Duft von Walderdbeeren

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Duft von Walderdbeeren
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Ljubica Perkman

DUFT VON WALDERDBEEREN

Collage-Roman

Übersetzung: Ana Hesse

Lektorat: Peter Völker

Bilder für Titelseite und Innenteil: Ljubica Perkman

Rezensent: Prof. Momcilo Spasojevic

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Hochzeit

Es kann nicht jeder glücklich sein

Orkan

An einem Wintertag

Markttag

Diebstahl

Der Lehrer

Winterferien

Maja

Abreise nach Deutschland

Ihre erste Bekanntschaft

Laura

Aida

Hunger

Der Kürbis

Walderdbeeren

Ein Buch von reicher und unerschöpflicher Schönheit

Biografie

Danksagung

Vorwort

Schon beim Anlesen des Buches von Ljubica Perkman entsteht ein Sog in eine fremde Kultur, gebaut aus zahllosen lebendigen Facetten, die teilweise brutal (Die Hochzeit) anmuten, andererseits von tiefer Empfindsamkeit geprägt sind (Maja). Und wenn man weiterliest, entsteht gar ein Lebensstrudel, der neugierig in diese Welt der Autorin hineinzieht. Dieses Eintauchen geschieht nicht durch eine geschickt aufgebaute Dramaturgie. Man wird vielmehr wie von selbst an die Hand genommen in den Bergen rund um Banja Luka, steht neben den Heldinnen und Helden des Alltags und eine schlichte innere und äußer Schönheit offenbart sich. Ganz freiwillig wird man ein Teil davon von Zeile zu Zeile und kann und will sich nicht wehren. Ein wenig Melancholie schwingt immer mit.

Selbst bei den dramatischen Szenen (Walderdbeeren) beschleicht den Leser keine Angst. Zwischen den Worten offenbaren sich gleichermaßen Ljubica Perkmans tiefer Humanismus, wie ihre Freude zum schlichten Leben. Der deutlich spürbare Zwang der gesellschaftlichen Verhältnisse, besonders des jüngsten Krieges in ihrer Heimat (Der Kürbis), gewinnt nie die Oberhand. Die gelebte Liebe setzt sich durch, ganz einfach aber unaufhaltsam. Der offene Mensch kann die Konventionen, Dogmen und Traumata seiner Zeit mit der Kraft der Liebe besiegen. Das ist Ljubica Perkmans Erfahrung, Philosophie und Botschaft gleichermaßen.

Das Buch verweist in zweierlei Hinsicht auf die Einsicht und Hoffnung der Autorin wie der Heldinnen und Helden ihrer Geschichten. So schwer auch die Last des Erlebten ist, alle hoffen auf eine bessere Zukunft und die liegt hinter dem Horizont ihres teilweise brutalen Alltags. Ljubica Perkman weiß, wenn man im Leben etwas grundlegend verändern, die Traumata hinter sich lassen und glücklich sein will, muss man die Welt hinter dem eigenen Horizont finden und sich ein neues Lebenshaus bauen.

In ihrer Heimat gibt es viele traumatisierte Menschen, die glauben, dass Konventionen und Dogmen wichtiger sind als die Liebe. Daran klammern sie sich und verschließen sich. Das eigene, auch das bescheidene Lebensglück wird nicht selten geopfert. Die Liebe blickt aber immer offen hinter den Horizont der herrschenden Verhältnisse und gibt einem die Kraft diese zu überwinden. Beim Lesen tauchen die Bilder ihrer landschaftlich zerfurchten Heimat rund um Celinac auf. In den Tälern ist der Horizont begrenzt, aber wenn man auf einen Berg mit unberührter Natur steigt, wie die kleine »Maja« das in den Geschichten tut, weitet sich der Horizont und es entsteht eine neue (Lebens-)Perspektive.

Peter Völker


Hochzeit

An den steilen Hang des Berges Lipovac schmiegte sich das Dörfchen Oskari mit gefährlichen, steil abfallenden Wegen hinunter zum Fluss Vrbanja.

Im Dorf lebten nur wenige Familien. Zu Beginn des Herbstes bereiteten sich die Bewohner mit Holz und eingemachtem Gemüse und Früchten auf den langen Winter vor. Das Leben hier war ein täglicher Kampf, vor allem im Winter, wenn die schmalen Wege ins Tal von hohem Schnee bedeckt waren.

