Licht über weißen Felsen

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Licht über weißen Felsen
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Liselotte Welskopf-Henrich

Licht über

weißen Felsen

Roman

Palisander

Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe

1. Auflage März 2013

© 2013 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erstmals erschienen 1972 im Mitteldeutschen Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Einbandgestaltung: Claudia Lieb

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1.digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783938305621

www.palisander-verlag.de

Das Blut des Adlers

Pentalogie

1. Band: Nacht über der Prärie

2. Band: Licht über weißen Felsen

3. Band: Stein mit Hörnern

4. Band: Der siebenstufige Berg

5. Band: Das helle Gesicht

Rot ist das Blut des Adlers.

Rot ist das Blut des braunen Mannes.

Rot ist das Blut des weißen Mannes.

Rot ist das Blut des schwarzen Mannes.

Wir sind alle Brüder.

Der Medizinmann von Alcatraz (1970)

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Wakiya-knaskiya

Byron Bighorn

Vor den Geschworenen

Queenie Tashina King

Joe Inya-he-yukan King

Anhang

Der Mann, der Harry Okute war

Bei den Lakota in den Woodmountains

Weitere Bücher

Fußnoten

Wakiya-knaskiya

Dreifach stand es geschrieben, in Listen, in Registern und in Karteien: Byron Bighorn, geb. 24. April 195 …

Das Papier, auf dem Byron Bighorns Geburt und sein Name verzeichnet wurden, war gutes Papier. Es hielt seine Farbe. Die Tinte war fest eingetrocknet, nicht verflossen, die Farbbänder waren neu gewesen und hatten sich deutlich abgedrückt. Die Listen, Register und die Karteien wurden in Häusern, unter Dächern, gegen Hitze, Kälte und Nässe geschützt aufbewahrt, und sie waren in Fächern geordnet, so dass jedermann jederzeit den Namen und das Datum finden konnte, so unwichtig diese auch scheinen mochten.

Wo aber Wind über gelbes Gras und bunte Erde wehte, wo Sonne und Mond über bloßliegendem Land leuchteten und der Himmel sich in der Gewalt der Sturzregen auf die Prärien niederwarf, wo die Blockhütte einsam und verloren stand, da riefen Vater und Mutter, Bruder und Schwester: Wakiya-knaskiya! Wilder Donner, Toller Donner, Geheimnisträchtiger Donner!

Sie riefen es leise mit klingenden Stimmen.

Als Wakiya-knaskiya vier Jahre alt geworden war, nahm ihn der Vater eines Morgens an die Hand und machte sich mit ihm auf einen weiten Weg. Der Vater war ein großgewachsener Mann, mager, müde und schweigsam, Sohn seines Landes. Seine Jeans und das offene Hemd waren einmal blau gewesen, die sorgfältig aufgesetzten Flicken in Blau, Schwarz oder Grün gemustert, aber Arbeit hatte die Kleidung abgewetzt und Sonne die Farben weggefressen, und so konnte nicht viel mehr gesagt werden, als dass Hose und Hemd billig und alt, die Frau aber um ihren Mann besorgt war. Das wusste auch Wakiya-knaskiya, so klein er noch war. Die Haut des Vaters hatte das Sonnenluft atmende Braun verloren; sie war stumpf geworden, grau wie von Nebel umzogen. Der Tod saß diesem Mann im matten Blut. Auch das wusste Wakiya-knaskiya, obgleich es ihm niemand gesagt hatte. Aber Wakiya war mit Gräsern, Blüten, Bäumen und Tieren aufgewachsen, die wuchsen und starben, und war dem Leben wie dem Tod so nah wie ein Bruder.

Wakiya lief an der Hand des Vaters, still wie dieser, mit viel kleineren, darum viel eiligeren Schritten. Er lief mit bloßen Füßen über Grasbüschel, vertrocknete Kakteen, Steine und krustigen Boden. Seine Füße kannten die Erde. Sie waren nicht durch künstliche Sohlen davon getrennt. Der Wind blies ihm vor die Brust, die Sonne wärmte ihn im Rücken. Sein einziges Kleidungsstück war eine neue Hose, die an verkürzten Trägern unförmig weit um seinen schmächtigen Körper bis über seine Knie schaukelte; sie sollte die nächsten sechs Jahre überdauern. So hoffte die Mutter und so fürchtete Wakiya; eben in diesem Punkt wollten sie beide sehr klug sein und vergaßen darum die unsichtbaren Spinnfäden des Lebens.

