Der Weg in die Verbannung

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Der Weg in die Verbannung
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Liselotte Welskopf-Henrich

Der Weg in die Verbannung

Die Söhne der Großen Bärin II

Roman

Palisander

eBook-Ausgabe

© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erstmals erschienen 1962 im Altberliner Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Anja Elstner unter Verwendung einer Zeichnung von Karl Fischer

Mit einer Illustration von Herbert Prüget

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-957840-02-8 (e-pub)

www.palisander-verlag.de

Die Söhne der Großen Bärin

1. Band: Harka

2. Band: Der Weg in die Verbannung

3. Band: Die Höhle in den schwarzen Bergen

4. Band: Heimkehr zu den Dakota

5. Band: Der junge Häuptling

6. Band: Über den Missouri

Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über die Autorin

Der Berg schweigt

Das Versteck in der Wildnis

Freund oder Feind?

Nach dem Sandsturm

Zwischen zwei Welten

Ein letzter Schuss

Weitere Bücher

Textauszug aus »Roter Vogel erzählt«

Fußnote

Der Berg schweigt

Die Sonne stand hoch am Himmel. In der Mittagswärme flimmerte die Luft, als ob sie die Strahlen zu einem goldenen Schleier webte. Über dem Windbruch, der zu Beginn des Frühlings am Hang der Black Hills entstanden war, lag jetzt Ruhe. Aus den Wunden der gestürzten Stämme duftete es nach Harz. Wurzelwerk stand in der Luft; getrocknete Erde und vertrocknetes Moos hingen noch daran. Während die entwurzelten Bäume starben, reckten sich Gräser und Beerenstauden im neu gewonnenen Licht. Käfer krabbelten eifrig ihren mühsamen Weg, und es summte und surrte von Bienen.

Am Rande der Bruchstelle, zwischen schattengebenden Bäumen, stand ein Bär. Nur ein paar Sonnenflecken tanzten durch Laub und Nadeln bis auf seinen braunen Pelz und in seine kleinen Augen. Er blinzelte, setzte sich hin, hob die Vordertatzen und schleckte eine nach der anderen sorgfältig ab. Dann sog er die Luft tief ein, überlegte und schnüffelte wieder.

Schließlich erhob er sich und begann in das Gewirr der gestürzten Stämme einzudringen. Auf seine gewohnte Art benutzte er die langen Krallen zum Klettern und balancierte geschickt von einem Stamm zum andern, während ihm die Sonne jetzt prall auf das Fell schien. Immer entschiedener strebte er einem riesigen alten Baum zu, der sich inmitten der allgemeinen Zerstörung aufrecht erhalten hatte. Der Stamm war dick, die Krone zerzaust, die Rinde rissig. Die Blätter spielten leise mit Wind, Sonne und Schatten, und ringsumher schwärmten Bienen.

Der Bär näherte sich dem Baum und wurde allmählich vorsichtig. Er war nicht mehr jung. Von Erfahrungen gewitzt, umkreiste er sein Ziel, stieg von einem querliegenden Stamm herab und verkroch sich im Gesträuch und zwischen Zweigen. Langsam, im Zickzack, als ob er nicht mehr genau wisse, wohin er wolle, kam er dem Baum näher und näher, und verführerisch duftete ihm Honig entgegen.

In einem tiefen Astloch des Baumes hatte sich ein Bienenvolk angesiedelt. Der Bär wollte den Wintervorrat an Honig rauben, den es sich gesammelt hatte. Als der Braunpelz sich bis zum Stamm angeschlichen hatte, ohne dass die Bienen misstrauisch geworden waren, reckte er sich schnell in die Höhe. Auf den Hintertatzen stehend, griff er mit einer Vordertatze in das Astloch; honigtriefend zog er sie zurück und leckte verzückt daran.

