Was sie nicht umbringt

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Liza Cody

Was sie nicht umbringt

Die Eva-Wylie-Trilogie

Band 1

Aus dem Englischen

von Regina Rawlinson

Ariadne Kriminalroman 1201

Argument Verlag

Eva Wylie kam über mich wie eine Sturmflut. Fassungslos versank ich in den brachialen Kapriolen und hirnverbrannten Ratschlägen einer begriffsstutzigen Wuchtbrumme, deren Realität mit meiner herzlich wenig gemein hatte. In Evas Welt sind solche wie ich Spießer oder Feindinnen. Und sie legte mich im Handumdrehen aufs Kreuz.

2013 lauschte ich dem ohnmächtigen Zornausbruch einer schönen jungen Schriftstellerin über das aktuell kolportierte Frauenbild (wir saßen in einem Berliner Lokal mit Blick auf Bushaltestelle samt Werbetafel, ganz normal, laszive Brünette mit viel Haut). Mir wurde klar, dass Eva Wylie neu aufgelegt gehört. Ein Vierteljahrhundert zuvor betrachtete Liza Cody ein Poster des zähnefletschenden Wrestlingstars Klondyke Kate, daneben hing eine Lippenstiftreklame. In der Folge schuf sie Eva Wylie, über die sie sagt: »Eva ist keine vernünftige Frau. Sie ist ein Alptraum der Gesellschaft – was wird aus einem hässlichen, ungebildeten, wütenden, vernachlässigten Kind, wenn es zum großen, starken, hässlichen Weib heranwächst? Es ist knallhart, die Hässliche zu sein in einer Welt, die Frauen nach Jugend, Schönheit und Sexyness bewertet. Eva denkt, wenn sie denn mal denkt, dass sie ihren Nachteil in einen Vorteil verwandelt hat, indem sie beim Profi-Wrestling die Böse gibt. Sie ist verquer genug, um Buhrufe, Pfiffe und den wütenden Hass des Publikums als Erfolg zu verbuchen. Und ich bin verquer genug, darin ein feministisches Statement zu sehen.«

Anfang der 1990er, als Krimiautorinnen den harten Kerlen des Genres mit Verve ihre Männerdomänen streitig machten, wusste ich nichts vom Kunstgriff der »unzuverlässigen Erzählerin«. (Nebenbei: Eva würde jedem, der sie unzuverlässig nennt, die Fresse polieren.) Ich wusste nur, dies war rasante, knackig frische Genreliteratur voller Witz und Milieuschärfe, serviert durch eine schwitzende, trampelige Catcherin, die mir brutal ihre selbstgeschusterten Binsenweisheiten vor den Latz knallt. Ungeniert, ungestüm, unwiderstehlich. Die preiswürdige Übersetzung von Regina Rawlinson wird Evas Kodderschnauze ebenso gerecht wie dem trudelnden Beat des mit dem Silver Dagger gekürten Originals. So ist die Eva-Wylie-Trilogie: zeitlos, ungeschminkt, ein Meilenstein.

Else Laudan

Inhalt

Cover

Titel

Die Autorin

1

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4

5

6

7

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Weitere Bücher

Impressum

1

Im Gang brüllte sich ein kleiner Kerl die Lunge aus dem Hals. Sah richtig lieb aus mit seinem grauen Regenmantel und dem Schal. Die Schlägerkappe hing ihm übers Auge.

»Gemeines Kampfschwein!«, brüllte er.

Ich konnte ihn in dem Gegröle und Geschrei deutlich hören. Komisch, auf was für Ideen die Leute kommen.

»Halt die Schnauze!« Ich zeigte ihm den Stinkefinger.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Blonde Bombe sich wieder hochrappelte. Ich drehte ihr den Rücken zu.

In der zweiten Reihe hüpfte ein altes Muttchen vor Wut auf dem Sitz herum. »Du Tier«, kreischte sie. »Du potthässliche … Schlampe!«

»Selber Schlampe«, schrie ich.