Der Vater ging mit Wakiya-knaskiya querfeldein. Einmal schwang er sich über einen Zaun und hob den Jungen herüber. An einer Wasserlache am ausgetrockneten Bach standen Rinder. Der Vater machte Halt, und Wakiya holte von den beiden Scheiben Schwarzbrot, die ihm die Mutter in die Hosentasche gesteckt hatte, eine hervor und verzehrte sie mit Bedacht. Der Vater aß nichts. Am frühen Morgen, als die Sonne gerade aufgegangen war und die Düsternis im kleinen Blockhaus nur mühsam ein wenig erhellt hatte, waren Eltern und Kinder um die Pfanne versammelt gewesen, in der die Mutter Mehlklümpchen im Fett briet, und alle hatten davon zu sich genommen.

Aber auch in dem Mehl lauerte die Krankheit auf den Vater und so ging er unsicher hin und her zwischen Hunger und Verderben.

Es wurde hoher Mittag. Die Sonne stand im Scheitel ihrer Bahn, als der Vater und sein Kind ihr Ziel erreichten. Der Vater blieb stehen und schaute ringsum, einmal langsam, noch einmal sehr langsam und endlich ein drittes Mal. Aber es war Wakiya nicht, als ob der Vater etwas suche, sondern als ob er etwas wiederfinde, und Wakiya folgte dem Blick, geduldig und aufmerksam, wie er es in der Einsamkeit gelernt hatte.

Was es aber zu sehen gab, war nichts als das Uralte; wildes Gras, wilde Stachelblätter, rote und graue Erde, die noch keines Menschen Hand und kein scharfes Eisen aufgerissen und umgestülpt hatten, und über allem der Himmel, so blau wie eine Blüte. Es war still, nicht einmal der Wind flüsterte; die Lüfte trugen die ausgebreiteten Flügel eines Raubvogels.

Da sprach der Vater. »Wakiya – schließe deine Augen und deine Ohren und schaue und horche auf die Geister und auf die Toten.«

Und das Kind schloss die Lider fest und hielt die kleinen Fäuste vor die Ohren, um die leere Prärie nicht mehr zu sehen und die Sprache ihrer Stille nicht mehr zu hören; es lauschte nur noch auf den Gesang des Vaters. Als der Vater ihm aber über das lange, schwarze Haar strich und dann die Hand auf dem Kopf seines Kindes ruhen ließ, in einer sanften und sachten Art wie eine Mutter, öffnete Wakiya-knaskiya die Augen wieder und nahm die kleinen Fäuste von den Ohren, denn er brauchte keine Gewalt mehr, um zu vergessen, was er mit seinen äußeren Augen sah und mit seinen äußeren Ohren hörte; die inneren hatten sich geöffnet. Der Vater bewegte die Füße im Takt und hob beide Hände; er sang dabei mit seiner tiefen, dem Kind so vertrauten Stimme, und Wakiya konnte alles sehen, was der Vater erschaute, nur undeutlicher und geheimnisvoller noch, denn er war erst vier Jahre alt.

Ein langer, schweigender Zug kam heran, stolze Männer, braunhäutig, hager, in prächtig gestickten Gewändern aus Hirschleder, an den Nähten hingen die Skalphaare besiegter Feinde. Einer von ihnen trug Wapaha, die Krone aus Adlerfedern, ein zweiter die Haube mit Büffelhörnern und weißem Hermelin, ein dritter den Balg eines Falken. Dieser letzte hielt den langen Stab in der Hand, dessen gekrümmtes Ende von Fell umkleidet war und an dem Adlerfedern hingen. Die Hand des großen Kriegers pflanzte den Stab mitten zwischen wildes Gras und vertrocknete Kakteen in die Erde, die hier rot war, und der Vater sang: »Das ist unser Land, solange Gras grünt, solange Schnee schmilzt, solange die Bäche von den weißen Bergen kommen und unsere Männer die heilige Pfeife nicht vergessen. Die Toten und die Büffel kommen wieder.«