In diesem Dorf wurde Mila geboren und wuchs mit ihren Schwestern auf. Sie war ein schönes Mädchen; hochgewachsen, schlank, mit langen braunen Haaren, die sie immer geflochten trug. Tief in ihren grünen Augen spiegelte sich das Grün der umliegenden Wälder des Berges wider. Ihr Vater war ein Landesfürst und weithin bekannt. Er war klug, fleißig und reich. Er hatte einen großen Besitz mit viel Vieh und einer Mühle am Bach, in der auch die Nachbarn ihr Mehl mahlen durften. Früher gab es im Dorf keine Schule, auch keine Lehrer, die zu Hause unterrichteten, so dass er sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hatte. Viele Menschen kamen von weit her, um ihn um Rat zu fragen oder er half ihnen bei Dokumenten für die Stadtverwaltung oder für das Gericht.

Seine Frau Rada war früh gestorben, so war er mit den Söhnen Rade, Stojan, Stevo, Dule und Maleni alleine und musste sich um sie kümmern. Eines Tages beschloss er, nicht weiter alleine zu leben, denn es war schwer für ihn, Kinder groß zu ziehen ohne eine weibliche Hand im Haus. Er suchte sich die schönste Frau im Dorf aus, Andjelka, und bekam mit ihr noch vier Töchter: Mila, Vida, Stana und Mara.

Das Leben der Familie spielte sich ausschließlich auf dem weitläufigen Grundbesitz ab. Die Kinder gingen weder in eine Schule noch auf dörfliche Veranstaltungen, wo die Dorfjugend zusammen kam. Die anderen jungen Mädchen verbrachten dort ihre Abende singend, strickend oder webend und wer als junger Mann eine nette Frau kennen lernen oder eine wiedersehen wollte, musste auf diese Dorfveranstaltungen gehen. Mile erzog seine Kinder sehr streng. Er wollte sie von Allem fern halten. So brachte sich Mila schon als kleines Kind das Lesen und Schreiben selbst bei. Während der Woche hatte sie dafür allerdings keine Zeit, weil sie im Haus und auf der Weide viele Aufgaben zu erledigen hatte. Sonntags war Ruhetag im Haus. An diesem Tag durfte man keine Arbeiten erledigen. Nur das Kochen und Essen zubereiten war gestattet und eben das Ausruhen.

Die mittlerweile 18-jährige Mila nutzte diese Tage heimlich zum Lernen und las die Notizen ihres Vaters. Sie bat ihre Schwestern, gemeinsam das Lesen und Schreiben zu lernen, aber diese wollten nicht und so blieben sie Analphabeten.

Die Mädchen verbrachten die Winter im Haus mit Handarbeiten. Sie webten Handtücher, Bettlaken, weiße Taschentücher für ihre kommende Hochzeit und Vieles mehr. Und als Mila ihr Taschentuch bestickte, hätte sie nie gedacht, dass sie schon bald damit winken würde. Das Schicksal wollte es aber so …

Auf den Dorfveranstaltungen war es Tradition, dass die Mädchen ein weißes Taschentuch in der Hand hielten. Gefiel einer jungen Frau ein Mann, so ließ sie das Taschentuch fallen und der Mann, wenn er denn wollte, würde es aufheben, einstecken und damit bei ihren Eltern um sie werben. Und wenn die Eltern dann ihre Töchter verheirateten, wurde Vieh verkauft und davon die Aussteuer und Möbel für das neue gemeinsame Heim bezahlt, um den Jungvermählten einen kleinen Start zu ermöglichen. Diese Mitgift nannte man Sexena; sie wurde während der Hochzeit auf einem Wagen für alle sichtbar mitgeführt.

Als Vater Mile starb, übernahmen die Söhne seine Arbeit und wahrten die Tradition. Streng wachten sie über die Schwestern. Eines Tages kam ein Werber, der um Milas Hand anhielt. Mila durfte während des Gesprächs nicht anwesend sein, sondern musste bei den Schwestern bleiben. Sie lauschte dem Gespräch zwischen ihren Brüdern und den Gästen. Sie fühlte sich vor Angst und Ungeduld ganz schwach. Als die Fremden gegangen waren, öffnete der älteste Bruder Nikola die Tür zum Zimmer der Schwestern und sagte zu ihr: »Mila, du bist versprochen worden. Wir haben diesem Werber zugestimmt und du wirst ihn heiraten. Bereite dich auf deine Hochzeit vor.«

 

Mila war bestürzt und bat darum, dass sie noch nicht heiraten müsse. Sie liebte ihr Zuhause, ihre Geschwister, das Land. Sie begann zu weinen und flehte ihre Brüder an, noch etwas zu warten. Sie wolle so gerne noch bei ihrer Familie bleiben.

