Tief eingeschneit

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Aus der Reihe: Ein Fall für Gamache #2
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1

Wenn CC de Poitiers gewusst hätte, dass sie ermordet werden würde, hätte sie ihrem Ehemann Richard möglicherweise ein Weihnachtsgeschenk gekauft. Sie wäre vielleicht sogar noch zum Krippenspiel in Miss Edwards Mädchenschule, der Madenschule, wie CC ihre unförmige Tochter gerne aufzog, gegangen, in dem diese mitwirkte. Hätte CC de Poitiers gewusst, dass ihr Ende nahte, hätte sie vielleicht gearbeitet, statt sich in dem billigsten Zimmer, das das Ritz in Montréal im Angebot hatte, einzumieten. Aber das einzige Ende, von dessen Herannahen sie wusste, blühte einem Mann namens Saul.

«Und, wie findest du es? Gefällt es dir?«Sie balancierte das Buch auf ihrem bleichen Bauch.

Saul betrachtete es nicht zum ersten Mal. Die letzten Tage hatte sie es alle fünf Minuten aus ihrer riesigen Handtasche gezogen. Während irgendwelcher Geschäftstreffen, Essenseinladungen oder Taxifahrten durch die verschneiten Straßen von Montréal beugte sich CC unvermittelt nach unten und tauchte triumphierend mit ihrem Werk in der Hand wieder auf, als sei es das Produkt einer neuerlichen Jungfrauengeburt.

«Mir gefällt das Bild«, sagte er und war sich seiner Unverschämtheit durchaus bewusst. Er hatte das Bild selbst aufgenommen. Er wusste, dass sie mehr hören wollte, förmlich darum bettelte, und er wusste, dass er keine Lust dazu hatte. Er fragte sich, wie viel Zeit er noch mit CC de Poitiers verbringen konnte, ohne so zu werden wie sie. Nicht körperlich, natürlich. Mit ihren achtundvierzig war sie ein paar Jahre jünger als er. Sie war schlank, drahtig, durchtrainiert, ihre Zähne strahlten viel zu weiß, und ihre Haare waren viel zu blond. Wenn man sie anfasste, hatte man das Gefühl, eine Eisschicht zu berühren. Das fühlte sich schön und zerbrechlich an, was er attraktiv fand. Aber es war auch gefährlich. Wenn diese Eisschicht jemals brechen, in Stücke gehen sollte, würde er mit zerbrechen.

Ihr Äußeres war nicht das Problem. Während er sie dabei beobachtete, wie sie ihr Buch mit größerer Zärtlichkeit streichelte, als sie ihm gegenüber jemals gezeigt hatte, fragte er sich, ob das Eiswasser in ihren Eingeweiden auf irgendeinem Wege in ihn eingedrungen war, vielleicht beim Sex, und ihn langsam gefrieren ließ. Er konnte sein Innerstes schon nicht mehr spüren.

Mit seinen zweiundfünfzig Jahren stellte Saul Petrov langsam fest, dass seine Freunde nicht mehr ganz so brillant, nicht mehr ganz so clever, nicht mehr ganz so schlank waren wie früher. Die meisten langweilten ihn mittlerweile sogar. Auch bei ihnen hatte er schon das eine oder andere verräterische Gähnen bemerkt. Sie wurden dick, glatzköpfig und träge, und er befürchtete, dass es bei ihm nicht anders war. Das Schlimme daran war nicht einmal, dass die Frauen ihn kaum mehr ansahen oder dass er überlegte, ob er seine Alpinski gegen Langlaufski tauschen sollte, auch nicht dass sein Hausarzt ihn zu einer ersten Prostata-Untersuchung einbestellt hatte. Das konnte er alles hinnehmen. Was Saul Petrov um zwei Uhr morgens weckte und ihm mit derselben Stimme ins Ohr flüsterte, die ihn als Kind gewarnt hatte, unter seinem Bett würden Löwen hausen, war die Gewissheit, dass die Leute ihn mittlerweile langweilig fanden. Bei solchen Gelegenheiten holte er ganz tief Luft und versuchte, sich mit der Mutmaßung zu beruhigen, das unterdrückte Gähnen seines Tischnachbarn habe mit dem Wein, dem magret de canard oder dem überheizten Restaurant zu tun, zumal sie alle in dicken Winterpullovern steckten.