Ein langer Zug hielt hinter den drei Kriegern, hinter dem ersten mit der Krone aus Adlerfedern, hinter dem zweiten mit dem Ehrenzeichen aus Büffelhörnern und Hermelin und hinter dem dritten mit dem Balg eines Falken als Schmuck und mit dem gekrümmten Stab, dem Wahrzeichen des Landesherrn, in der Hand. Mustang stand hinter Mustang; Zeltstangen waren über den Pferderücken gekreuzt und die Lasten angehängt. Rechts und links hielten Reiter, sattellos, nackt bis auf Gürtel und Schurz, Ketten aus Bärenkrallen über Nacken und Brust, Pfeile im Köcher, Messer in der Scheide, Speere in der Hand. Die Frauen auf den Lastpferden hielten die Augen gesenkt. Die Jungen auf den Ponys, die Mädchen, die hinter den Müttern auf den Pferderücken saßen, die Kinder in den Rutschen hinter den Mustangs, die Säuglinge in den Tragen rührten sich nicht. Nicht einmal die Hunde gaben einen Laut. Aber der Vater sang die Lieder, die die Männer und Frauen in den hirschledernen Kleidern einst gesungen hatten, und er bewegte die Füße in dem Takt, in dem sie ihren letzten Tanz zum Gebet getanzt hatten. Als der Vater verstummte, waren sie alle verschwunden, die schweigenden Häuptlinge und Krieger, die Frauen und Mädchen, die Kinder, die Mustangs und die Hunde. Aber da, wo die Erde rot war, war ein Stab eingerammt, mit Adlerfedern behängt, die gekrümmte Spitze mit Fell geziert.

 

Der Vater führte Wakiya zu dem Stab und sprach: »Es ist unser Land. Die Toten sind meine Väter und deine Väter. Da, wo du sie gesehen hast, sind sie gezogen, Krieger und Knaben, Frauen und Mädchen. Hier sind sie gezogen, und jenseits der Hügel haben sie gelagert. Es kamen aber die Geister, die das Geheimnis des Donnervogels gestohlen haben. Ihre Mazzawaken blitzten, ihre Mazzawaken krachten. Das Blut sickerte in die Erde, aus der das Gras wächst. Die Häuptlinge und Krieger starben, die Frauen und Mädchen starben; die Kinder schrieen und versteckten sich. Da sagten die Geister freundliche Worte, aber ihre Zungen waren gespalten, und als die Kinder wieder hervorkamen, blitzten die Mazzawaken, krachten die Mazzawaken und auch die Kinder starben.

Bei jenem Zug, Wakiya, ist mein Großvater gewesen, der dein Urgroßvater war, und er starb. Bei jenem Zug sind zwei seiner Brüder gewesen, Wakiya, und seine jüngere Schwester, und sie starben. Sie liegen miteinander und mit allen Toten in einer tiefen Grube; die Geister haben die Grube gegraben und unsere Toten dort hineingeworfen. Mein Vater aber ist ihren Händen entflohen, und als ich so alt war wie du, Wakiya, als ich vier Winter gesehen hatte, sagte mir mein Vater alles und ich sage es dir und du hast sie gesehen. Die Toten und die Büffel aber werden wiederkommen. Ja.«

Wakiya hatte auf die Worte des Vaters gelauscht. Er wusste, dass er solche Worte nur einmal in seinem Leben vernehmen würde, wie auch der Vater sie von seinem Vater nur einmal vernommen hatte und eben darum niemals vergaß. Wakiya versuchte, die Häuptlinge und Krieger, die Frauen, die Mädchen und die Kinder, die Mustangs und die Hunde noch einmal zu schauen, aber es gelang ihm nicht mehr, und auch der Stab verschwand, als sei er nicht gewesen. Das Bild aber haftete in Wakiyas Gedächtnis ein Leben lang wie eine Spur in weicher Erde, die mit der Erde zusammen hart wird, und das Bild war ihm vertraut, denn seit er geboren war, hatten ihn Vater und Mutter auf der Höhe eines jeden Sommers zu den Feiern und Tänzen mitgenommen, zu denen die Alten und Jungen sich kleideten, wie ihre Vorfahren sich gekleidet hatten. Dort hatte Wakiya auch einmal Geister gesehen. Sie sahen den Menschen ähnlich, aber ihre Haut war hell, sie waren unruhig und ohne Scheu und sprachen mit lauter Stimme ihre Geisterworte, die Wakiya fremd waren wie jene ganze Geisterwelt, die er nicht kannte. Wakiya-knaskiya hatte sich gefürchtet und war nicht von der Hand der Mutter gegangen. Jetzt wusste er, dass die Geister Menschen töteten.

