wort gelingt, das innere Ohr zu erreichen, fehlt das notwendige einsichtige Begreifen. Es wird gewöhnlich in den minderwertigen Begriffen des arbeitenden Mentals interpretiert oder missverstanden. Die Botschaft geht verloren.

AUSERWÄHLT

One among many thousands never touched,

Engrossed in the external world’s design,

Is chosen by a secret witness Eye

And driven by a pointing hand of Light...

*

Einer unter vielen Tausenden, nie berührt

Und versunken in die äußere Weltgestaltung,

Wird von einem geheimen Zeugen-Auge auserwählt

Und von einer weisenden Hand des Lichtes angetrieben...

(I.5)

Es gibt ein wachsames Auge, das ständig diese Szene der Evolution mit ihren unzähligen Bewegungen und Formen, die sich bilden und wieder vom Spielfeld verschwinden, betrachtet. Es beobachtet aufmerksam, welche Seele unter den Millionen von Menschen, die sich bemühen zu wachsen und sich zu entwickeln, herangereift und nun bereit ist für den Sprung von der menschlichen auf die göttliche Ebene. Es wählt jenen Menschen aus und übernimmt die direkte Verantwortung für seine Evolution. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, sein Leben wird vom Augenblick seiner Erwählung durch das Göttliche geleitet und angespornt, sich in eine Richtung – auf das Göttliche hin – zu bewegen. Langsam wird er von der leitenden Hand durch alle Umstände und Schwierigkeiten des Lebens hindurch dahin geführt, das Göttliche als sein Ziel zu erwählen.

Wer das Unendliche wählt, ist vom Unendlichen erwählt worden. (Sri Aurobindo)

WARUM?

...Remember why thou cam’st:

Find out thy soul, recover thy hid self,

In silence seek God’s meaning in thy depths...

*

...Erinnere dich, warum du kamst:

Finde deine Seele, entdecke dein verborgenes Selbst,

Im Schweigen suche in deinen Tiefen Gottes Absicht...

(VII.2)

Das Leben ist kein leerer Traum, keine sinnlose Bewegung. Es gibt einen Zweck, ein Ziel, auf das unsere Reise hinweist. Der Mensch als erwachtes Wesen und denkendes Geschöpf ist es sich schuldig zu wissen, warum er hier ist. Er ist nicht nur ein Körper, nicht einmal nur ein lebendiger Körper. Er ist ein Wesen, das im physischen Körper lebt und mit einem verkörperten Mental denkt. Er ist eine Seele, ein unsterbliches Selbst, das hinter den Schleiern der Natur verborgen ist. Der Mensch muss seinen Blick von den äußeren Dingen abwenden und nach innen richten, um seine Seele zu finden. Er muss seine Ohren vor dem Lärm der Welt verschließen und in Ruhe den von innen kommenden Andeutungen lauschen, um den Sinn und Zweck seiner Existenz auf Erden zu erkennen, um die Mission zu verwirklichen, die Gott seiner Seele anvertraut hat.

PARADOX UND SCHLÜSSEL

Our life is a paradox with God for key.

*

Unser Leben ist ein Paradoxon mit Gott als Schlüssel.

(I.4)

Das ganze Leben ist ein immerwährendes Rätsel voller Widersprüche, die auf Schritt und Tritt aufeinander prallen. Dem Guten steht das Böse entgegen, der Wahrheit die Falschheit, der Stärke die Schwäche, der Freude der Schmerz, der Harmonie die Disharmonie, dem Leben der Tod. In jedem Bereich gibt es Konflikte, und alle von der menschlichen Intelligenz erprobten Allheilmittel haben sich als vergeblich erwiesen. Die einzige Lösung dieses Daseinsproblems liegt in der Evolution unseres Bewusstseins vom menschlichen zum göttlichen Zustand. Das Göttliche ist heiles, ungebrochenes Dasein, undeformiertes Bewusstsein, unverfälschte Kraft, unbefleckte Glückseligkeit. Und dieses Göttliche befindet sich in uns selbst. Je mehr wir zu diesem innewohnenden Göttlichen erwachen und in seine Wesensart hineinwachsen, umso näher sind wir der Lösung der Lebensprobleme in der Harmonie des Geistes. Die gegensätzlichen Elemente fallen entweder weg oder werden in ihrem Charakter verändert.

UNSER MENSCHLICHER ZUSTAND

Our human state cradles the future god,

Our mortal frailty an immortal force.