Jetzt wurden die Bienen aufmerksam. Zuerst flogen diejenigen aufgeregt davon, die der Räuber mit der Tatze im Stock aufgestört hatte. Fast zur selben Zeit schwirrten andere herbei, die honigbeladen zu dem Astloch unterwegs gewesen waren, und im Nu musste ein dem Bären unbekanntes Nachrichtenwesen funktioniert haben, denn wie eine Wolke kam das Bienenvolk schon von allen Seiten. Den Tod nicht kennend und daher nicht achtend, drangen die Insekten auf ihren Feind ein und stachen ihn überall, wo sie an seinen Körper gelangen konnten.

Wütend schlug der Bär mit den Vordertatzen um sich und suchte vor allem seine Augen zu schützen. Aber die surrenden kleinen Angreifer waren schnell und geschickt und vergällten dem dicken Braunen die Freude an seinem Raub gänzlich. Er holte sich zwar noch ein zweites und letztes Mal eine Tatze Honig und schleckte schnell, ohne rechten Genuss, unaufhörlich umschwirrt und gestochen. Aber dann zog er sich eilends zurück. Er turnte über die Stämme, sprang trotz seines Gewichts fast so gewandt wie eine Eichkatze davon und gelangte endlich wieder in Wald und Schatten. Die wütenden Bienen verfolgten ihn noch immer. Er lief weiter und brach durch das Gebüsch, dass es krachte.

Aber nach hundert Metern blieb er plötzlich stehen, als ob er versteinert worden sei. Während er einen Teil der Bienen noch hinter sich hatte, war vor ihm der ihm verhassteste aller Feinde aufgetaucht: ein Mensch.

Der Mensch lachte dröhnend. Der Bär glaubte, dass sein Feind brülle, und antwortete mit einem bösen Fauchen, um dem anderen Angst zu machen. Aber das dem Bären widerwärtige Geschöpf lachte weiter. Die Bienen nahmen unterdessen ihren Vorteil wahr und stachen den Braunfelligen von hinten an empfindlichen Stellen. Das wurde dem Bären, der sich in dieser stillen Mittagsstunde auf Genuss und nicht auf Gefahr eingestellt hatte, zu viel. Er brach zur Seite aus und rannte in voller Flucht waldabwärts.

Die beharrlichsten der Bienen verfolgten ihn noch eine Strecke weit. Dann kehrte das Insektenvolk triumphierend zu seinem Stock zurück. Die Toten wurden nicht gezählt.

Der Mensch hatte dem fliehenden Bären nachgeschaut und noch einmal aufgelacht. Als das Raubtier verschwunden war, schlug er sich auf den Mund, sagte leise »Dummkopf« zu sich selbst und verkroch sich, um zwischen Buschwerk und Stämmen hindurch auf den Windbruch am Hang Ausschau zu halten.

Als er sich überzeugt zu haben glaubte, dass außer ihm selbst und dem Getier aller Art nichts und niemand im Wald und auf der Lichtung unterwegs war, regte er sich wieder. Mit aller Umsicht, deren Jäger wie Gejagte in der Wildnis fähig werden, ging er die hundert Meter durch den Wald am Rand des Windbruchs. Er überzeugte sich bei jedem Schritt und jedem Griff, dass er keine Spur hinterließ, und wenn dies doch der Fall war, nahm er sich Zeit, um sie unsichtbar zu machen. Als er den Windbruch erreicht hatte, kletterte er, gewandter noch als der Braunbär, durch das Gewirr der gestürzten Stämme, der dörrenden Baumkronen und des herausgerissenen Wurzelwerks. Auch er strebte zu dem einzigen Baumriesen, der der Gewalt des Wirbelsturms entgangen war. Aber es lag nicht in seiner Absicht, den Bienenstock auszurauben. Er umging den Baum, näherte sich von der dem Astloch abgewandten Seite und besah einen Unterschlupf, den er schon vom Rand der Lichtung her entdeckt hatte. Die Zweige einer Baumkrone, an denen verwelkte und auch noch einige grünende Blätter hingen, die Wurzeln eines anderen Baumes und etliches Gesträuch bildeten eine Art natürlicher Laube. Der Mann kroch darunter, zog das Messer und schnitt Zweig- und Wurzelgewirr etwas aus, so dass er sich freier bewegen konnte. Zwei Ledersäcke, die er bei sich trug, und seine Büchse verstaute er im verborgensten Winkel. Dann prüfte er mit den Augen die Möglichkeit, von seinem Versteck zu dem mächtigen Baum und in dessen Krone zu gelangen, und probierte den Weg, der ihm dafür geeignet schien, auch gleich aus. Hoch oben in der dicht belaubten Baumkrone fand er den gewünschten Sitz auf einem Ast, der immer noch stark genug war, um nicht zu schwanken. Das Schwanken eines Astes hätte etwaige verborgene Feinde aufmerksam machen können. In aller Ruhe spähte der Mann aus seinem Versteck umher, über die Baumwipfel an den Berghängen, über die Prärien am Fuße des Gebirgsstocks, die im Mittagsglast lagen und sich mit ihren grasbewachsenen und sandigen Bodenwellen im Dunst verloren. Gegen Südosten zu erkannte er in der Ferne Ödland und bizarre Felsen.