Die Blonde Bombe boxte mich in den Rücken, und ich knallte in die Seile. Die erste Reihe wurde lebendig. Ich kriegte Schuhe, Programmhefte und Handtaschen um die Ohren gehauen. Ich wälzte mich in die Ringmitte.

Die Blonde Bombe schmiss sich auf mich und drehte mir den Arm auf den Rücken.

Die erste Reihe tobte.

»Mach sie alle«, heulten sie. »Reiß ihr den Arm aus.«

Die Blonde Bombe krallte sich in meine Haare und riss mir den Kopf hoch. So eine linke Titte.

»Pass auf«, sagte ich. »Denk an meine Zähne.«

Sie wusste, dass ich Zahnschmerzen hatte, trotzdem knallte sie mein Gesicht auf die Bretter. Blöde Kuh.

Mit ihr auf dem Rücken stemmte ich mich hoch, bis ich auf allen vieren war. Sie schlang mir den Arm um den Hals. Das kriegt sie nie richtig hin, bei ihr kommt dabei immer eher ein Würgegriff raus als eine Klammer. Aber so was sieht keiner, auch nicht die in der ersten Reihe. Und die erste Reihe war mittlerweile völlig aus dem Häuschen.

»Aua-aua-aua«, jaulte ich, um die Stimmung anzuheizen.

Die Blonde Bombe drückte mir mit voller Kraft die andere Hand ins Gesicht. Sie ist wirklich eine Ratte. Sie wusste genau, dass ich Zahnschmerzen hatte. Ich wurde fuchtig.

Ich spannte die Quadrizepse und kam langsam hoch. Sie hing wie eine Klette an mir. Ihre Brüste quetschten sich gegen meine Schulterblätter, und der Drahtkörbchen-BH, mit dem sie sich die Oberweite vergrößerte, stach mir in die Wirbelsäule.

Sie dachte, ich würde mich hinstellen. Sie lernte es eben nie.

Als ich mich halb aufgerichtet hatte, rollte ich mich nach vorne ab und legte sie flach auf den Rücken. Ich drehte mich um und landete in letzter Sekunde auf ihren Schultern. Sie hatte nicht mehr genug Puste, um eine Brücke zu machen. Jetzt hatte ich sie.

Der Ringrichter kam angeschlendert. Er ließ sich Zeit, weil es im Zuschauerraum plötzlich ganz still geworden war.

»Eins …«, sagte er.

»Du Tier!«, brüllte jemand. »Du feiges, dreckiges Tier!«

Und schon gellten die Buhs durch den Saal. Es hört sich an wie auf dem Viehmarkt, wenn ich einen Kampf gewinne.

Die Bombe wollte eine Brücke machen. Aber ich war so stinksauer auf sie, dass ich sie nicht hochkommen ließ.

»Zwei«, sagte der Ringrichter zögerlich.

Die Buhs verfolgten mich bis in die Garderobe. Es war ein guter Abend gewesen.

Ich will dir einen kostenlosen Rat geben. Wenn du es in diesem Leben als Bösewicht zu etwas bringen willst, rechne nie mit Applaus. Zähl lieber die Buhs. Das ist der sicherste Weg herauszufinden, wie gut du wirklich bist.

Als wir in dem kalten Korridor hinter der Halle um die Ecke bogen, konnte ich sie immer noch buhen hören. Die Falsche hatte viel zu schnell gewonnen.

»Au, mein armer Rücken«, jammerte die Bombe. »Bei den Würfen könntest du ruhig ein bisschen vorsichtiger sein. Morgen früh bin ich bestimmt grün und blau.«

»Und du hättest ruhig mal an meine Zähne denken können«, sagte ich. »Du wusstest doch, dass ich Zahnschmerzen habe.«

»Hatte ich vergessen«, sagte sie. Verlogenes Stück. Ihr rieselten die Pailletten von dem schicken Trikot, und sie zog eine Glitzerspur hinter sich her. Aber ich hatte nicht die Absicht, ihr das zu sagen, vor allem nicht, nachdem sie keine Rücksicht auf meine Zähne genommen hatte.