*

Unser menschlicher Zustand ist Wiege des zukünftigen Gottes,

Unsere sterbliche Schwachheit ist eine unsterbliche Kraft.

 

(II.10)

Unsere menschlichen Unvollkommenheiten und Beschränkungen sind nicht von Dauer. Sie sind nur die gegenwärtigen Umstände, die durch Willenskraft und Anstrengung verändert werden können. Was wir zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, ist nur das, was sich von den vielfältigen Möglichkeiten, die in uns liegen, in diesem Stadium in uns verwirklicht hat. Unser Leben ist ein langer Entwicklungsprozess dessen, was in uns ruht. Das Bewusstsein, das jetzt das menschliche Stadium erreicht hat, enthält in sich den Keim der Göttlichkeit. Es ist das Drängen dieser verborgenen Gottheit, das tatsächlich für die menschliche Aspiration, über das Menschensein hinauszugehen und Göttlichkeit zu verkörpern, verantwortlich ist. Gleichermaßen ist unsere todgebundene Schwäche nur eine Stufe in der Entwicklung unserer unsterblichen Kraft, die sich allmählich ihren Weg bahnt.

Die augenblicklichen Zustände oder Äußerlichkeiten sollten den Sucher nicht blenden oder entmutigen. Unermessliche Möglichkeiten warten auf ihre Verwirklichung.

SINN

There is a purpose in each stumble and fall...

*

In jedem Straucheln und Fallen liegt ein Sinn...

(10.4)

Das Leben ist nicht immer eine sanfte und ungestörte Reise. Es gibt Höhen und Tiefen, Unterbrechungen, Stopps – kürzere oder längere,– und sie beruhen normalerweise auf einer Verzögerung unserer gesamten Bewegung. Einige Teile unseres Wesens machen größere Fortschritte, andere bleiben zurück. Dieser Unterschied lässt die Bewegungen zum Stillstand kommen. Wenn man aufmerksam und wach ist, besonders im spirituellen Leben, kann man sehen, wie dieses Straucheln zustande gekommen ist. Es legt einige Schwächen offen, ein Versäumnis, das wieder gut gemacht werden muss, so dass man den Weg zur Behebung des Defizits besser gehen kann.

Fehltritte und Stürze dürfen nicht als bloße Unfälle angesehen werden. Sie sind Hinweise und Warnungen an den Sucher, in sich hinein zu schauen und sich ausreichend zu rüsten.

ZIEL

...for each his difficult goal

Hewn out of infinite possibility.

*

...jedem ist sein schweres Ziel gegeben,

Herausgehauen aus unendlich vielen Möglichkeiten.

(VI.1)

Jede Seele hat ihren eigenen Entwicklungsweg, ihr eigenes Bedürfnis nach Erfahrung und ihr eigenes Ziel. Das höchste Ziel aller Seelen ist, die Göttliche Wirklichkeit zu verkörpern, aus der sie zu einem bestimmten Zweck hervorgegangen sind. Und diese Manifestation ist nicht von einheitlicher Art. Sie ist eine fortschreitende Enthüllung der vielfältigen Möglichkeiten, die dem Höchsten Wesen innewohnen. Jede Seele trägt eine durch den schöpferischen Willen eingeprägte Betonung in sich und arbeitet daran, die in sie eingepflanzte Idee, die Real-Idee, auf ihrem Feld der Evolution in Zeit und Raum auszuarbeiten.

So ist jedem seine Arbeit und sein Ziel gegeben.

UNSERE VERGESSENEN WEITEN

A deathbound littleness is not all we are:

Immortal our forgotten vastnesses

Await discovery in our summit selves;

Unmeasured breadths and depths of being are ours.

*

Eine an den Tod gebundene Winzigkeit ist nicht alles, was wir sind:

Unsterblich warten unsere vergessenen Weiten darauf

Auf dem Gipfel unseres Selbstes entdeckt zu werden;

Unermessliche Weiten und Tiefen des Seins sind uns zu eigen.