 

Die aufgestörten, immer noch unruhigen Bienen waren dem Mann lästig, aber doch nicht mehr als eine ärgerliche Empfindung wert. Er rührte sich nicht, nur hin und wieder nahm sein Blick eine andere Richtung.

Hoch über den Wäldern kreisten zwei Raubvögel.

Die Ruhe des Mittags, die Stille der Wildnis, die Regungslosigkeit der Baumwipfel machten den Mann zufrieden. Allein zu sein und weithin nirgends einen anderen Menschen zu wissen, das war im Augenblick alles, was er sich wünschte.

Er blieb in der Baumkrone bis gegen Abend, so regungslos, als wäre er selbst ein Ast. Als die Sonne sich tiefer neigte, kletterte er behende, ohne Äste zu bewegen, geräuschlos hinab und kroch in sein Versteck.

Hier öffnete er erst den einen Sack, entnahm ihm eine halbe Handvoll getrocknetes und gemahlenes Büffelfleisch und ließ es auf der Zunge zergehen, um es langsam zu schlucken. Dann gestattete er sich einen Schluck Wasser aus dem zweiten Sack. Das war seine Mahlzeit an diesem Tag. Mehr brauchte er nicht, denn er war gut bei Kräften, und sein Körper konnte einige Zeit hindurch zusetzen.

Für eine Viertelstunde streckte er sich aus und ruhte. Dabei dachte er, was er nur äußerst selten zu tun pflegte, an sich selbst und sein bisheriges Leben. Er dachte daran, weil er hoffte, dass sich in der beginnenden Nacht dieses Leben endgültig, für immer, ändern sollte. Nein, das war falsch gedacht. Es konnte sich nicht so schnell verändern. Aber die eine große Wendung, der alles andere folgen sollte, musste in dieser Nacht eintreten.

Sie musste!

Der Mann, der seinen Willen darauf konzentrierte, mochte zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein. Wie alt er war, wusste er selbst nicht genau, denn er besaß keinen Geburtsschein, und kein Schreiber in der Welt hatte mit seiner Feder den Moment notiert, in dem dieser Mann als ein Kind das Licht erblickt und zu schreien begonnen hatte. Er kannte weder seinen Vater noch seine Mutter, hatte auch nie Genaueres gehört, wer sie gewesen waren. Seine früheste Erinnerung war der krachende Sturz eines gefällten Baumes. Damals war er erschrocken. Später hatte er sich nicht mehr erschreckt, weder vor den stürzenden Bäumen noch vor dem fluchenden Pflegevater noch vor Prügeln. Eine ganz schwache Erinnerung besaß er daran, dass er einmal seiner Pflegemutter hatte helfen wollen, als diese von ihrem Mann halb zu Tode geschlagen wurde. Der Erfolg war nur der, dass die Pflegeeltern sich vereint auf ihn stürzten und er mit knapper Not sein Leben rettete. Er war also dumm gewesen, das war der Schluss, den er selbst aus dem Erlebnis zog, und jedenfalls verspürte er nie wieder Lust, einem anderen zu helfen. Er lernte sehr früh Bäume fällen, Schnaps trinken, rauchen, fluchen, schießen und mit dem Messer stechen. Einmal beteiligte er sich an dem Überfall auf eine der Postkutschen, die den Ost-West-Verkehr in dem riesigen Land durch die Wildnis hindurch vermittelten. Er war damals kaum dem Knabenalter entwachsen und sah zum ersten Mal in seinem Leben Leute in kostbaren Kleidern und viel Geld in einer einzigen Börse, die er verschwinden ließ, ehe seine Raubkumpane etwas davon merkten. Mit der Börse verschwand er selbst in den Prärien, kaufte sich von einem der Grenzhändler eine vorzügliche Büchse und ging von da an allein und völlig selbständig auf Raub aus.