Als wir in die Garderobe kamen, saß da schon ihr unterbelichteter Freund rum.

»Armes Baby«, sagte er zur Bombe. Mich sah er böse an. Ich hätte nett zu ihm sein sollen, weil er mich nach der Show wieder mit nach London nehmen wollte. Deshalb hätte ich wohl seiner Meinung nach das arme Baby gewinnen lassen müssen.

 

»Mach die Biege«, sagte ich. »Ich will mich umziehen.«

»Ich habe schon mehr nackte Frauen gesehen als du warme Mahlzeiten«, sagte er. So ein Blödmann.

»Bei mir gibt’s nichts zu spannen«, sagte ich. »Da hast du dich verrechnet.«

»Meinst du etwa, da leg ich gesteigerten Wert drauf?«

»Dann schieb ab«, sagte ich.

Aber er wollte der Bombe mit den fettigen Flossen die Schultern massieren. Sie hätte einem fast leidtun können, wenn sie sich nicht so genüsslich schnurrend an ihn geschmiegt hätte.

Will eigentlich jeder Mensch gebraucht werden? Wollen sich eigentlich alle Frauen begrapschen lassen – sogar von einem Schwachkopf mit fettigen Flossen? Also, ich weiß die Antwort darauf nicht, aber ich bin schließlich ein anderes Kaliber. Natürlich bin ich nicht besonders gern groß und hässlich, aber man muss zugeben, dass fast alles im Leben auch seine guten Seiten hat. Zum Beispiel ist es sehr gut, wenn man nicht von dem unterbelichteten Macker der Blonden Bombe beliebäugelt wird, auch wenn er einen Ford Granada fährt.

In diesen alten Theatern auf dem Land heizen sie die Garderoben nicht. Wahrscheinlich war das Gebäude sowieso längst zum Abbruch freigegeben. Eine Dusche gibt es nicht. Man muss sich einigermaßen mit einem Waschbecken in der Ecke behelfen.

Das würde mir an sich nichts ausmachen. Der Schuppen war fürs Catchen sowieso nicht geeignet, und solche Dreckslöcher sind noch das Beste, was man auf den untersten Stufen der Karriereleiter überhaupt erwarten darf.

Was mir allerdings doch etwas ausmachte, war die Tatsache, dass ich schwitzend und mit Zahnschmerzen so lange in der Zugluft herumstehen sollte, bis seine Lordschaft die Blonde Bombe genug getätschelt hatte.

Aber ich musste höflich bleiben. Der letzte Zug aus dem Möhrenland nach Hause war bestimmt schon seit Stunden weg. Je größer die Entfernung von London, desto früher der letzte Zug, das weiß jedes Kind. Irgendwie musste ich wieder zurück.

»Mach schon«, sagte ich. »Zieh Leine.« Ich bemühte mich wirklich um einen freundlichen Ton.

»Eva ist schüchtern«, sagte die Blonde Bombe. Na ja, was soll man auch sonst von einer Catcherin erwarten, die im Ring Lippenstift der Marke Champagner Fizz trägt?

»Schüchtern? Eva Wylie? Dass ich nicht lache.«

Es gibt nichts Erbärmlicheres als einen Schwachkopf, der sich Schlauheiten herausnimmt, und kein Ford Granada gibt einem das Recht, mich zu beleidigen. Ich stopfte seinen Kopf ins Waschbecken und drehte den Hahn auf. Dann schnappte ich mir meine Puma-Sporttasche, Jacke und Schuhe. Es war besser zu verschwinden, bevor ich richtig böse wurde.

Im Korridor lief ich Mr. Deeds in die Arme. Er sah selber ziemlich böse aus.