Die Mazzawaken hatten geblitzt und gekracht; die Geister hatten das Geheimnis des Donnervogels gestohlen. Auch der Vater besaß ein Mazzawaken. Daheim in der kleinen, dunklen Blockhütte hing es, von zwei Haken gehalten, an der Wand; die Kinder durften es nicht berühren. Hin und wieder ging der Vater damit weg; dann brachte er einen Fasan nach Hause und es gab zu essen. Mazzawaken waren gut, aber nicht in der Hand der Geister.

Der Vater berührte Wakiya-knaskiya leicht an der Schulter und machte sich mit dem Kind auf den Heimweg. Zweimal zuckte Wakiya und erschrak dabei, denn seine Glieder hatten sich bewegt, ohne dass er es wusste und wollte; seine dünnen Beine schlenkerten sich selbst, als ob sie nicht mehr zu ihm gehörten, und er stolperte. Der Vater schaute forschend auf den kleinen Jungen und trug ihn ein Stück weit. An der Wasserlache im ausgetrockneten Bachbett machten die beiden wieder Halt, und Wakiya aß die zweite Scheibe Brot auf. Aber sie schmeckte ihm nicht, und die Brocken würgten ihn im Hals.

»Wenn du mir noch etwas sagen willst, Wakiya-knaskiya, so sage es mir.«

»Vater, wann kommen die Toten und die Büffel wieder?«

»Die Geheimnisse sind verborgen, Wakiya, und du kannst sie nicht öffnen, es sei denn, sie öffnen sich dir selbst. Ich bin kein Mann der Geheimnisse. Die Toten sind gekommen, und sie sind gegangen; sie haben nicht zu uns gesprochen. Sie werden aber wiederkehren, und das Brüllen der Büffel wird über die Wiesen schallen, nachdem der Alte gebetet hat. Über eine große Sonne hinweg, wenn das Gras wiederum gelb ist und die Erde sich wieder vor Durst aufreißt, dann komme an mein Grab, und dann nimm die Mutter an der Hand und führe sie zu dem Alten, der stärker ist als ich. Er wird beten, der Mond wird am schwarzen Himmel hervorkommen, und die Toten und die Büffel kehren wieder.«

»Du auch, Vater?«

»Ja, auch ich, Wakiya-knaskiya.«

Die beiden erhoben sich und liefen schnell, denn es wollte schon dämmern, und der Weg war noch weit. Als sie endlich heimkamen, wanderte der Mond schon am Himmel, und das kleine Blockhaus lag wie ein schwarzer Klotz in der Wiese vor Hang und Gesträuch im Nachtschatten. Die Hunde rührten sich. Wakiya-knaskiya schaute noch einmal nach dem runden Gestirn am Himmel, dessen Blässe leuchten konnte; es wurde von nun an sein Geheimnis und sein Bruder, dem er vertraute.

Er legte sich auf Bretter und Decken zu der Mutter und zu den beiden kleinen Geschwistern, und es überkam ihn eine neue Furcht, weil seine Glieder wieder zuckten, ohne dass er es wollte. Aber die Mutter schloss ihn in die Arme und drückte ihn an sich, so dass seine Angst verging.

Wakiya-knaskiya schlief ein.

Als Wakiya den fünften Winter durchlebt hatte, als der Schnee über dem Grab des Vaters geschmolzen, als die Blumen darauf erblüht und wieder verwelkt waren, als das Gras wiederum gelb und die Erde staubig und durstig war, nahm Wakiya-knaskiya seine Mutter an der Hand, um mit ihr zu dem Alten zu gehen, wie der Vater gesagt hatte.