Sein bedeutendster Fang war einer der berittenen Geld- und Telegrammboten. Dieser Bursche ritt ein schnelles und ausdauerndes Pferd, war auch sehr gut bewaffnet. Aber es gelang dem jungen Räuber, ihn im Wald zu überraschen und zu überwältigen. Zum letzten Mal in seinem Leben hatte er diesem Burschen gegenüber so etwas wie ein Mitgefühl mit einem Menschen empfunden, ehe er ihn umbrachte. Der andere weinte und flehte um sein Leben und sagte, dass er ein Waisenkind sei. Natürlich, was war anderes zu erwarten gewesen, für das gefährliche Botengewerbe wurden fast nur Waisenkinder angestellt, deren Tod keine Scherereien verursachte. Eben darum tat es dem jungen Räuber, der selbst ein Waisenkind gewesen war, einen Moment leid um den Burschen. Aber er überwand sein Gewissen mit einem Ruck und führte den tödlichen Stoß. Obgleich er mit einem großen Teil seiner Beute, den Kreditpapieren, nichts anzufangen wusste, war die übrige Ausbeute noch reich genug. Aber der junge Räuber hatte nicht gelernt, mit Geld umzugehen und noch mehr Geld daraus zu machen. In Spelunken und Schenken, bei Spiel und Schnaps liefen ihm die Münzen durch die Finger wie Wasser, und er schloss daraus, dass es zwar schön sei, reich zu sein, dass es aber nur Sinn habe, Geld zu besitzen, wenn man es in unermesslichen Maßen besaß, die ein Menschenleben hindurch kein Ende nahmen.

Er hatte bei den Truppen der Südstaaten und auch bei den Truppen der Nordstaaten im mehrjährigen Bürgerkrieg Kundschafterdienste angenommen und war im Krieg zum legalisierten Räuber geworden, aber auch das hatte nicht genug gebracht.

Gold musste man finden! Irgendwo, wo kein anderer es suchte und wo man allein Herr wurde über unerschöpfliche Schätze der Erde. Heute in der Nacht, heute in dieser Nacht, musste es ihm endlich gelingen, ein sagenhaftes Goldvorkommen aufzuspüren, zu dem noch kein anderer gelangt war, jedenfalls noch kein Mensch mit weißer Haut!

Der Mann befühlte im Dämmer seines Verstecks und der gebrochenen Helligkeit des sinkenden Tages seine Perücke und lächelte befriedigt vor sich hin. Sein Gesicht war bartlos, denn er rasierte sich sorgfältig; das war der einzige Luxus, sein einziges Steckenpferd, davon ließ er nicht ab. Sonne und Wind hatten seine Haut der eines Indianers ähnlich gemacht. Als Perücke trug er einen Dakotaskalp mit zwei schwarzen Zöpfen. Es war die Kopfhaut einer Frau, die er ermordet hatte. Seine Füße waren mit weichen, elchledernen Mokassins beschuht.

Ein Pferd hatte er nicht bei sich. Er hatte es in der Prärie frei laufen lassen, um jedweden Verfolger zu narren und glauben zu machen, dass er tot sei. Denn in der Prärie auf ein Pferd verzichten, das konnte nach den Vorstellungen der Indianer nur ein Toter oder ein Wahnsinniger.

Für wahnsinnig aber würde ihn niemand halten, der seinen Namen kannte. The Red oder Red Jim oder Red Fox oder wie er auch immer genannt werden mochte, war für seine sichere Hand und seinen sicher rechnenden Verstand in einigen Landstrichen schon berühmt, obgleich er erst zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte.