Aber die nächtliche Stimme suchte ihn weiter heim und warnte ihn vor bevorstehenden Gefahren: vor einer drohenden Katastrophe; davor, dass er beim Erzählen zu weit ausholte, dass die Aufmerksamkeitsspanne zu kurz war, dass zu viele Augenlider zu schwer wurden; vor schnellen und verstohlenen Blicken auf Armbanduhren, der impliziten Überlegung, wann man endlich gehen konnte; vor Augen, die im Raum herumwanderten, verzweifelt Ausschau nach anregenderer Gesellschaft hielten.

So kam es, dass er sich von CC verführen ließ. Verführen und verschlingen, sodass der Löwe unter seinem Bett zum Löwen in seinem Bett wurde. Er vermutete inzwischen, dass diese egozentrische Frau genug davon hatte, nur um sich selbst, um ihren Ehemann und selbst diese Katastrophe von Tochter zu kreisen, und deshalb nun ihn umkreiste, um sich ihn einzuverleiben.

Er hatte durch ihre Gesellschaft schon ihre Grausamkeit angenommen. Er hatte sogar angefangen, sich zu verachten. Allerdings noch lange nicht so sehr, wie er sie verachtete.

«Es ist ein wunderbares Buch«, sagte sie, ohne ihm Beachtung zu schenken.»Stimmt das etwa nicht? Wer wollte das nicht haben?«Sie fuchtelte mit dem Buch vor seinem Gesicht herum.»Die Leute werden sich darauf stürzen. So viele Menschen da draußen sind hilfsbedürftig. «Sie drehte sich um und sah zum Fenster ihres Hotelzimmers hinaus auf das Gebäude gegenüber, als überschaute sie eine ihretwegen versammelte Menschenmenge.»Ich habe es für sie gemacht. «Jetzt wandte sie sich mit großen, ernsten Augen zu ihm um.

Glaubte sie das wirklich? fragte er sich.

Er hatte das Buch natürlich gelesen. Be Calm – Ruhe finden hatte sie es genannt, nach dem Unternehmen, das sie vor ein paar Jahren gegründet hatte, was zum Lachen war, wenn man sah, was für ein Nervenbündel sie war. Die unruhigen, nervösen Hände, die ständig etwas glatt strichen und gerade rückten. Ihre schnippische Art, die Ungeduld, die schnell in Ärger umschlug.

Trotz ihres gelassenen, unterkühlten Auftretens würde man CC de Poitiers ganz sicher nicht mit dem Begriff Ruhe beschreiben.

Sie war mit ihrem Buch bei allen möglichen Verlagen Klinken putzen gegangen, angefangen bei den renommierten Verlagshäusern in New York bis hin zu Publications Réjan et Maison des cartes, einem Kleinstverlag in dem Dörfchen St. Polycarpe an der Schnellstraße zwischen Montréal und Toronto, in dem sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten.

Alle hatten abgelehnt, da sie sofort gemerkt hatten, dass das Manuskript eine fade Mischung aus albernen Selbsthilferezepten war, in unausgegorene buddhistische und hinduistische Lehren verpackt und abgesondert von einer Frau, die auf dem Umschlagfoto so aussah, als würde sie ihre eigenen Jungen auffressen.

«Kein Schwein will Erleuchtung«, hatte sie zu Saul in ihrem Büro in Montréal gesagt, als ein ganzer Schwung Absagen eingetroffen war, dabei hatte sie die Briefe in Fetzen gerissen und auf den Boden fallen lassen, damit die Putzfrau sie einsammelte.»Mit dieser Welt liegt es im Argen, das sage ich dir. Die Leute sind brutal und unsensibel, das Einzige, wonach ihnen der Sinn steht, ist, sich gegenseitig aufs Kreuz zu legen. Es gibt keine Liebe und kein Mitgefühl. Das«, sie holte mit ihrem Buch weit aus, als sei es ein alter mythischer Hammer, mit dem sie auf den Amboss der Rache schlagen wollte,»wird den Leuten beibringen, ihr Glück zu finden.«

Ihre Stimme war leise, die Worte erzitterten unter dem Gewicht ihrer Gehässigkeit. Sie hatte ihr Buch schließlich im Selbstverlag herausgebracht, damit es rechtzeitig vor Weihnachten auf den Markt kam. Dass es in dem Buch ständig um Licht ging und es exakt zur Wintersonnenwende auf den Markt gekommen war, hielt Saul für reinste Ironie. Am dunkelsten Tag des Jahres.