Die Mutter war klein von Gestalt, aufgebläht von Mehl und Fett, und seit der Vater gestorben war, zogen sich ihr die Falten mürrisch um die Mundwinkel; ihre Zähne verbissen sich in die Lippen, so dass nur selten mehr ein Wort daraus hervorkam. Aber in der Frühe jenes Morgens, sobald Mutter und Kinder alle erwacht waren, hatte Wakiya-knaskiya die Wangen und die Stirn der Mutter gestreichelt, und sie sah seine Augen in dem mageren und blassen Gesicht leuchten. Da lächelte sie noch einmal und erkannte in ihm den Vater wieder, denn Wakiya glich ihm. Sie ahnte aber auch – und wusste doch nicht woher –, dass Wakiya-knaskiya eines Tages noch mehr sein könnte, als der Vater gewesen war. Sie herzte das Kind, mit dem sie am meisten Sorgen hatte, gab allen das Frühstück aus Mehl und Fett in der Pfanne und machte sich mit Wakiya-knaskiya auf einen Weg, der noch weiter war als jener, den der Vater ihn ein Jahr zuvor geführt hatte. Der kleine Bruder, der vier Winter gesehen hatte, und die kleine Schwester blieben allein mit den Hunden zurück. Was sollte ihnen geschehen? Sie lebten in den weiten Wiesen, auf denen es im hohen Sommer kein reißendes Wasser und nirgendwo wilde Tiere oder tiefe Abgründe gab.

Die Mutter hatte ihre Bluse und ihren Rock gewaschen, ehe dieser Tag herangekommen war, und das lange, schwarze Haar am Morgen sorgfältig gekämmt und in Zöpfe geflochten. So ging sie mit Wakiya-knaskiya über das einsame Land, ein paar Scheiben Brot und einige Beeren in der Tasche.

Wakiya war munter und fühlte sich gesund; er dachte an diesem Morgen nicht an das Leiden, das ihn vor einem Jahr befallen hatte. Seine Schritte waren nun schon größer und die Muskeln seines schmächtigen Körpers kräftiger geworden. Er war glücklich. Die Freude strahlte in ihm auf wie das Licht am Morgen. Nichts stand ihr entgegen, und er begrüßte die Gräser, die bald wieder die Nahrung der Büffel sein sollten; er fühlte unter den nackten Füßen die Erde, deren Herz wieder unter den Hufschlägen der Mustangs klopfen würde; er sog die Luft ein, die er künftig nach dem Gebet wieder zusammen mit den großen Kriegern und Häuptlingen der Prärie atmen wollte. Die Geister aber mussten verschwinden, als wären sie nie gewesen. Die überwältigende Erwartung des künftigen Lebens trieb ihm alle seine Säfte und Kräfte zu schnellerem Lauf; Wakiya war ganz erfüllt. Denn in der kommenden Nacht würde der Alte beten, und obgleich sich das bleich schimmernde runde Gestirn in diesen Nächten zu verstecken pflegte, würde es am schwarzen Himmel hervorkommen. Dann kehrte der Vater wieder, und mit ihm kamen alle die Toten im hirschledernen Gewand, mit Adlerfedern, Büffelhörnern und Hermelin und mit dem Stab ihrer Herrschaft über das weite Land. Hin und wieder rann es Wakiya wie Flammen durch die Glieder, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Schon glaubte er, nicht die Hand der Mutter, sondern die des wiederkehrenden Vaters gefasst zu haben, aber er besann sich. Noch war es Tag. Erst wenn es finster wurde und der erste Stern flimmerte, würde der Alte zu beten beginnen, und dann erst kehrten die Toten zurück.

Wakiya erinnerte sich an einiges aus den Liedern, die der Vater vor einem Jahr gesungen hatte, und sang leise vor sich hin, obwohl ihm der Atem beim Laufen und Singen ausgehen wollte. Die Mutter horchte auf, schaute auf das Kind, blieb stehen und wischte ihm den Schweiß von der Stirn.

Wakiya verstummte. Beim Laufen durfte man nicht singen, das war unrecht. Wer sang, musste bei sich selbst und seinem Lied sein und nicht mit den Füßen hastig über Gras und Erde streifen.

Wakiya wurde noch blasser, und seine großen Augen wurden noch größer. Die Mutter stieg mit ihm einen hohen, steilen Hang hinauf. Gras und Erde waren aufgerissen, und weißes Felsgestein drang hervor, Felsen, so weiß wie Wolken. Wakiya-knaskiya nahm die Hand vor den Mund und grüßte sie stumm und ehrfürchtig, denn sie waren das Grabmal eines großen Häuptlings, das nicht von Menschenhand geschaffen war. Hier lag er verborgen, und die Geister konnten ihn nicht ausgraben, und sie konnten den Toten nicht mit ihren schamlosen Stimmen stören; die Laute ihrer Geistersprache fanden nicht zu seinem Ohr. Doch wenn sich die Sonne dieses Tages senkte und der Alte seine Hände zum Himmel heben würde, dann sollte mit dem Mond auch der große Häuptling auferstehen.