»Wenn ich fünfzehn Minuten will«, sagte er, »dann will ich fünfzehn Minuten. Keine sieben. Keine zehn. Auch keine zwölfeinhalb.«

»Tut mir leid, Mr. Deeds«, sagte ich. Mr. Deeds ist der Boss.

»Reiß dich zusammen, Eva«, sagte er. »In solchen Kuhkaffs haben sie für Frauen im Ring sowieso nicht viel übrig. Es war schwer genug, euch überhaupt ins Programm zu kriegen. Du musst den Zuschauern was bieten für ihr Geld.«

»Ich bin ausgerutscht«, sagte ich. »Und Stella hat einen schlimmen Rücken. Wir konnten nichts dafür, Mr. Deeds.«

»Ausgerutscht? Das soll wohl ein Witz sein!«, sagte er. »Ich bin doch nicht blind. Ausgerutscht! Und es sollte mich verdammt noch mal nicht wundern, wenn Stella tatsächlich einen schlimmen Rücken hätte – jetzt, nach dem Kampf!«

»Tut mir leid, Mr. Deeds«, sagte ich noch einmal. Ich hatte langsam die Nase voll davon, im zugigen Korridor zu stehen und mich zu entschuldigen. Ich entschuldige mich nicht gerne, schon gar nicht, wenn mir die Zähne wehtun, aber es bleibt dir nicht viel anderes übrig, wenn dein Brötchengeber sauer auf dich ist.

»Wenn du dich an die Spielregeln hältst, Eva, kannst du eine schöne Stange Geld verdienen«, fuhr er fort. »Aber wenn du uns verarschst, fliegst du raus. R-A-U-S. Kapiert?«

»Raus.«

»Genau«, sagte er. »Nächste Woche sieht es anders aus, okay?«

»Okay, Mr. Deeds.«

Seine Zigarre paffend watschelte er von dannen. Fetter Saftsack. Immer sind es die fetten Saftsäcke, die einem das Gehalt bezahlen. Er hat einen Hintern wie ein Elefant. Das Problem ist nur, er hat auch ein Gedächtnis wie ein Elefant.

Ich war irgendwie angeschlagen nach dem Gespräch mit Mr. Deeds, aber ich wollte unbedingt noch zu Harsh, bevor ich ging. Ohne die Geschichte mit Stella der Bombe wäre ich noch geblieben und hätte mir seinen Kampf angesehen. Harsh ist klasse. Er ist ein Athlet, und ein größeres Kompliment gibt es nicht.

Ich klopfte an seine Garderobentür. Leider war er nicht allein, wie ich gehofft hatte. Eigentlich nicht überraschend. Richtig nette Typen gibt es nicht so viele, und Harsh kann einfach jeder gut leiden.

Seine Freundin machte mir die Tür auf. Ich kann sie nicht ausstehen. Na ja, ich sage zwar, ich kann sie nicht ausstehen, aber eigentlich kenne ich sie gar nicht. Sie ist ein winziges Persönchen, und in dem eisvogelblauen Sari, den sie heute Abend trug, sah sie wie eine Prinzessin aus. In ihrer Nähe komme ich mir immer vor wie ein Heuhaufen in einem Hurricane. Ich hätte mich lieber doch waschen sollen.

»Hallo, Eva«, sagte Harsh. Er stand an der Wand und dehnte seine Achillessehnen. Er gehört zu den wenigen, die sich vor dem Kampf anständig warm machen. Darum hat er auch seltener Verletzungen als die meisten anderen. Außerdem hat er eine tolle Körperbeherrschung. Ich wärme mich auch richtig auf. An der Körperbeherrschung arbeite ich noch.

»Möchtest du eine Cola, Eva?«, fragte Soraya. Sie hat reizende Manieren, aber ich kann sie trotzdem nicht leiden.

»Ich wollte gerade gehen«, sagte ich. Es war immerhin möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass Harsh vorschlug, ich sollte noch bleiben, und mich hinterher in die Stadt mitnahm.

»Bis nächste Woche dann«, sagte er.