«Wie heißt der Verlag noch mal, bei dem es herausgekommen ist?«Er konnte sich einfach nicht zurückhalten. Sie schwieg.»Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte er.»Es wollte keiner. Das muss schrecklich gewesen sein. «Er zögerte einen Moment und überlegte, ob er noch mehr Salz in die Wunde streuen sollte. Ach, warum nicht, es war sowieso schon egal.»Ich frage mich, wie du dich da gefühlt hast?«Bildete er sich nur ein, dass sie zusammenzuckte?

Aber sie schwieg weiter, sehr beredt, und ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Was CC nicht mochte, existierte nicht. Dazu zählten auch ihr Ehemann und ihre Tochter. Dazu zählten alle Unannehmlichkeiten, jede Kritik, jedes harte Wort, das nicht von ihr selbst kam, alle Gefühle. CC lebte, soweit Saul wusste, in ihrer eigenen Welt, in der sie vollkommen war, in der sie ihre Gefühle und ihr Versagen verbergen konnte.

Er fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis diese Welt mit einem Riesenknall in die Luft flog. Er hoffte, dass er dabei war, wenn das passierte. Nur nicht zu nah.

Die Leute sind brutal und unsensibel, hatte sie gesagt. Brutal und unsensibel. Es war gar nicht so lange her, dass er die Welt für schön gehalten hatte, damals hatte er sich bereit erklärt, als freiberuflicher Fotograf und als Liebhaber von CC zu fungieren. Jeden Morgen war er früh aufgewacht und hatte den Tag begonnen, als sei es der erste und alles möglich, er hatte gesehen, wie bezaubernd Montréal war. Er hatte gesehen, wie die Leute lächelten, wenn man ihnen in einem der Cafés ihren Cappuccino brachte oder sie ihre Blumen oder ihr Baguette in Empfang nahmen. Er hatte gesehen, wie im Herbst die Kinder die heruntergefallenen Kastanien zum Basteln einsammelten. Er hatte die alten Frauen gesehen, die untergehakt die Main Street entlanggegangen waren.

Er war weder so dumm noch so blind, dass er nicht auch all die obdachlosen Männer und Frauen bemerkte oder die bleichen, geschundenen Gesichter, die von einer langen, trostlosen Nacht zeugten und einem noch längeren vor ihnen liegenden Tag.

Aber tief in seinem Herzen hielt er das Leben für schön. Das spiegelte sich in seinen Fotos, die das Licht, das Strahlen, die Hoffnung einfingen. Natürlich auch die Schatten, die das Licht von Natur aus begleiteten.

Ironischerweise war es genau das, was CCs Aufmerksamkeit erregt und sie dazu gebracht hatte, ihm ein Angebot zu unterbreiten. Ein Artikel in einer Hochglanzzeitschrift aus Montréal hatte ihn als» angesagten «Fotografen bezeichnet, und CC gab sich immer nur mit dem Besten zufrieden. Weshalb sie auch immer ein Zimmer im Ritz nahmen. Ein enges, trübseliges Zimmer auf einer der unteren Etagen ohne Aussicht und Charme, aber im Ritz. CC würde das Shampoo und das Briefpapier mitnehmen, um damit ihren Wert zu demonstrieren, so wie sie ihn genommen hatte. Sie benutzte diese Dinge, um damit bei Leuten Eindruck zu schinden, denen das eigentlich egal war, so wie bei ihm. Irgendwann sortierte sie dann aus. So hatte sie ihren Ehemann ausgemustert, so ignorierte sie ihre Tochter oder machte sich über sie lustig.

 

In der Welt ging es brutal und unsensibel zu.

Davon war er mittlerweile auch überzeugt.

Er hasste CC de Poitiers.

Er stieg aus dem Bett, ließ CC de Poitiers und ihr Buch, das sie zärtlich betrachtete, zurück. Er sah sie an, und ihr Bild verschwamm vor seinen Augen. Er legte den Kopf schief und fragte sich, ob er wieder einmal zu viel getrunken hatte. Aber ihr Bild verschwamm noch mehr, dann wurde es wieder scharf, als würde er zwei verschiedene Frauen durch ein Prisma ansehen, die eine schön, glamourös, lebendig und die andere eine dumme, blondierte Ziege, ewig meckernd, bockig, kratzbürstig. Und gefährlich.

«Was ist das?«Er griff in den Papierkorb und holte eine Mappe heraus. Eine Künstlermappe, offenbar. Sie war sorgfältig und mit viel Geschmack in altes Büttenpapier gebunden. Er schlug sie auf, und ihm stockte der Atem.