Heute in der Nacht wollte er zum zweiten Mal geboren werden. Das erste Mal war es ihm nur geglückt, als ein armer Teufel auf die Welt zu kommen. Jetzt aber würde er ein reicher Herr werden.

Ein unerschöpflich reicher Herr würde er sein, in diesem zweiten Leben!

The Red rührte sich, kroch aus seinem Versteck und kletterte noch einmal auf den Baum, um Ausschau zu halten. Der Abend war so einsam und still wie der Mittag.

Da ließ sich der Mann wieder herunter und machte sich auf den geplanten Weg. Die Säcke mit Fleisch und Wasser, selbst seine Büchse ließ er in seinem Versteck zurück. Er musste die Hände frei haben. Bedächtig, ohne jede Hast, immer mit der gleichen lückenlosen Aufmerksamkeit und Vorsicht, bewegte er sich zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzeln und Gebüsch im Windbruch aufwärts und gewann endlich den Wald. Er befand sich jetzt etwa dreihundert Meter höher als bei seiner Begegnung mit dem Braunbären. Ehe er weiter in den Hochwald eindrang, schaute er noch einmal über den Hang zurück und lauschte angestrengt.

Es war schon dunkel geworden, Fledermäuse flatterten unter einer Baumkrone hervor, schwebten umher und jagten.

Sonst rührte sich nichts.

Der Mann schlich weiter waldaufwärts und hielt sich etwas nach links. Die Gegend war ihm gut bekannt. Er konnte nicht irregehen. Der Waldhang wurde noch steiler, und der Mann nahm sich weiterhin in Acht, um keine Spuren zu hinterlassen, die bei Tag für unerbetene Nachforschungen sichtbar wurden. Zwar hatte er sich überzeugt, dass sich rings im Wald kein Indianerlager mehr befand und auch keine weißen Jäger oder Holzfäller unterwegs waren. Aber vor Überraschungen musste man in der Wildnis immer auf der Hut sein.

Es war schon Mitternacht, als The Red an einer Felswand anlangte, die aus dem Waldhang herauswuchs und die tiefer stehenden Bäume überragte. Oberhalb der Wand setzte der Baumwuchs wieder ein. The Red kletterte am Felsen hoch. Er hatte die Mokassins ausgezogen und eingesteckt und kletterte mit bloßen Füßen. Zehen und Finger einkrallend, zog er sich langsam über die Vorwölbung im Felsen in die Höhe. Er war sehr groß, das kam ihm hier zugute. Mit seinen langen Armen und Beinen konnte er weit umhertasten und auch entfernte Griffe und Tritte erreichen und ausnutzen.

Endlich hatte er es geschafft. Er gelangte zu dem Eingang der Höhle, den er nach der Beschreibung des zahnlosen Ben kannte und durch den er eindringen wollte. Er dachte jetzt nicht mehr daran, dass er ein großer Herr werden und in Saus und Braus leben wollte; er konzentrierte seine Gedanken und seinen Willen nur noch auf den jeweils nächsten Schritt und Tritt.

In der Höhle brauchte er kaum zu befürchten, dass er Spuren hinterließ. Er musste nur nicht allzu gewaltsam mit den sonderbaren Felsgebilden umgehen, die vom Boden auf- und von der Decke herabwuchsen. Ihre Spitzen durfte er nicht abbrechen. Das ließ sich leicht vermeiden.

The Red kam verhältnismäßig schnell voran. Der Höhlenboden senkte sich, und aus der Tiefe des Berges drang das Dröhnen, dessen Natur dem Eindringling schon von dem zahnlosen Ben beschrieben worden war. Tief im Berg stürzte eine Quelle als Wasserfall durch Höhlenarme abwärts. Dieser Wasserfall war es, der dem zahnlosen Ben im Frühling gefährlich geworden war. The Red würde sich geschickter verhalten und sich nicht von dem Wasser hinabreißen lassen. Ein Wunder, wahrhaftig, dass der Zahnlose den Tücken dieser Höhle noch entkommen war. Mehr Glück als Verstand hatte der Schleicher gehabt. Nun ließ er es sich in seiner Handelsspelunke am Niobrara wohl sein und verdiente sein Geld mit weniger Gefahr. The Red hatte dem zahnlosen Esel diesen guten Rat für sein weiteres Leben gegeben. Ben würde sich nie mehr in der Höhle sehen lassen, davon war The Red überzeugt.