»Wir übernachten in Bath«, sagte Soraya zu mir. Und dann fiel mir ein, dass alle außer Stella der Bombe und mir noch einen Auftritt im Pavillon hatten.

»Also dann, bis die Tage«, sagte ich, als ob ich wunschlos glücklich wäre.

»Gute Nacht, Eva«, sagte Soraya. Und Harsh lächelte mich an. Er hat ein wunderbares Lächeln, der Harsh. Strahlend weiße Zähne, alle genau in der richtigen Größe.

Wenn ich genug Kämpfe an Land ziehen kann und wenn ich mich in der Meisterschaft einigermaßen gut schlage, dann lasse ich mir die Zähne richten. Ich kenne einen wirklich guten Zahnarzt, und ich spare auch schon darauf, aber so was geht ganz schön ins Geld.

2

Auf Schlacke kannst du nicht schleichen.

Diesen Trümmerhaufen nennen sie das Grand Theatre, dabei ist noch nicht mal der Parkplatz auf der Rückseite besonders grandios. Kunterbunt stehen die Wagen auf Schotter und Schlacke durcheinander. Das Grand Theatre! Ein grandioser Witz.

Immerhin war der Parkplatz nicht beleuchtet. Das ist das Gute an den beschissenen Auftritten im Möhrenland – die Parkplätze sind nie beleuchtet. Du könntest fast meinen, sie wollen, dass du dich selber bedienst.

Ich fand einen Renault 12, der mich quasi einlud, ihn mir auszuborgen – die Fahrertür schloss nicht richtig, und die Verkabelung war lose. Als ich ihn angelassen hatte, sah ich, dass der Tank noch fast voll war.

Eigentlich tat ich dem Besitzer einen Gefallen – vorausgesetzt, er war versichert.

Wozu sich Sorgen um eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt machen, wenn dir die Möhrenmampfer ihre Autos praktisch hinterherwerfen?

Obwohl es noch nicht besonders spät war, als ich in Frome losfuhr, war kaum mehr einer auf den Straßen. Dadurch fühlte ich mich irgendwie einsam. Ich habe gern ein bisschen Trubel um mich rum, aber so was kannst du im Möhrenland lange suchen. Wahrscheinlich gehen sie alle früh in die Heia, nachdem sie sich ihre Mary-Poppins-Videos reingezogen haben. Nicht mal eine offene Frittenbude konnte ich finden. Was diese Landeier wohl treiben, wenn sie mal Spaß haben wollen?

Ich hatte Hunger. Wer so gebaut ist wie ich, braucht nach sportlicher Betätigung was zu essen. Aber ich habe noch einen kostenlosen Rat auf Lager: Halte nie in einer Kleinstadt, in der du dir gerade einen Wagen geborgt hast, an, um dir was zum Essen zu besorgen. Jeder ist mit jedem verwandt, einer sieht dich immer und holt die Bullen.

Ich hatte mir in den letzten paar Jahren viel Selbstbeherrschung angeeignet. Also fuhr ich stur an allen Kneipen vorbei und hörte nicht auf meinen knurrenden Magen.

Harsh hat mir mal was über den berühmtesten Ringkämpfer aller Zeiten erzählt. Er hieß Milon von Kroton, und er hat im Training immer ein Kalb durch die Gegend gewuchtet. Immer dasselbe Kalb. Das Kalb wurde größer und schwerer, und Milon musste stärker und immer stärker werden, um es überhaupt noch schultern zu können. Harsh meinte, Milon wäre seiner Zeit voraus gewesen, und mit dieser Geschichte ging es ihm um die Grundprinzipien des Krafttrainings und darum, dass man die Muskeln langsam an immer größere Belastungen gewöhnen muss.

Milon hat fünf olympische Medaillen gewonnen, also würde ich mir an deiner Stelle eine höhnische Bemerkung über seine Trainingsmethoden lieber verkneifen. Hätte Milon von Kroton allerdings Ähnlichkeit mit mir gehabt, hätte er sein Kalb früher oder später mit Röstkartoffeln und viel Soße verspeist.