(I.4)

Unser Leben ist normalerweise auf den Bereich unseres physischen Körpers beschränkt. Seine Spanne ist an die Lebensdauer des Körpers gebunden. Aber diese Einschränkungen sind nicht endgültig. Wir haben in uns Seinsebenen, die weit über die äußeren Grenzen hinausgehen. Sie gehören zu unserem inneren Wesen, aber in unserer Unwissenheit sind wir uns ihrer nicht bewusst. Wir haben sie vergessen. Wir müssen wach werden für ihre Existenz im Inneren. Wenn wir uns durch Yoga nach innen wenden, werden wir uns dieser Bereiche des unbegrenzten Bewusstseins, die nicht durch äußere Ereignisse beeinträchtigt werden, in den Tiefen unseres Wesens, in den aufsteigenden Höhen unseres Selbstes zunehmend bewusst. Wir können uns nach allen Seiten ins Universum ausdehnen, wir können die Tiefen des Wesens ausloten, wir können uns über die Grenzen unseres Mentals erheben.

SEELE

Our souls can climb into the shining planes,

The breadths from which they came can be our home.

*

Unsere Seelen können die strahlenden Ebenen ersteigen,

Die Weiten, aus denen sie kamen, können unsere Heimat sein.

(II.11)

Wir führen nur solange ein eingeschränktes Leben, wie wir uns auf den kleinen Bereich unserer physischen Fähigkeiten begrenzen, auf deren Grundlage wir normalerweise funktionieren. Aber in uns gibt es weitreichendere Fähigkeiten, größere Möglichkeiten. Die Seele in unseren Tiefen ist durch die Wände unseres physischen Körpers nicht begrenzt. Sie kann sich in Regionen aufschwingen, die sich über den Schranken unseres Mentals eröffnen. Sie kann sich in die Weiten ausdehnen, aus denen sie ursprünglich kam. Wenn wir uns unserer Seele bewusst werden und unser Bewusstsein mit ihr vereinen, können auch wir an ihrer Erfahrung der leuchtenden Welten darüber und der Unendlichkeiten, die ihr eigen sind, teilhaben.

DREIEINIGES WESEN

To the abiding and eternal is their climb,

To the pure existence everywhere the same,

To the sheer consciousness and the absolute force

And the unimaginable and formless bliss...

...the triune being who is all and one...

*

Zum Bleibenden und Ewigen steigen sie,

Zur reinen Existenz, die überall dieselbe ist,

Zum reinen Bewusstsein und der absoluten Kraft

Und zur unvorstellbaren und formlosen Seligkeit...

Des dreieinigen Wesens, das alles und eines ist...

(XII.5)

Der Aufstieg des Pilgers des Geistes ist der Aufstieg zum Beständigen, zum Ewigen, der unwandelbar hinter und über allen Veränderungen in Zeit und Raum steht. Diese Wirklichkeit offenbart sich in dieser Manifestation als dreieinig: sie ist eine Selbst-Existenz, sat, die allem Dasein zugrunde liegt; sie ist sich ihrer selbst und aller Dinge völlig bewusst, ein reines Bewusstsein, chit, das voller Wirkensmacht ist, tapas; ihre Natur ist von grundloser und endloser Glückseligkeit, ananda. Dieses dreieinige Wesen, Satchidananda, wird gleichzeitig als die einzige Wahrheit und auch als die ganze Wahrheit erkannt.

DAS ABSOLUTE

Each part in us desires its absolute.

Our thoughts covet the everlasting Light,

Our strength derives from an omnipotent Force...

*

Jeder Teil in uns begehrt sein Absolutes.

Unsere Gedanken begehren das immerwährende Licht,

Unsere Stärke entstammt einer allmächtigen Kraft...

(II.5)

Wir sind begrenzte Wesen, eingeschränkt im Bewusstsein, eingeschränkt in der Macht, eingeschränkt im Wirkensbereich, eingeschränkt in der Effektivität. Aber unser Wesen akzeptiert diese Einschränkung nicht als endgültig und natürlich. Jeder Wesensteil möchte wachsen, sich zu seinem Optimum entwickeln. Er strengt sich an, seine höchstmögliche, absolute Perfektion zu erreichen. Unser Mental versucht, über die Natur der Wirklichkeit nachzudenken und zu ihrer Erkenntnis zu gelangen. Aber seine Gedankenaktivität dient nur dazu, das Licht zu verdunkeln und zu verbergen, das

unsterbliche Licht, das nach innen gerichtet ist, um zu sehen, der schnellste mentale Geist in den Menschen, die den Weg gehen.