Eine Serie von Arbeiten, licht und leicht, die auf dem Papier zu leuchten schienen. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust regte. Die Bilder zeigten eine sowohl bezaubernde als auch verletzliche Welt. Vor allem aber war es eine Welt, in der es noch Hoffnung und Trost gab. Es war eindeutig die Welt, die der Künstler täglich sah, die Welt, in der der Künstler lebte. So wie er selbst einmal in einer Welt voller Licht und Hoffnung gelebt hatte.

Die Bilder sahen einfach aus, waren in Wirklichkeit aber sehr komplex. Motive und Farben waren übereinandergeschichtet. Der Künstler musste viele Stunden und Tage daran gearbeitet haben, um den gewünschten Effekt zu erzielen.

Er blickte auf das vor ihm liegende Blatt. Ein majestätischer Baum ragte hoch in den Himmel, als strecke er sich nach der Sonne. Der Künstler hatte ihn fotografiert und dabei einen Moment der Bewegung eingefangen, ohne dass das Bild deswegen unruhig wirkte. Im Gegenteil, es strahlte Würde aus, Ruhe und vor allem Kraft. Die Spitzen der Zweige schienen zu schmelzen oder zu verschwimmen, so als bliebe bei allem Selbstvertrauen und Streben ein winziger Zweifel. Es war brillant.

Jeder Gedanke an CC war vergessen. Er war in den Baum geklettert, spürte beinahe das Kratzen der rauen Rinde, wie damals, als er auf dem Schoß seines Großvaters gesessen und sich an dessen unrasierte Wange geschmiegt hatte. Wie hatte der Künstler das nur zustande gebracht?

Er entdeckte keine Signatur. Er blätterte weiter und spürte, wie sich langsam ein Lächeln auf sein gefrorenes Gesicht stahl und bis in sein verhärtetes Herz drang.

Wenn eines Tages die Geschichte mit CC beendet war, könnte er vielleicht wieder seine eigentliche Arbeit aufnehmen und Bilder wie diese hier schaffen.

Mit einem Seufzer entwich all die Dunkelheit, die sich in ihm angesammelt hatte.

«Und, gefällt es dir?«CC hob ihr Buch hoch und wedelte damit herum.

2

Crie legte ihr Kostüm vorsichtig zurecht, um den weißen Chiffon nicht zu zerreißen. Das Krippenspiel hatte schon begonnen. Sie hörte die unteren Klassen» Es ist ein Ros’ entsprungen «singen, auch wenn es sich verdächtig nach» Es ist ein Ross entsprungen «anhörte. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie damit gemeint war. Machten sie sich über sie lustig? Sie verdrängte den Gedanken und fing leise vor sich hin summend an, in das Kostüm zu steigen.

«Wer ist das?«Über das Geplapper der vielen Kinder hinweg war die Stimme von Madame Latour, der Musiklehrerin, zu hören.»Wer summt da?«

Madames vogelähnliches, kluges Gesicht sah um die Ecke, wohin sich Crie verzogen hatte, um sich in Ruhe umzuziehen. Instinktiv packte Crie das Kostüm und versuchte, ihren fast nackten, vierzehnjährigen Körper damit zu bedecken. Was natürlich nicht ging. Zu viel Körper und zu wenig Chiffon.

«Warst du das?«

Crie starrte sie an und brachte vor Angst keinen Ton heraus. Ihre Mutter hatte sie gewarnt. Hatte sie davor gewarnt, in der Öffentlichkeit zu singen.

Aber heute war ihr so leicht ums Herz gewesen, dass sie sich zu einem Summen hatte hinreißen lassen.

Madame Latour sah auf das fette Mädchen und spürte Ekel in sich aufsteigen. Diese Fettwülste und die schrecklichen Dellen, die Unterwäsche, die unter den Fleischmassen verschwand. Das Gesicht wie eingefroren, ein starrer Blick. Der Physik- und Biologielehrer, Monsieur Drapeau, hatte gesagt, dass Crie in seinen Fächern die Beste sei, woraufhin ein anderer Lehrer eingeworfen hatte, dass in diesem Halbjahr Vitamine und Mineralstoffe Unterrichtsthema gewesen seien und dass Crie das Buch wahrscheinlich verschlungen hätte.

Wie dem auch war, sie nahm jedenfalls an der Aufführung teil, vielleicht ging sie endlich einmal aus sich heraus, auch wenn das natürlich einen ziemlichen Kraftakt darstellen würde.

«Du musst dich beeilen. Du bist gleich dran. «Sie verschwand, ohne auf eine Antwort zu warten.