Es ist nicht ratsam, an Röstkartoffeln zu denken, wenn du halb verhungert bist — jedenfalls nicht, wenn du unbeschadet an der nächsten Dönerbude vorbei und in einem geliehenen Wagen aus der Stadt kommen willst, ohne geschnappt zu werden.

Ich hasse es auf dem Land. Je weiter du von der Stadt weg bist, desto dunkler wird es, und mit den Scheinwerfern fängst du lauter tote Sachen ein. Andauernd überfährst du Leichen – Igel, Kaninchen, Füchse und Viecher, die schon von so vielen Wagen plattgefahren worden sind, dass du nicht mehr erkennen kannst, was sie mal waren. Hat es Federn, war es ein Vogel, hat es keine, kannst du bloß raten.

Du wirst aus stieren, grünen Augen angeglotzt.

Alles auf dem Land ist entweder gefährlich oder tot. Menschen sind vielleicht tatsächlich nicht viel besser als Tiere, aber wenigstens lassen sie andere Menschen nicht tot auf der Straße rumliegen. Sie bringen sie weg, damit sie nicht wieder und wieder überfahren werden. Du musst dir bloß mal vorstellen, wie es in London aussehen würde, wenn einfach alles, was unter die Räder kommt, liegen gelassen würde.

Und dann das Essen.

Fünfzig Kilometer hinter Frome hielt ich an einer Imbissstube. Sie wollten gerade zumachen, als ich ankam, und es waren bloß noch ein paar Reibeplätzchen übrig. Reibeplätzchen! Ich muss schon sagen. Auf dem Land kann ich es ehrlich nicht aushalten.

Einmal haben sie versucht, mich aufs Land zu verpflanzen. Ich war sieben Jahre alt, und es war irgend so ein Pflegschaftsdeal. Ich sollte von einem komischen Ehepaar in Pflege genommen werden, das in Cambridgeshire ein großes Haus hatte, wo sie sich Ponys und Hunde und ungefähr noch fünf andere Kinder hielten. Es war einer von den Deals, bei denen alle Sozialarbeiterinnen glasige Augen und feuchte Höschen bekommen.

»Was meinst du, wie es dir da gefallen wird, Eva«, haben sie gewiehert. »Viel Platz zum Toben. Und lauter grünes Gras und Bäume.«

Meiner Meinung nach haben diese Sozialklempner nicht die leiseste Ahnung von Stadtkindern. Wir mussten um neun ins Bett. Wir hatten nichts zu tun. Die Ponys waren hinterlistige Biester. Die Hunde haben gefurzt und hatten Flöhe und haben das schöne grüne Gras vollgeschissen. Und was das komische Ehepaar angeht, die beiden waren Religionsfreaks, die haben erwartet, dass sich alle Kinder miteinander vertragen sollten.

Wie kommen die Leute bloß darauf, dass du mit jemandem gut auskommen musst, bloß, weil er genauso alt ist? Kinder, die in Pflege gegeben werden, kommen schließlich von überall her. Sie sind durcheinander. Ganz egal, aus was für einer Familie du kommst, dein Zuhause vermisst du immer. Manche Kinder wollen dich einmachen, manche Kinder klauen, manche Kinder machen ins Bett, manche Kinder spielen mit Feuer, manche Kinder können nicht sprechen. Und so was soll nun prima miteinander auskommen und dankbar sein für das Gras und die tückischen Ponys.

Die Natur soll dir ja angeblich guttun. Aber das stimmt nicht. Die Natur beißt und sticht oder vergiftet dich, einfach nur so. Und außerdem gibt es auf dem Trafalgar Square mehr Vögel, als ich je auf dem Land zu sehen gekriegt habe – die toten auf den Straßen mitgerechnet.