»Ich werde nicht aus diesem Haus gehen und wen soll ich überhaupt heiraten?«, rief sie schrill und schnippte dabei mit den Fingern.

»Mach dir keine Sorgen, Mila! Wenn die Hochzeitsgesellschaft dich holen kommt, dann wirst du deinen Bräutigam schon kennen lernen«, antwortete Nikola streng.

»Eher werde ich sterben, als einen Unbekannten zu heiraten«, schluchzte Mila.

Dann flog sie an den Hals ihrer Mutter. »Mutter, lass nicht zu, dass ich gehen muss! Ich möchte so gerne noch hier bei dir, bei euch bleiben«, bettelte Mila.

»Mein liebes Kind«, sagte die Mutter, »du bist erwachsen und du weißt, dass ich mich deinem Bruder nicht entgegenstellen darf. Er ist sehr streng und er hat dich bereits versprochen. Du musst deinen Brüdern gehorchen!«

Mila weinte bitterlich. Die Mutter versuchte sie zu beruhigen:

»Weißt du mein Kind, deine Brüder haben gedroht, falls du diesen Mann nicht heiraten wirst, dem sie dich versprochen haben, würden sie dir mit der Axt den Kopf abhacken – wie bei einem Huhn. Es ist besser, du tust, was sie sagen, denn sie halten ihr Wort, wenn sie es gegeben haben«, sprach die Mutter. Mila trauerte Tag und Nacht. Sie konnte nicht mehr glücklich sein, aber es gab für sie keinen Ausweg. Sie dachte darüber nach, sich im Fluss zu ertränken.

Die Familie war bereit für die Hochzeit. Sie kauften ein Spanferkel, ein Lamm und ein Kälbchen. Die Mutter buk Brote und Kuchen. Mila wusste nichts über ihren zukünftigen Ehemann, weder wie er aussah, noch wie sein Charakter war. Diese Unwissenheit machte Mila krank und zehrte schwer an ihr.

Der Herbst hatte auf dem Hof sein buntes Laub verstreut und langsam hörte man den nahenden Gesang der Hochzeitsgesellschaft. Durch die kleinen Fenster des alten Hauses sah Mila die vielen Menschen auf dem Hof stehen. Sie sprachen laut miteinander, eine Flasche Schnaps kreiste zwischen den Männern von Hand zu Hand, sie sangen und riefen Trinksprüche.

Im Haus zogen die Schwestern Mila für ihre Hochzeit an. In Milas dichtes schwarzes Haar wurden Rosen eingeflochten, die schönsten, die es im Garten gab Sie hatte ein weißes, selbst gewebtes Brautkleid an und musste immer wieder die Tränen stumm hinunter schlucken. Mila glaubte, an ihnen zu ersticken und ihr Herz schlug rasend schnell vor Angst. Die Schwestern versuchten sie zu trösten. Lange hielten sich die Schwestern mit den Vorbereitungen auf. Als sie fertig waren, führten sie Mila aus dem Zimmer und übergaben sie dem ältesten Bruder, der stolz da stand, seine Schwester an der einen und in der anderen Hand eine Flasche Schnaps.

Er fuchtelte mit der Flasche herum und winkte seinen Gästen zu.

Im Hof sangen sie immer noch Trink- und Hochzeitslieder und warteten darauf, dass der älteste Bruder die Braut an die Hochzeitsgäste übergeben würde.

Nikola erschien mit Mila am Arm, die einer Prinzessin glich. Beide schritten über den Hof. Sie war eine wunderschöne junge Frau mit ihrem Brautschmuck. Die Hochzeitsgäste blieben nur kurz, um sich zu amüsieren. Kurz darauf zogen sie mit der jungen Braut, hinter dem »Sexene« laufend, fort.

Die Hochzeitsgäste tranken, feierten, spielten Lieder auf der Mundharmonika. Eine bunte, fröhliche Karawane, die immer wieder stehen blieb, sich zuprostete, Kolo tanzte, feierte und sang:

»Kommen durch die Gassen, die Hochzeitsgäste

aus dem Dorf, Rosmarin im Knopfloch,

weiße Tücher umgebunden.

Schellen klingen an geschmückten Pferden,

Hügel hallen wider von den Klängen des Liedes.

Sie kommen, sie kommen durch die Gassen,

die Hochzeitsgäste aus dem Dorf.

Der Herbst beschenkt sie mit buntem Laub.