Das war die erste Weihnachtsaufführung, an der Crie in den fünf Jahren, die sie nun schon Miss Edwards Mädchenschule besuchte, teilnahm. Die anderen Jahre hatte sie sich irgendwelche Entschuldigungen überlegt, während die anderen Schüler sich Gedanken über Kostüme machten. Keiner hatte je versucht, sie zum Mitmachen zu überreden. Stattdessen hatte man ihr die Aufgabe übertragen, für das Bühnenlicht zu sorgen, da sie nun mal ein Händchen für alles Technische hatte, wie Madame Latour es formulierte. Tote Materie, hatte sie gemeint. So kam es, dass Crie die Weihnachtsaufführung jedes Jahr allein im Dunkeln und nur von hinten sah, während die schönen, strahlenden, talentierten Mädchen tanzend und singend und von Crie ins rechte Licht gesetzt die Geschichte vom Weihnachtswunder vorgetragen hatten.

Nicht so in diesem Jahr.

Sie zog ihr Kostüm an und musterte sich im Spiegel. Eine riesige Schneeflocke aus Chiffon blickte zurück. Sie musste zugeben, dass es eher nach einer Schneeverwehung als einer einzelnen Schneeflocke aussah, aber immerhin war es ein Kostüm und eigentlich auch recht schön. Den anderen Mädchen hatten ihre Mütter geholfen, aber Crie hatte ihres ganz alleine genäht. Um Mommy zu überraschen, hatte sie sich eingeredet und versucht, die andere Stimme zum Schweigen zu bringen.

Wenn sie genau hinsah, konnte sie die winzigen Blutstropfen sehen, wo ihre dicken, plumpen Finger mit der Nadel herumgestochert und die eigene Hand getroffen hatten. Aber sie hatte sich davon nicht beirren lassen, bis das Kostüm fertig war. Und dann hatte sie einen Geistesblitz. Wirklich, es war der beste Gedanke, den sie in ihren vierzehn Jahren gehabt hatte.

Ihre Mutter verehrte das Licht, das wusste sie. Danach, erzählte sie ihr ohne Unterlass, strebten alle Menschen. Deshalb spreche man auch von Erleuchtung. Deshalb würden kluge Leute als Leuchten oder helle Köpfe bezeichnet. Würden dünne Leute sich durchsetzen. Weil zwischen leicht und licht eine innere Verwandtschaft bestand.

Es war alles völlig einleuchtend.

Deshalb spielte Crie jetzt eine Schneeflocke. Das weißeste, leichteste aller Elemente. Und was brachte sie zum Strahlen? Nun, sie war in einen Ramschladen gegangen und hatte von ihrem Taschengeld eine Tube Glitzercreme gekauft. Mit starr nach vorne gerichtetem Blick und angehaltenem Atem hatte sie es geschafft, an den Schokoladenriegeln vorbeizugehen. Crie machte jetzt schon seit einem Monat Diät, bestimmt würde ihre Mutter es bald bemerken.

Sie trug die Glitzercreme auf und sah sich das Ergebnis an.

Das erste Mal in ihrem Leben fand sich Crie schön. Und sie wusste, dass in wenigen Minuten ihre Mutter dasselbe denken würde.

Clara Morrow sah durch die mit Eisblumen übersäten Sprossenfenster in ihrem Wohnzimmer auf das winzige Dorf Three Pines. Sie beugte sich vor und wischte die Scheibe an einer Stelle frei. Jetzt, wo wir etwas Geld haben, dachte sie, sollten wir die alten Fenster endlich ersetzen. Clara wusste, dass das die vernünftigste Entscheidung wäre, doch die meisten ihrer Entscheidungen wurden nicht von der Vernunft gesteuert. Aber sie fügten sich in ihr Leben. Während sie die an eine Schneekugel erinnernde Szenerie betrachtete, wurde ihr klar, dass es ihr gefiel, das Dorf durch das schöne Muster, das der Frost auf das alte Glas malte, hindurch anzusehen.