 

Nein. London ist der einzige Ort, wo es zum Aushalten ist. Lass dir bloß nichts anderes erzählen.

In London kommst du immer durch: Irgendwie kannst du da immer ein paar Kröten machen – und ein Plätzchen zum Pennen findet sich auch. Zimperlich darfst du nicht sein, aber wenn du überleben willst, ohne dass dir zu viele Fragen gestellt werden, dann geht das nur in London.

Du darfst allerdings nicht auf den Kopf gefallen sein. Was man von mir nun wirklich nicht behaupten kann. Viele Leute glauben, ich wäre dumm – weil ich eine ziemliche Kante bin. Dicke Muckis, kleines Hirn, stimmt’s? Na, wer das meint, der ist in etwa so helle wie ’ne Eierkohle.

Und wer das mir gegenüber laut ausspricht, der fängt sich ein dickes Knie ein.

Ich ließ den Wagen am Bahnhof Waterloo stehen und schlappte zu Fuß nach Hause.

In dem Jahr hatte ich ein Zuhause. Und einen richtigen Job.

Der Zaun war oben mit Stacheldrahtschlingen gesichert. Ich holte die Schlüssel raus und sperrte die Vorhängeschlösser am Tor auf. Vorsichtshalber pfiff ich – wiii-uuuuu. Es war nach Mitternacht, und die Hunde waren bestimmt ausgehungert.

Sie kamen aus dem Dunkeln auf mich zugeflogen, rammten mir die Köpfe gegen Knie und Oberschenkel.

»Hallo, Ramses«, sagte ich. »Hallo, Lineker.«

Sie waren keine üblen Kerle, dafür, dass sie Hunde waren, nur ein bisschen übereifrig. Sie liefen vor mir her zum Zwinger, und ich schloss auf. Ich mischte ihnen ein paar Schaufeln Hundeflocken unter ihre ekelige Futterpampe und wartete, bis sie es runtergeschlungen hatten.

Dann nahm ich die Taschenlampe und machte meine Runde.

Das Gelände war weitläufig, also dauerte es seine Zeit. Am besten war es auf dem Gebrauchtwagenparkplatz, weil der nämlich beleuchtet war. Ich musste bloß den Zaun überprüfen und zwischen den Wagen nachsehen, ob auch keiner auf den Rücksitzen kampierte.

Als Nächstes überzeugte ich mich, ob die Türen zum Verkaufsraum und den Büros abgeschlossen waren.

Am schlimmsten war es auf dem Schrottplatz. Zwar gab es da einen großen Scheinwerfer, nur war leider die Birne hinüber. Ich habe es Mr. Gambon schon dreimal gesagt, aber der ist ein echter Geizkragen.

»Der Schrott ist doch Tausende wert«, habe ich zu ihm gesagt. »Sie haben da haufenweise Ersatzteile rumliegen. Mit einer Glühbirne wäre mir sehr geholfen.«

»Faules Stück«, sagte er. Zu mir! Wie konnte ich aber auch so blöd sein, ihn um etwas zu bitten, was mir die Arbeit erleichtert hätte? Genauso gut hätte ich ihm gleich eine Lizenz zum Neinsagen geben können.

Demnächst muss ich mal den Besitzer deswegen anhauen, dachte ich. Aber seitdem er nach Ongar gezogen ist, kriege ich ihn kaum noch zu Gesicht.

Lineker schnupperte an einem Haufen Eisenstangen, aber Ramses hielt auf den Zaun zu. Ich folgte Ramses, weil er so aussah, als ob er etwas Bestimmtes angepeilt hätte. Als ich ihn einholte, biss er gerade einer großen Ratte das Hinterteil ab.

Oben am Zaun brannten ein paar trübe Funzeln, und darunter hing ein Schild, auf dem »Armour Protection« stand. Ich weiß nicht, was Armour Protection ist oder ob es hier so was je gegeben hat, aber der einzige Schutz, den die Anlage jetzt hatte, waren Ramses, Lineker und ich.