Die Braut hat unschuldig aufgelöst das schwarze

Haar, das mit weißem Schleier geschmückt war.

Der Schleier flattert und die Braut ist besorgt,

Wahrhaftig ist die Liebe, die trotzige Liebe.

Sie kommen, sie kommen durch die Gasse,

die Hochzeitsgäste des Dorfes,

das Lied verliert sich in der Ferne,

es widerklingen die Landstraßen davon.«

Als die Hochzeitsgesellschaft weit vom Hause ihrer Familie entfernt war, bat Mila eine ältere Frau, ihr zu zeigen, wer der Bräutigam ist. Die fröhliche, rundliche Frau zeigte mit der Hand auf einen Mann in der ersten Reihe.

»Schau, der Mann mit dem schwarzen Hut, sie nennen ihn Jovan, das ist dein Mann.«

Und dann brach die Frau in ein schrilles Gelächter aus und es klang, wie das Lachen einer Hexe.

Mila schaute noch einmal auf den Mann, den man ihr zum Ehemann ausgesucht hatte. Er war jung und ausgelassen. Durch ihre Brust drang ein tiefer Seufzer. »Lieber Gott, was wird mich noch erwarten?«

Nach einem längeren Fußmarsch durchschritten sie den Fluss Vrbanja und näherten sich dem Elternhaus des Bräutigams. Vor dem Haus erwarteten sie der Brautvater, Stojadin, und die Mutter, Djurdja, mit Gästen.

»Bringst du uns deine Braut mit, mein Sohn?«, tönte die Stimme des Vaters.

»Ja, Vater, ich bringe sie mit!«, hallte der Ruf des Bräutigams dem Vater entgegen.

»Schau selbst, Vater, ob sie was taugt.«

Stojadin näherte sich der jungen Braut, seiner künftigen Schwiegertochter Mila. Er reichte ihr die Hand. Mila knickste vor dem Schwiegervater und küsste ihm die dargebotene Hand, wie es sich gehörte. Stojadin schaute sich die Braut von allen Seiten an.

»Sie taugt was«, rief der Brautvater, »sie ist robust und schön und eine gute Braut.«

Und dann rief er lauthals: »Hoch sollen sie leben! Es leben Braut und Bräutigam!«

Und die Gäste erwiderten lauthals »Es leben Braut und Bräutigam!«

»Djurdja«, rief der Brautvater, »bring mir einen Apfel, damit die Braut ihn über das Haus werfen kann!«

Dies war eine Zeremonie, um Kraft und Entschlossenheit der Braut zu testen. Nun waren alle gespannt, ob Mila den Wurf schaffen oder der Apfel am Dach zurückprallen würde.

Mila, die mit gesenktem Kopf da stand, richtete den Blick nach oben, schaute ihre Schwiegermutter an und sagte: »Möge mir Gott helfen, Mutter«, und die Schwiegermutter antwortete ihr »Er möge dir helfen! Herzlich willkommen, mein Kind!«

Dann gab sie ihr den Apfel. Mila holte weit zum Wurf aus. Der Apfel flog und flog, höher und höher und ward nicht mehr gesehen.

Als alle sahen, wie stark und geschickt Mila war, herrschte überraschtes Schweigen. Man hörte respektvoll: »Du lieber Himmel, so eine starke, junge Frau!« und dann begann die Gesellschaft erneut zu feiern.

Der Bräutigam war leicht betrunken, zog seine Braut zu sich und forderte sie auf: »Komm, Mädchen, tanzen wir Kolo. Heute Nacht ist unsere Nacht. Du wirst ab heute hier zu Hause sein. Aber du wirst darauf hören müssen, was ich dir sage. Im Haus sind wir Viele. Wir sind eine große Familie. Wir sind fünf Brüder und alle leben wir mit unseren Frauen und Kindern hier. Du wirst dich daran gewöhnen müssen.«

Die Nacht verging mit Feiern und ausgelassener Fröhlichkeit. Als die Hochzeitsgäste auseinander gingen, war die Zeit gekommen, dass auch das Brautpaar zu Bett ging. Jovan nahm Mila an die Hand und zeigte ihr mit dem Finger, in welches Zimmer sie gehen mussten. Mila brach in Tränen aus. Sie versuchte sich aus seinem Griff zu lösen und dann fiel sie in Ohnmacht. Jovan war beunruhigt. Er durfte nicht zu laut sein. Er nahm einen Eimer mit Wasser und übergoss Mila, damit sie wieder zu sich kam.