Wakiya lief mit der Mutter zwischen den weißen Felsen abwärts auf ein fremdes Tal zu. Nadelzweige kratzten ihn, Steine drückten sich in seine Fußsohlen, vor seinen Augen schimmerte die Sonne, rund wie ein Schild, rot wie Blut. Als Wakiya in das fremde Tal hinunterblicken konnte, öffnete sich ihm vor Schrecken der Mund, ohne einen Ton hervorzubringen, und Wakiya verlor den Halt. Die Mutter musste hastig zugreifen, damit er nicht stürzte. Im Tal unten wand sich eine endlose, plattgetretene Schlange: der Weg der Geister.

Die Geister hatten den Weg in das Tal des Alten gefunden. Was würde nun geschehen? Wakiya blickte nicht mehr hinunter, sondern nur noch Schritt für Schritt vor sich hin. Aber er dachte an die platte Schlange ohne Anfang und Ende. Sie war tot, sie war grau, aber sie war nicht Erde noch Stein, noch Haut. Sie atmete nicht, sie trug weder Gräser noch Blumen, sie war weder kantig noch schroff. Glatt war sie, leblos, fremd. Welcher Fuß konnte sie überschreiten? Unberührt, voller Tücke wand sie sich durch das Tal und trennte die Toten von dem Alten. Gab es ein Gebet, das den Weg der feindlichen Geister überschreiten konnte?

Wakiyas Lippen zitterten, doch er sagte nichts zu der Mutter. Sie würde wohl alles wissen. Ruhig und unbeirrt stieg sie den Hang weiter abwärts, hin zu den grünen Füßen der weißen Felsen.

Wakiya konnte seine Augen nicht mehr abwenden, sie mussten jetzt die platte Schlange ansehen. Die Mutter führte ihn geradewegs darauf zu. Sie trat darauf, und Wakiya folgte ihr mit seinen bloßen Füßen. Er spürte das Harte, Glatte, Fremde und zog die Fußsohlen und die Zehen zusammen, um sich zu schützen und abzuschließen vor dem feindlichen Geheimnis. Aber während er die breite, leblose Schlange mit heiler Haut überschritt, wurde ihm besser zumute. Denn was er vermochte, das vermochten auch – nein, dessen war er nicht gewiss. Für Tote und für Lebende galten andere Gesetze.

Wakiya-knaskiya und seine Mutter ließen die Banngrenze der Geister hinter sich. Sie lag hinter ihrem Rücken, und sie stiegen wieder aufwärts, und Wakiya konnte den Blick zur Höhe heben, ohne das Unbekannte und Verwirrende zu sehen. Was vor ihm lag, war vertraut: ein kleines Blockhaus aus roh behauenen Stämmen, ohne Fenster, nur mit einer Türöffnung, nacktes Holz, sich lösende alte Rinden, Moder, schütteres Moos am Dach und über allem der Abschied der Sonne, die wieder am gilbenden Himmel hing wie der runde Schild eines Kriegers an der Zeltwand. Wakiya-knaskiya klammerte sich an die Hand der Mutter, denn aus der dunklen Öffnung des Hauses trat der Alte heraus.

 

Er war groß, größer noch, als der Vater gewesen war. Was seine hagere Gestalt umkleidete, waren ein hirschledernes Gewand, hirschlederne Leggings und Mokassins und ein langer Schurz, bestickt mit den geschmeidigen Borsten des Stachelschweins, deren einige mit roter Erde, einige mit gelber Erde und einige mit dem Blau der Yuccakerne gefärbt waren. Das Gestickte zeigte drei Ecken, auf der Brust aber acht Zacken, und Wakiya-knaskiya erkannte an den drei Ecken das Zeichen des Tipi, Mutterschoß, Heim und Heimat, und an den acht Zacken der Sterne die acht Winde, die überallher vom Himmel über die Erde kamen. Das waren die Zeichen, die auch Wakiya heilig hielt, und der Vater hatte ihn noch gelehrt, sie zu verstehen.