Er allein beherrschte dieses Revier.

Der Mann erreichte die Stelle, an der das Wasser aus einem rechter Hand aufsteigenden Höhlenarm herunterschoss, den Hauptgang kreuzte und linker Hand donnernd in die Tiefe hinabstürzte.

The Red machte hier halt, setzte sich an den Rand des Wassers, bückte sich und erfrischte sich mit einem Schluck. Das eiskalte Wasser schmeckte nicht schlecht.

Goldwasser, dachte der Mann.

Der Moment der Ruhe rief sogleich wieder seine Phantasie wach. Er gestattete sich eine Pfeife. Mit großer Ruhe und Überlegung und mit erfrischten Kräften wollte er jetzt ans Werk gehen. Er klopfte die Pfeife aus, so dass der Tabak in das Wasser fiel, hängte sie wieder an der Schnur um den Hals und erhob sich. Zunächst tastete er den Rand des Höhlenarmes ab, der rechter Hand aufwärtsführte und aus dem das Wasser herunterschoss. Das Ergebnis seiner Untersuchung war wenig ermutigend. Die Quelle führte im Frühling noch mehr Wasser als zur Sommerzeit und hatte die Ränder ihres Felsenkanals in Jahrhunderten und Jahrtausenden vollständig glatt ausgewaschen. Keine Hand, kein Fuß konnte daran Halt finden.

Der Mann ließ zunächst ab von jedem Versuch, an dieser Stelle aufwärts zu klettern. Er überschritt im Hauptgang der Höhle den Bach, der hier nur seicht floss, und tastete dann vom anderen Ufer aus wieder an der Felswand hoch, die zu dem aufsteigenden Höhlenarm führte. Auch auf dieser Seite war der Fels glatt gescheuert, in Mannshöhe ohne jede Einbuchtung, ohne jeden Halt.

 

»Donner, Fluch, Dreck! Misthöhle!« Der Mann schrie nicht, er zischte nur und schlug mit der Faust gegen den glatten Fels. Im Vergleich zu seinem Temperament und seinen sonstigen Jähzornausbrüchen war diese Zornesäußerung nur gering und durchaus mild. Er bemerkte sie selbst kaum, es war eine Art Reflexbewegung gewesen.

Er setzte sich wieder hin und dachte nach.

War dies die richtige Stelle? Der zahnlose Ben hatte da hinaufklettern wollen, das stand fest. Warum, das hatte der schwarzhaarige Esel trotz seiner Angst vor Red Jim allerdings nie recht gestanden. Was er Jim gesagt hatte, waren nur Ausflüchte gewesen. Aber die Tatsache, dass der zahnlose Esel eine so schwierige und scheinbar aussichtslose Kletterei versucht hatte, deutete darauf hin, dass er irgendwelche sicheren oder wenigstens einleuchtenden Nachrichten über Goldvorkommen oben in den Seitenarmen der Höhle, bei der Quelle oder über der Quelle besitzen musste. The Red hielt diesen Anhaltspunkt in Gedanken fest und verglich damit die Worte, die er von einem halb betrunkenen Indianer gehört hatte. Wenn diese Worte überhaupt einen Sinn hatten und sich zusammenfügten, so passten sie eben auf diese Stelle in der Höhle. Vielleicht allerdings legte The Red die Worte und Satzfetzen, die er dem angetrunkenen Häuptling entlockt hatte, nur darum als Beschreibung dieser Höhlenstelle aus, weil er durch den zahnlosen Ben schon etwas davon erfahren hatte. Vielleicht gab es viele andere Stellen in dem verfluchten höhlenreichen Berg, die dieser ähnlich sahen, und The Red war seinem Glück nicht nah, sondern fern und wurde wie ein Tanzbär an der Nasenkette von falschen Kombinationen im Kreise geführt.