Sie nippte an ihrer heißen Schokolade und beobachtete die bunt gekleideten Dorfbewohner, die durch den in sanften Flocken fallenden Schnee spazierten, sich mit behandschuhten Händen zuwinkten und ab und zu stehen blieben, um miteinander zu plaudern, wobei sie wie Comicfiguren beim Sprechen kleine Wölkchen hervorstießen. Einige waren auf dem Weg in Oliviers Bistro auf einen café au lait, andere holten frisches Brot oder einen gateau au chocolat in Sarahs Bäckerei. Myrnas Buchladen neben dem Bistro war heute geschlossen. Monsieur Béliveau schippte Schnee vor seinem Gemischtwarenladen und winkte Gabri zu, der mit wehendem Mantel über den Dorfanger zu seiner Pension an der Ecke eilte. Für einen Fremden hätten die Dorfbewohner einer wie der andere ausgesehen, ja selbst geschlechtslos. Im Winter sahen in Québec alle gleich aus. Große rudernde, watschelnde, dick verpackte Daunen- und Watteberge, sodass selbst die Schlanken mollig wirkten und die Molligen wie Kugeln. Alle sahen gleich aus. Bis auf die Strickmützen auf ihren Köpfen. Clara konnte sehen, wie Ruths hellgrüne Toque Waynes bunt gestreifter Pudelmütze zunickte, die Pat an langen Herbstabenden gestrickt hatte. Die Lévesque-Kinder trugen verschiedene Blautöne, während sie auf dem zugefrorenen Teich ihrem Eishockeypuck hinterherjagten, die kleine Rose im Tor fror so sehr, dass Clara ihren wasserblauen Bommel zittern sah. Ihre Brüder liebten sie, und jedes Mal, wenn sie auf das Tor zurasten, taten sie so, als stolperten sie, und statt einen scharfen Schlagschuss abzugeben, schlitterten sie langsam auf sie zu, bis sie alle in einem riesigen, lachenden Haufen an der Torlinie endeten. Das Ganze erinnerte Clara an einen der Kunstdrucke von Currier und Ives, die sie als Kind stundenlang betrachten konnte und sich dabei immer gewünscht hatte, hineinsteigen zu können.

Three Pines lag unter einer dicken weißen Decke. In den letzten paar Wochen waren dreißig Zentimeter Schnee gefallen, und jedem der alten Häuser am Dorfanger war eine strahlend weiße Mütze aufgesetzt worden. Rauch stieg aus den Kaminen auf, als hätten die Häuser eigene Stimmen und einen eigenen Atem, die Gartentore und Haustüren waren weihnachtlich geschmückt. Nachts erstrahlte das stille kleine Dorf in den Eastern Townships im Glanz der Lichterketten. In Vorbereitung des großen Tages war unter Erwachsenen und Kindern fröhliche Geschäftigkeit ausgebrochen.

«Vielleicht springt ihr Auto nicht an«, Claras Ehemann Peter trat ins Zimmer. Er war groß und schlank und sah aus wie ein Top-Manager, wie sein Vater. Aber anders als dieser verbrachte er seine Tage damit, sich über seine Staffelei zu beugen und mit akribischer Genauigkeit seine abstrakten Bilder zu malen, wobei er regelmäßig auch ein wenig Ölfarbe in seine lockigen grauen Haare brachte. Sie gingen für Tausende von Dollar an Sammler auf der ganzen Welt, aber weil er so langsam arbeitete und nur ein oder zwei im Jahr produzierte, lebten er und Clara in Armut. Bis vor nicht allzu langer Zeit jedenfalls. Claras Gemälde von Kriegerinnen und ihren Uteri und schmelzenden Bäumen mussten erst noch ihren Markt finden.

«Sie kommt schon noch«, sagte Clara. Peter sah seine Frau an, ihre Augen waren blau und warm, ihr einst dunkles Haar von Grau durchzogen, obwohl sie erst Ende vierzig war. Um den Bauch und die Hüften herum wurde sie langsam etwas rundlich, kürzlich hatte sie davon gesprochen, dass sie wieder Madeleines Gymnastikkurs besuchen wollte. Er war klug genug, keine Antwort zu geben, als sie ihn fragte, wie er die Idee fände.

«Bist du sicher, dass ich nicht mitfahren kann?«, fragte er mehr aus Höflichkeit als aus einem echten Bedürfnis heraus, sich in Myrnas Blechkiste zu quetschen und sich auf dem langen Weg bis in die Stadt durchschütteln zu lassen.

«Natürlich nicht. Ich will doch dein Weihnachtsgeschenk kaufen. Abgesehen davon ist im Auto nicht genug Platz für Myrna, mich, dich und die Geschenke. Wir müssten dich in Montréal zurücklassen.«

Vor ihrem offenen Gartentor hielt ein winziges Auto, dem eine mächtige schwarze Frau entstieg. Das mochte Clara an den Ausflügen mit Myrna vielleicht am liebsten. Zuzusehen, wie sie in ihr mikroskopisch kleines Auto ein- und ausstieg. Clara war überzeugt, dass Myrna im Grunde größer als das Auto war. Es war schon zum Schreien, Myrna im Sommer dabei zu beobachten, wie sie sich hineinwand, während ihr Kleid sich bis zur Taille hochschob. Myrna lachte nur darüber. Im Winter war es noch lustiger, weil sie dann einen dicken rosafarbenen Anorak trug, der ihren Umfang nahezu verdoppelte.