Die Mutter hatte Halt gemacht. Wakiya drückte sich an ihre Hüfte, und die beiden warteten miteinander, ob der Alte zu sprechen beginnen würde. Sein Gesicht war ausgemergelt wie der Stein von Wasser in vielen Jahren, sein Haar war dünn und grau geworden wie das Gras im langen Winter, seine Arme glichen Zweigen eines gestürzten Stammes. Der Alte hatte keine Augen mehr.

Aber mit den leicht erhobenen, in der Luft tastenden Händen kam er geradewegs auf Wakiya-knaskiya zu, und als ob er das Kind am tiefen Atem erlauscht und gefunden habe, beugte er sich herab und legte die Hand auf Wakiyas Haar, so sacht wie einst der Vater.

»Du bist zu mir gekommen, Wakiya-knaskiya, wie dein Vater mir vor einer großen Sonne gelobte. Du bist sein Sohn und sollst alles finden, was ich dir zu weisen vermag, und du sollst alles schauen, was sich uns in dieser Nacht zeigen will. Dein Vater ist von dir gegangen, und auch ich werde bald gehen; die Stimmen der Väter rufen mich. Aber ich will dich vorher auf den Weg schicken, die Augen zu suchen, die ich verloren habe.«

Wakiya-knaskiya lauschte auf die Stimme des Alten, die sanft und dunkel klang wie das Rauschen der heiligen Winde, wenn sie dem Lande wohltun wollten und den erquickenden Regen brachten.

»Ich werde gehen und die Augen suchen, die du verloren hast, mein alter, großer Vater.«

Der Alte strich dem Kind über das lange, schwarze Haar und neigte den Kopf tiefer.

»Du wirst ein Bruder der Geheimnisse, Wakiya-knaskiya.«

Da der Alte nun voranging, folgten ihm die Mutter und Wakiya zu der Höhe über dem Haus. Der Himmel hatte seinen Sonnenschild abgehängt.

Es wurde so dunkel, als ob das Innere der Erde hervorgekommen sei und sich mit seiner Finsternis über alles Land gewölbt habe. Sterne blinkten auf, aber die Winde erhoben sich; sie stürmten und jagten Wolken wie ein Rudel reißender Wölfe, das die Sterne fraß.

Es war ein dunstiger, heißer Tag gewesen, nun war es wilde Nacht. Auf der Höhe über dem Haus standen die drei Menschen, der Alte, die Mutter und das Kind. Der Alte hatte eine heilige Pfeife mit sich getragen, eine lange Pfeife, mit Hermelin und mit den Federn des Adlers geziert und geweiht. Er bot sie dem schwarzen Himmel dar, der staubenden Erde und den rauschenden Winden, ehrfürchtig und stolz sich neigend, wie es einem Häuptling und wissenden Mann geziemte. Dann hob er die Hände und betete zu dem Großen Geheimnis, dass der Mond in der mondlosen Nacht aufleuchten und die Toten und die Büffel aus den Gräbern unter den Wurzeln hervorkommen und die ihnen geraubte Erde wieder in Besitz nehmen mögen. Er hielt die mageren Hände in die Höhe, mit großer Geduld und ohne müde zu werden, eine Stunde um die andere, und obwohl er seine Augen verloren hatte, bog er den Nacken nach hinten, als könne er aus der Nacht seiner Augen das wahre Finstere noch schauen, und bot das Gesicht dem Himmel dar, der lichtlos über ihm drohte.

Wakiya-knaskiya stand neben dem Alten, und als das Kind nicht mehr zu stehen vermochte, zog die Mutter es zu sich heran und griff ihm unter die Schultern, so dass es halb in ihren Armen hing. Die Winde rauschten und pfiffen, die Krüppelbäume ächzten, und die Wolken jagten wie Wölfe vor den Sternen.

Aber der Mond kam nicht.

Der Vater kam nicht zu Wakiya-knaskiya, seinem Sohn, wie er doch versprochen hatte.

Die Toten standen nicht auf.

Die Büffel vermoderten unter den Wurzeln und kamen nicht mehr hervor.

Hohl und leer pfiffen die Winde, als ob sie nicht mehr heilig wären.

Die Arme des Alten sanken herunter. Sein Körper erzitterte wie der Baum, den der Sturm zu brechen beginnt. Er beugte sich hinab zu dem Kind und legte sein Gesicht an das seine. Wakiya-knaskiya spürte die Tränen aus den verlorenen Augen.