Alles in allem genommen, das Erste und Notwendige für ihn war, diesen schwierig zugänglichen Höhlenarm zu untersuchen, aus dem das Wasser herunterschoss.

Er stand wieder auf, zog den Tomahawk und suchte, seine Reichweite mit diesem Werkzeug erweiternd, noch einmal die glattgewaschenen Wände von beiden Seiten des Wassers her ab. Aber er fand nicht die geringste Einbuchtung, auch keinen Felsvorsprung als Anhalt.

So ging es also nicht.

Ging es überhaupt? Konnte ein Mensch da hinaufgelangen?

Er hatte keine Lust, bei einem tollkühnen Versuch von dem Wasser mit hinabgerissen zu werden, wie es Ben im Frühjahr geschehen war.

Noch einmal überlegte The Red alle Worte, die er von dem angetrunkenen Indianerhäuptling gehört hatte. Er wusste jedes einzelne auswendig, jedes halbe Wort, jede Silbe hatte er gehört und behalten. Aber der Indianer hatte in der Dakotasprache gesprochen, und der Wortschatz, den The Red in dieser Sprache beherrschte, war nicht groß und bezog sich nur auf die lebenswichtigen Vorgänge in der Wildnis und zwischen den dort lebenden Menschen. Auf genaue Beschreibungen war er mit seinen Sprachkenntnissen nicht eingestellt, und wahrscheinlich war auch für den Sprachkundigsten die Beschreibung nicht eben genau gewesen.

Vielleicht hatte der schlaue Indianer ihn sogar mit Absicht genarrt und sich betrunkener gestellt, als er war. Wer kannte sich mit einer Rothaut aus? Vielleicht hatte dieser schmutzige Dakota nur aus The Red herausbringen wollen, wo dieser das Gold zu suchen gedachte.

Vielleicht schlich er mit seiner Kojotenbande schon hinter ihm her.

Verdammt!

Es konnte sein, dass ihm, dem Roten Jim, nicht so viel Zeit für ungestörtes Nachforschen blieb, wie er geglaubt hatte.

Himmel, Hölle und Teufel!

Das gleichmäßige Rauschen des Wassers, das Donnern des Wasserfalls in der echowerfenden Höhle konnten den ruhigsten Menschen in kurzer Zeit unruhig machen.

Vielleicht musste man den Fels anspringen, hinaufspringen bis zu der Stelle, an der sich der ansteigende Höhlenarm verengte und ein Mensch sich rechts und links an den glatten Wänden anstemmen konnte.

Ja, das war eine Möglichkeit.

The Red schlug Feuer und betrachtete im Licht eines glimmenden Spans die Umgebung. Der zuletzt von ihm erwogene Plan erschien ihm auch bei Licht ausführbar. Bei Licht war er am ehesten ausführbar.

Daher benutzte der Mann den verglimmenden Span, um einen größeren, mit Teer beschmierten anzuzünden, den er sich ebenfalls mitgebracht hatte. Er legte diesen an den Felsrand des seichten Bachbettes, das den Hauptgang der Höhle kreuzte, und betrachtete dabei seine Umgebung auch auf mögliche Spuren hin, die der zahnlose Ben oder andere Menschen, die schon hier gewesen sein mochten – zum Beispiel Indianer –, verursacht haben konnten. Aber er entdeckte nichts dergleichen. Der Zahnlose hatte an dieser Stelle entweder kein Feuer gemacht oder keinerlei Reste davon herumliegen lassen.

Erstaunlich schien dem Mann bei Licht, dass das Wasser einen Mann über den Hauptgang der Höhle weg in die Tiefe gerissen hatte. Selbst wenn der herabstürzende Bach einen packte, musste er sich doch hier noch halten können, wenn einer kein zappelndes Baby war.

The Red wurde bei dieser Berechnung sehr zuversichtlich. Er konnte versuchen, zu dem ansteigenden Seitenarm hinaufzuspringen, ohne damit gleich das Leben zu riskieren. Er legte alles ab, was nicht nass werden sollte: Feuerzeug, Pfeife, Tabak.