 

«Ich stamme von einer Insel, Kindchen. Mir ist einfach kalt.«

«Du stammst von der Insel Montréal«, stellte Clara fest.

«Stimmt«, bekannte Myrna mit einem Lachen.»Allerdings von der Südseite. Ich liebe den Winter. Es ist die einzige Zeit, in der ich eine rosa Haut bekomme. Was meinst du? Ginge ich durch?«

«Als was?«

«Als Weiße.«

«Willst du das denn?«

Myrna sah ihre beste Freundin auf einmal ganz ernst an, dann lächelte sie.»Nein. Nein, nicht mehr. Nein.«

Die Antwort schien ihr zu gefallen, auch wenn sie darüber ein bisschen überrascht zu sein schien.

Jetzt stiefelte die falsche Weiße in ihrer aufgeplusterten rosa Haut, mit mehrfach um den Hals geschlungenen Schals und einer lila Mütze mit orangefarbenem Bommel den gerade erst freigeschaufelten Weg hoch.

Sie wären schnell in Montréal. Es war eine kurze Fahrt, weniger als anderthalb Stunden, selbst bei diesen Witterungsverhältnissen. Clara freute sich auf den Nachmittag, den sie mit Weihnachtseinkäufen verbringen wollte, aber der Höhepunkt des Ausflugs, eines jeden Ausflugs nach Montréal zur Weihnachtszeit, war ein Geheimnis. Ihr ganz persönliches Vergnügen.

Clara Morrow konnte es kaum erwarten, das Weihnachtsschaufenster von Ogilvy’s zu sehen.

Das Nobelkaufhaus mitten in Montréal hatte das schönste Weihnachtsschaufenster auf der ganzen Welt. Mitte November wurden die riesigen Fensterscheiben plötzlich mit schwarzem Papier bedeckt. Dann begann das gespannte Warten. Wann würde der Schleier, hinter dem sich das Wunderwerk verbarg, gelüftet? Als Kind hatte Clara das aufregender gefunden als die Santa-Claus-Parade. Kaum hatte sich herumgesprochen, dass Ogilvy’s das Papier endlich wieder entfernt hatte, war Clara nach Downtown zu dem magischen Schaufenster geeilt.

Dann war es so weit. Clara lief auf das Schaufenster zu, aber kurz davor blieb sie stehen, gerade so, dass es außerhalb ihrer Sichtweite war. Sie schloss die Augen und sammelte sich, dann machte sie einen Schritt nach vorne, öffnete die Augen und sah es. Claras Dorf. Der Ort, an den sie sich in ihrer Kindheit flüchtete, wenn Enttäuschungen und erste Grausamkeiten ihre zarte Seele bedrückten. Sommer wie Winter, alles was sie tun musste, war, die Augen zu schließen, und schon war sie dort. Bei den tanzenden Bären und Schlittschuh laufenden Enten und bei den Fröschen in ihren viktorianischen Kostümen, die von einer Brücke ihre Angeln ins Wasser hielten. Nachts, wenn das Monster unter den Dielen ihres Zimmers schnaubte und schnaufte und mit seinen langen Krallen schabte, dann kniff sie ihre kleinen blauen Augen zusammen und versetzte sich in das magische Fenster und in das Dorf, das das Monster niemals finden konnte, weil der Eingang von Freundlichkeit bewacht wurde.

Als sie älter war, geschah etwas ganz Wunderbares. Sie verliebte sich in Peter Morrow und erklärte sich bereit, New York später im Sturm zu erobern. Stattdessen zog sie in das kleine Dorf südlich von Montréal, das er so sehr mochte. Clara kannte die Gegend nicht, sie war ein richtiges Stadtkind, aber sie liebte Peter so sehr, dass sie nicht eine Sekunde zögerte.

So kam es, dass Clara, clevere und zynische Absolventin der Kunstakademie, vor sechsundzwanzig Jahren aus ihrem klapprigen VW Käfer stieg und in Tränen ausbrach.