Das Kind schrie auf, denn die Wolken waren zerrissen, und unter den Sternen wand sich tief unten im Tal die platte, helle, tückische Schlange, das Tier der bösen Geister. Die Geister hatten gesiegt.

Tot blieb Wakiyas Vater im Grabe.

Tot blieben die Männer und Frauen im hirschledernen Gewand. Tot blieben die Büffel.

Zum Tode neigte sich der Alte, den die Mutter und das Kind wieder zu seiner Hütte führten.

»Ich bin zu schwach geworden, Wakiya.«

»Warst du stärker – damals –, alter Vater?«

»Ich war stärker – stärker konnte ich glauben, als die Männer noch um mich waren – klarer konnte ich träumen, als ich noch jung war – ich habe den Mond gesehen in der mondlosen Nacht – ich habe den Mond gesehen – Wakiya, vielleicht ist es alles ein Trug gewesen, als ich jung war, so wie auch nun, da ich alt geworden bin.«

Das verstand Wakiya-knaskiya nicht, aber auch diese Worte blieben in seinem Gedächtnis geschrieben wie die Fährte, die mit der weichen Erde zusammen hart wird.

»Alter Vater, wo kann ich deine Augen suchen, die du verloren hast?«

»Sie werden dir begegnen, Wakiya-knaskiya, und du wirst sie erkennen.«

Der Alte neigte sich vor dem Tode und widerstand ihm nicht mehr. Wakiya-knaskiya aber lag nach jener Nacht in der düsteren Hütte daheim, und es war dunkel und leer um ihn, denn sein künftiges Leben war vor ihm dahingeschwunden, und er hatte keine Freude mehr. Sein Körper krampfte sich zusammen. Eine ihm fremde Macht schüttelte ihn, so dass er nicht mehr zu tun vermochte, was er wollte. Seine Glieder zuckten, sein Kopf schlug auf die Decken, und sein Mund stand offen.

Stumm stand die Mutter bei ihrem Kind und wartete, bis der Geist es wieder loslassen würde.

Als Wakiya ruhig werden konnte, war er völlig erschöpft. Bleich war sein kleines Gesicht wie das eines Toten. Die Mutter liebkoste ihn, aber sie weinte nicht. Ihre Zähne bissen noch fester auf die Lippen, und die mürrischen Falten um ihren Mund waren noch tiefer geworden. Seit jener Nacht ging sie nicht mehr zum Grab ihres Mannes.

»Er hat uns betrogen und ganz verlassen, Wakiya.«

Wakiya-knaskiya sagte darauf nichts. Wie hätte er der Mutter widersprechen dürfen! Aber seine Gedanken suchten jeden Tag Schritt um Schritt auf der Fährte des Gedächtnisses, und er wartete darauf, dass die verlorenen Augen ihm begegnen würden.

Er wusste nun auch, dass ein Geist von ihm Besitz genommen hatte und ihn zerrte und schüttelte, so oft es ihm beliebte. Wakiya-knaskiya konnte nichts dagegen tun. Die Mutter blieb immer geduldig mit dem Kind, das ihr die meisten Sorgen machte, aber sie wollte in seinen Zügen nicht mehr den Vater wiedererkennen, und die jüngeren Geschwister erschraken, und es graute ihnen, wenn der Geist der Krankheit über Wakiya kam. Darum spielte Wakiya nur noch selten mit Bruder und Schwester. Wenn aber die Kleinen des Morgens noch schliefen oder des Abends schon eingeschlummert waren oder wenn sie zur Hitzezeit des Mittags in der schattig-dunklen Hütte auf den alten Decken ausruhten, dann schlich sich Wakiya-knaskiya zu dem Platz bei der alten Kiefer, wo die Kinder sich unter den verholzten Wurzeln eine kleine Höhle gegraben hatten, eine Höhle, in der Steinchen lagen, leuchtende Steinchen in vielen Farben – eine Höhle, in der Tiere standen, Tiere aus Lehm geformt – eine Höhle, in der sie einen winzig kleinen roten Wagen mit vier lose gewordenen Rädchen aufgestellt hatten. Den Wagen hatte die Mutter eines Tages mitgebracht, als sie Mehl und Brot einkaufen gegangen war; sie hatte ihn am Straßenrand gefunden.

»Das ist ein Auto«, hatte sie erklärt. Wakiya-knaskiya saß vor dem Auto und konnte seine Rätsel nicht lösen.