Er hatte große Mühe, sie ins Zimmer zu bringen und auf das Bett zu legen, welches mit einem dünnen weißen Bettlaken überzogen war. Ein weißes besticktes Kopfkissen und weißes Bettzeug wartete auf das Brautpaar. So konnte man nach der Hochzeitsnacht kontrollieren, ob die Braut noch Jungfrau gewesen war.

Mila kam langsam zu sich. »Lieber Gott, wo bin ich hier?«, fragte sie mit brüchiger Stimme. Dann fiel ihr Blick auf eine Wiege.

Sie sprang mit einem Satz aus dem Bett und verlor erneut das Bewusstsein. Jovan zog seinen Anzug in Erwartung der Hochzeitsnacht aus, Mila aber konnte sich an diese für sie furchtbare erste Ehe-Nacht später nicht erinnern. Sie wusste nicht einmal mehr, wann sie wieder zu sich gekommen war. Der Morgen brach an. Jovan schlief tief und fest. Mila erwachte und sah überrascht ein Baby in der Wiege liegen, welches friedlich schlummerte.

Zärtlich streichelte sie dem Kind über die Wangen und flüsterte: »Kleines, wem gehörst du denn? Oder bist du ein armes Kleines, welches ohne Mutter geblieben ist? Wie heißt du denn?«, fragte Mila leise.

Jovan hörte das Flüstern und öffnete die Augen. »Das Baby heißt Dana. Merke es dir gut, es ist jetzt unser Kind.«

»Wie, unser Kind?«, fragte Mila erstaunt.

»Frag nicht weiter, wir wecken noch das Kind«, brummte Jovan streng. »Höre, Weib, die Mutter der kleinen Dana ist gestorben. Von nun an wirst du dich um das Kind kümmern.«

»Wie, warum – was ist mit der Mutter passiert?«, wollte Mila wissen.

»Frag nicht so viel, ich kann dir nicht immer alles erklären. Es ist nur wichtig, dass du dich um das Baby kümmerst. So, als wäre es dein Kind. Verstanden?«

»Verstanden«, antwortete Mila.

Die Tage vergingen, wie die Blätter von den Bäumen fielen die Zeit rann dahin und Mila badete das Baby oft, fütterte es und erzog es beinahe immer singend.

Sie traute sich nicht mehr, nach der Mutter des Kindes zu fragen und am liebsten wäre sie aus dem Haus gelaufen. Irgendwohin. Nur weit weg von hier. Jovan machte aus dem Tod der Mutter des Babys ein großes Geheimnis. Auf jede Frage erntete sie nur seinen strengen Blick oder eine Back-pfeife. Irgendwann entschloss sie sich, zu schweigen und nicht mehr zu fragen.

Mila musste oft seufzen und machte sich Mut, in dem sie sich immer wieder vorsagte: »Das Schicksal hat es so bestimmt.« Niemandem konnte sie ihre Traurigkeit mitteilen. Auch nicht ihren Schmerz, der ihre junge Seele auffraß.

Milas Schwägerinnen waren hinterlistig und klug. Alles was Mila erzählte, wurde an die Schwiegermutter weiter getragen. Daraufhin gab es Schläge und böse Worte von Jovan. Eines Tages beobachtete Mila, wie eine junge Frau die Leiter zum Dachboden hochkletterte. Sie hatte langes dunkles Haar und einen weißen Rock an. Kurz darauf folgte der jungen Frau ihr Ehemann Jovan. Und es dauerte lange, bis beide wieder erschienen. So wurde sie Augenzeugin des Ehebruches, aber erzählen durfte sie es niemandem.

Im Haus und auf dem Feld gab es viel Arbeit. Der Mais wurde angepflanzt, geerntet, verarbeitet. Mila war gehorsam. Sie nahm jede Arbeit wortlos an. Wenn Mila auf dem Feld arbeitete, hatte sie immer die kleine Wiege mit dem Kind dabei, damit sie es beruhigen konnte, wenn es weinte. Eines Tages waren ihre Schwägerinnen gut gelaunt und sprachen offen über die Geschehnisse im Haus. Mila wollte vor Neugier sterben. Sie wollte unbedingt wissen, wie die Mutter des Kindes gestorben war. Sie nahm allen Mut zusammen und fragte eine ihrer Schwägerinnen, Stojana: »Liebe Stojana, sag mir bitte, was ist mit der Mutter des Kindes geschehen?«

»Du fragst mich, wie das Kleine ohne Mutter bleiben konnte? Wenn ich dir das sage und dein Mann erfährt es, wird es dir nicht gut ergehen. Es ist besser, ich sage es dir nicht. Er ist ein schwieriger Charakter, dein Mann.«

»Ich schwöre dir, Stojana, ich werde es ihm niemals sagen. Er wird niemals von mir erfahren, dass ich es weiß. Niemals. Hörst du?«

Stojana war gerührt und nachgiebig. Sie konnte Milas Wunsch nach der Wahrheit verstehen.