Dann sprang er hoch, und es gelang ihm tatsächlich, sich in dem ansteigenden Höhlenarm mit Knien, Schultern, Händen und Füßen festzuklemmen. Das eiskalte Wasser floss an seinem Körper herab, überspülte ihm den Kopf, drückte gegen seine Schultern. Er hielt sich krampfhaft fest und suchte sich mit gespreizten Knien so an die Wände anzudrücken, dass er mit einer Hand den Fels würde loslassen können, ohne abzurutschen.

Er musste sich beeilen, denn lange vermochte er in seiner jetzigen Lage nicht auszuhalten.

So ... los ... nun mochte es gelingen!

The Red machte die rechte Hand und den rechten Ellenbogen frei und suchte. Aber die Gewalt des Wassers war groß, und die Finger wurden ihm in der Eiseskälte der unterirdischen Quelle schon steif. Er konnte nicht lange untersuchen, er musste sich auch mit dem rechten Arm wieder einstemmen, um nicht allen Halt zu verlieren.

Da, nun war es doch geschehen.

The Red war mit dem linken Knie ein wenig gerutscht, nur um zwei Zentimeter. Aber das hatte schon genügt, um ihn ganz aus dem Halt zu drängen. Er konnte dem Wasser nicht mehr widerstehen; es drückte ihn aus dem Seitenarm der Höhle hinaus. Er stürzte in den Hauptgang der Höhle, rücklings, prallte auf den Fels und griff um sich, um neuen Halt zu finden.

Das war nicht schwer. Seine Hände fassten den Felsen, und triefend nass erhob er sich, um aus dem seichten Bachbett im Hauptgang der Höhle tastend hinauszukriechen auf trockenen Boden.

Dummes Zeug! Dreckshöhle, verdammte!

Der teerbeschmierte Kienspan war erloschen.

Aber The Red hatte sich nicht verletzt, nichts gebrochen, den Schädel nicht angeschlagen. Er war ganz bei Sinnen. Ein wenig fror er, und der Rücken tat ihm vom Aufprall weh, aber damit beschäftigte sich sein Bewusstsein kaum.

Er wollte den Versuch wiederholen.

Zunächst gönnte er sich ein Pfeifchen, um wieder ganz zur Ruhe zu kommen. Er überlegte, ob er noch einen Span riskieren solle, kam davon aber ab, da er sich jetzt auch im Dunkeln zurechtzufinden dachte.

Ein zweites Mal stellte er sich an den verhältnismäßig günstigen Platz, von dem aus er auch das erste Mal den Sprung gewagt hatte. Wieder schnellte er sich empor, kam sogar um eine Handbreit höher als das erste Mal und klemmte sich wieder fest. Diesmal zögerte er nicht, sofort weiterzutasten. Seine gespreizten Knie hielten ihn fest; er legte alle seine wilde Kraft hinein. Den Atem anhaltend, schob er sich, vom Wasser vollständig überspült, ein Stückchen höher und noch ein kleines Stück. Ein Toben der Freude erfüllte ihn. Er kam weiter!

Der Seitenarm der Höhle verengte sich, wurde aber flacher. Der Mann gewann ohne Schwierigkeit, in schnellem Tempo, einen ganzen Meter.

Er musste haushalten mit der Luft, die er vorher tief eingeatmet hatte, denn das Wasser füllte hier den engen Höhlengang aus; der Mann konnte nicht atmen.

Der Seitenarm der Höhle wurde wieder steiler. Fast senkrecht ging es hinauf, und das Wasser hatte dadurch doppelte Gewalt. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte The Red, sich dieser Gewalt entgegen weiter aufwärtszuschieben. Es gelang ihm noch, etwa dreißig Zentimeter Höhe zu gewinnen, aber dann steckte er hoffnungslos fest. Seine Schultern und Hüften waren zu breit, um durch den engen Höhlenarm weiter hindurchzukommen. Mit wütender Anstrengung versuchte er sich zu strecken, voranzuschieben.

Es war vergeblich.