(Rig. Veda, I.6.5)

Das Mentale muss lernen, seine Gedanken zu beruhigen, damit es das reine und ewige Licht widerspiegeln kann, statt flüchtige und verzerrte Eindrücke von ihm zu bekommen. In gleicher Weise gibt sich unsere schwächliche Kraft nicht damit zufrieden, in ihrem begrenzten Zustand zu verharren. In ihrer Tiefe ist sie sich bewusst, ein Fragment, ein Bruchteil einer Kraft zu sein, die allmächtig ist. Und sie ringt darum, sich mit ihrem Ursprung zu vereinen. Deshalb ist es ein Gesetz des Wachsens, des sich Entwickelns vom Unvollständigen zum Vollkommenen, vom Relativen zum Absoluten.

VOLLKOMMENHEIT

To seize the absolute in shapes that pass,

To fix the eternal’s touch in time-made things,

This is the law of all perfection here.

*

Das Absolute in vorübergehenden Formen zu erkennen,

Die Berührung des Ewigen in zeitgeschaffenen Dingen festzuhalten,

Dies ist das Gesetz aller Vollkommenheit hier.

(II.2)

Vollkommenheit ist die göttliche Absicht im Leben und sie ist das Ziel, auf das alles Existierende auf der Erde zustrebt, bewusst oder unbewusst. Für den spirituell Suchenden bedeutet Vollkommenheit, in der Lage zu sein, das göttliche Absolute in allen Relativitäten der Welt wahrzunehmen. Die Dinge sind keine unabhängigen Wirklichkeiten an sich, aber sie sind aus diesem Grund auch nicht illusorisch. Sie sind Formen, die das Absolute angenommen hat, was ihnen ihre Daseinsberechtigung verleiht. In ähnlicher Weise muss der Suchende hinter all den Objekten, die in der Zeit geboren werden und dem Wirken der Zeit unterworfen sind, lernen, die Gegenwart der Zeitlosen Wirklichkeit zu spüren, die nicht von Formveränderungen im Laufe der Zeit beeinflusst wird. Das Beständige ist ewig.

KRONE FÜR DIE ERDE

Beyond the earth, but meant for delivered earth,

Wisdom and joy prepare their perfect crown;

Truth superhuman calls to thinking man.

*

Jenseits der Erde, doch bestimmt für die befreite Erde,

Bereiten Weisheit und Freude ihre vollkommene Krone vor;

Übermenschliche Wahrheit ruft den denkenden Menschen.

(X.3)

Das wenige Wissen und die kleinen vermischten Freuden, die das Erdenleben bietet, sind nicht das letzte Wort. Jenseits der Grenzen dieses Lebens in Unwissenheit gibt es Wahrheiten des vollen Wissens und der ungetrübten Glückseligkeit, die der Mensch bei Befreiung von den Begrenzungen der irdischen Natur erreichen kann. Aber es ist nicht erforderlich, das Leben auf Erden abzulehnen, um die höheren Wahrheiten zu erlangen. Tatsächlich sollen sie sich auf der Erde manifestieren, und sie bereiten sich darauf vor. Sie fordern den erwachten Menschen auf, sein Bewusstsein zu entwickeln, damit er sie empfangen und in sich festigen, zum Ausdruck bringen und in seinem Leben in dieser Welt organisieren kann.

SEHNSUCHT

A formless yearning passions in man’s heart,

A cry is in his blood for happier things.

*

Eine gestaltlose Sehnsucht brennt leidenschaftlich in des Menschen Herz,

In seinem Blut ertönt ein Schrei nach glücklicheren Dingen.

(II.4)

Im Wesen des Menschen gibt es immer eine Unzufriedenheit mit seinem Zustand der Unvollkommenheit, Einschränkung und des Mangels – ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Tief in seinem Herzen spürt er ein anhaltendes und nagendes Gefühl der Unzulänglichkeit und einen vagen, unruhigen Drang nach Vollkommenheit. Dieser Impuls übersetzt sich in einen Wunsch nach Wachstum, Entfaltung, einen Hunger auf Freiheit und Stärke, ein sehnsuchtsvolles Streben nach Fortschritt und Glück. Aufgrund dieser angeborenen Sehnsucht nach Vollkommenheit befindet sich der Mensch in seiner Entwicklung immer im Umbruch. Wegen seiner göttlichen Unzufriedenheit ist er etwas Besonderes. Wie Sri Aurobindo an anderer Stelle bemerkt, begnügt sich das Tier mit der Erfüllung seiner notwendigsten Bedürfnisse, und die Götter sind mit ihrer Pracht zufrieden. Nur der Mensch ist von diesem Sehnen nach Selbstüberschreitung erfasst, das ihn an die Spitze der evolutionären Natur stellt.