Peter hatte sie in das verzauberte Dorf ihrer Kindheit gebracht. Das Dorf, das sie in dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit und in der Überheblichkeit, die das Erwachsenendasein begleiteten, vergessen hatte. Ogilvy’s Schaufenster gab es also in Wirklichkeit, und es hieß Three Pines. Sie hatten ein kleines Haus am Dorfanger gekauft und sich ein Leben geschaffen, das mehr Zauber in sich barg, als Clara jemals zu träumen gewagt hätte.

Ein paar Minuten später öffnete Clara in dem gut geheizten Auto den Reißverschluss ihres Anoraks und betrachtete die vorüberziehende Schneelandschaft. Dies war ein besonderes Weihnachten, aus Gründen, die zugleich furchtbar und wunderbar waren. Ihre liebe Freundin und Nachbarin Jane Neal war vor gut einem Jahr ermordet worden und hatte Clara ihr gesamtes Vermögen vermacht. Das vorangegangene Weihnachten hatte sie ein zu schlechtes Gewissen gehabt, um etwas von dem Geld auszugeben. Sie hätte das Gefühl gehabt, von Janes Tod zu profitieren.

Myrna warf Clara einen Blick zu, ihre Gedanken nahmen dieselbe Richtung. Sie erinnerte sich an die liebe, tote Jane Neal und den Rat, den sie Clara nach dem Mord an Jane gegeben hatte. Myrna war es gewohnt, Ratschläge zu erteilen. Sie hatte in Montréal als Psychotherapeutin gearbeitet, bis ihr klar geworden war, dass die meisten ihrer Patienten eigentlich gar nicht wollten, dass es ihnen besser ging. Sie wollten eine Pille und die Bestätigung, dass es nicht ihre Schuld war, wenn irgendetwas schiefging.

Irgendwann hatte Myrna das Handtuch geworfen. Sie hatte ihr kleines rotes Auto mit Büchern und Kleidern vollgeladen und war über die Brücke gefahren, von der Insel Montréal herunter, nach Süden in Richtung der Grenze zu den USA. Sie wollte nach Florida, sich an den Strand setzen und überlegen, was sie tun sollte.

Aber das Schicksal und eine Heißhungerattacke waren ihr dazwischengekommen. Myrna war in gemütlichem Tempo über die gewundenen Landstraßen gefahren und erst etwa eine Stunde unterwegs, als sie plötzlich Hunger überkam. Das Auto schnaufte auf einer Schotterstraße einen Hügel hoch, von der Kuppe aus sah sie plötzlich versteckt in den Wäldern ein Dorf zu ihren Füßen liegen. Myrna war so verzaubert von dem Anblick, dass sie anhielt und ausstieg. Das Frühjahr neigte sich dem Ende zu, und die Sonne nahm langsam an Kraft zu. Ein Bach rauschte unter einer alten steinernen Mühle durch, an einer weiß gestrichenen Holzkirche vorbei und mäanderte am Rand des Dorfes entlang. Das Dorf selbst bildete einen Kreis um den Dorfanger, von dem in alle vier Richtungen unbefestigte Straßen abgingen. Die alten Häuser um den Dorfanger waren zum Teil im Québecer Stil mit steil abfallenden Blechdächern und schmalen Gauben gebaut, andere waren geschindelt und hatten breite, offene Veranden. Mindestens eines war aus Naturstein, errichtet aus den Steinen der umliegenden Felder, von einem Pionier, der im Wettlauf mit dem herannahenden, mörderischen Winter geschuftet hatte.

Auf dem Anger befand sich ein Teich, an dessen einem Ende erhoben sich drei majestätische Kiefern.

Myrna holte ihre Karte von Québec hervor. Nach ein paar Minuten faltete sie sie wieder zusammen und lehnte sich verwundert gegen das Auto. Das Dorf war nicht in der Karte verzeichnet. Es waren Orte darin verzeichnet, die seit Jahrzehnten nicht mehr existierten. Es waren winzige Fischerdörfer und Weiler, die aus zwei Häusern und einer Kirche bestanden, darin verzeichnet.

Aber dieses Dorf nicht.

Sie sah zu den Dorfbewohnern hinunter, die in ihren Gärten arbeiteten, ihre Hunde ausführten oder lesend auf einer Bank am Teich saßen.

Vielleicht war es ein verzaubertes Dorf wie im Märchen, tauchte nur alle paar Jahre auf und erschien dann auch nur Leuten, die sich danach sehnten. Dennoch zögerte Myrna. Bestimmt gab es auch dort nicht das, wonach sie sich sehnte. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und wäre nach Williamsburg gefahren, das wenigstens auf der Karte stand, aber dann entschloss sie sich, das Wagnis einzugehen.