»Höre! Ich werde es dir sagen! Aber du musst mir dein Ehrenwort geben, dass du nichts verraten wirst.« Mila versprach es und gab ihr Ehrenwort.

 

»Die Mutter der Kleinen war noch jung. Sie war sehr schön. Stojana zögerte, weiter zu sprechen.

»Bitte, Stojana, bitte! Ich muss es wissen, war sie denn krank?« rief Mila.

»Nein, sie war nicht krank, sie war jung, schön und gesund. Nur dein Mann Jovan ist nicht so einfach. Er hat dieses liebenswerte Geschöpf schlecht behandelt und oft geschlagen, er ist kein guter Mensch.«

Mila hörte ängstlich zu. »Du lieber Himmel, habe ich so einen schlimmen Mann? Was blüht mir noch?«, flüsterte Mila.

»Die arme Verstorbene, durfte nie ein Wort sagen. Sie bekam sofort Schläge. Sogar mit der Faust schlug er sie auf den Kopf, so dass man keine blauen Flecken sehen konnte. Er schlug und boxte sie immer wieder. Heilige Mutter Gottes! Eines Tages hat sie es nicht überlebt.«

Stojana begann zu weinen.

»Das Baby musste sie alleine zur Welt bringen. In den Tagen nach der Geburt bekam sie eine Blutvergiftung. Der Arzt lebte zwanzig Kilometer weit entfernt. Niemand konnte sie hinbringen. So starb die Arme jämmerlich und das Kind blieb ohne Mutter. Das Mündel, das arme! Pass gut auf das Kind auf. Gott wird es dir vergelten! Ich bitte dich noch einmal! Das darf niemand erfahren, dass ich es dir erzählt habe. Wir werden beide sterben«, bat Stojana eindringlich.

»In Ordnung«, sagte Mila, »ich werde es niemals jemandem erzählen.«

Stojana, die sonst oft Intrigen schmiedete, war in dieser Stunde Milas Vertraute geworden.

Und Mila dachte: »Lieber Gott, wo bin ich gelandet? Was ist das hier für eine Hölle?«

Sie schluchzte und dann schrie sie: »Liebe Mutter und meine Brüder, wenn ihr mich doch nur retten könntet.«

Für einen kurzen Augenblick überlegte Mila, wegzulaufen, spurlos zu verschwinden. Aber das durfte sie nicht. Ihre Brüder würden sie finden und die Strafe wäre fürchterlich.

Die Worte ihrer Eltern kamen ihr in den Sinn: »Nur die schlechten Ehefrauen kommen zurück nach Hause. Vom Ehemann bekommt sie Schläge, weil sie nicht gut genug ist. Eine Frau muss erdulden!«

Mila musste duldsam sein. Sie hatte große Angst vor Jovan, dass er sie eines Tages umbringen würde. Aus Mitleid kümmerte sie sich um das Baby, als wäre es ihr eigenes und begann es langsam zu lieben. Als Dana größer wurde, heiratete sie einen Mann, den sie liebte. Mila bekam in diesem dunklen freudlosen Haus noch neun weitere Kinder und zog sie groß. Abends trug sie ihren Kindern epische Gedichte vor, sie kannte sie alle auswendig. Im Haus selbst gab es keine Bücher. So erfuhren die Kinder nie, woher sie die Lieder und Gedichte kannte, die sie ihnen aufsagte. Oft zeigte die Mutter auf den Berg gegenüber und sagte: »Schaut Kinder! Dort wurde ich geboren. Dort ist mein Heimatdorf.«

Wer weiß, ob die Wege inzwischen dort alle überwuchert sind? Ob die Mauern des Hauses überhaupt noch standen? Warum hatte Mila ihre Kinder nie dorthin mitgenommen und ihnen ihr Heimatdorf gezeigt?

Die Kinder gingen mit der Mutter oft durch den Fluss und pflückten am anderen Ufer Haselnüsse. Bis zu Milas Heimatdorf war es nicht so weit. Vielleicht wollte sie nicht zurück in ihre schwere Kindheit, in ihre Vergangenheit.