Der Bergführer

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Liselotte Welskopf-Henrich

Der Bergführer

Erzählung

Palisander

eBook-Ausgabe

© 2015 by Palisander Verlag, Chemnitz

Erstmals erschienen 1954 im Mitteldeutschen Verlag, Leipzig

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Covergestaltung: Anja Elstner, unter Verwendung des Bildes »Dolomiten klettern« von Gustav Jahn

Lektorat: Palisander Verlag

Redaktion & Layout: Palisander Verlag

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-957840-16-5 (e-pub)

www.palisander-verlag.de

Liselotte Welskopf-Henrich (1901 - 1979) war eine deutsche Schriftstellerin und Wissenschaftlerin. In den Jahren der Naziherrschaft war sie am antifaschistischen Widerstandskampf beteiligt. Ihre Erfahrungen aus der Weimarer Republik und dem »tausendjährigen Reich« verarbeitete sie in ihren Romanen »Zwei Freunde« und »Jan und Jutta«. 1951 erschien die Urfassung ihres Indianerromans »Die Söhne der Großen Bärin«, den sie später zu einem sechsteiligen Werk erweiterte. 1966 erschien »Nacht über der Prärie«, der weltweit erste Gesellschaftsroman über die Reservationsindianer im 20. Jahrhundert. In den folgenden Jahren, bis zu ihrem Tod, entwickelte sie diese Thematik in vier weiteren Bänden weiter. Darüber hinaus war sie seit 1960 Professorin für Alte Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität und seit 1962 Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Schriftstellerin fand sie internationale Anerkennung. Die Stammesgruppe der Oglala verlieh ihr für ihre tatkräftige Unterstützung des Freiheitskampfes der nordamerikanischen Indianer den Ehren-Stammesnamen Lakota-Tashina, »Schutzdecke der Lakota«.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Über die Autorin

Vorbemerkung

Der Bergführer

Weitere Bücher

Vorbemerkung

»Der Bergführer« wurde erstmals 1954 im Mitteldeutschen Verlag Leipzig veröffentlicht. Liselotte Welskopf-Henrich hatte die Handlung im Jahre 1939 angesiedelt, noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die Protagonisten der Handlung, die aus Berlin und aus Südtirol stammen, lebten somit in der Zeit des deutschen und italienischen Faschismus, und entsprechend waren ihre Lebensumstände dargestellt.

Für die damalige Veröffentlichung wurde die Handlung jedoch ins Jahr 1950 verlegt, offenkundig aus politischen Gründen, und teilweise abgewandelt. Ob mit oder ohne Einverständnis der Autorin, ist nicht überliefert. Die Absicht hinter der Veränderung ist leicht zu erkennen: Westberlin, die Frontstadt im noch jungen Kalten Krieg, sollte in einem möglichst negativen Licht dargestellt werden. Hier konnte der ehemalige Nazi Ordemann seine Vorkriegskarriere unbehindert fortsetzen, hier war das Arbeitermädchen Lotte ohne jede Perspektive.

Die Verlagerung der Handlung in eine andere Epoche führte zu verschiedenen Unstimmigkeiten der Geschichte. Die Leserschaft honorierte dies nicht: »Der Bergführer« erlebte als einziges Werk der Autorin bis heute keinerlei Neuauflagen.

Die vorliegende Fassung des Werkes beruht auf dem Originalmanuskript Liselotte Welskopf-Henrichs, so daß diese fesselnde Erzählung aus der Zeit des »Tausendjährigen Reiches« der Öffentlichkeit erstmals in ihrer ursprünglichen Gestalt zugänglich gemacht werden kann.

Frank Elstner, Januar 2015

Der Bergführer

»Föhn …«, sagten die Menschen. »Das ist der Fallwind.«

Der Sturm kam aus Süden. An den Hängen der Alpen fiel seine Glut ins Tal. Die lichten Lärchenwälder im südlichen Tirol dürsteten. Die Wiesen verdorrten, wurden braun. Weißgrau lagerten die vom Wasser abgeschliffenen Steinblöcke in den Betten der Bergbäche. Schwächliche Rinnsale tickerten und klickerten zwischen dem Geröll zu Tal. Das Vieh schlug nach den Mücken. In den Menschen pulste das Blut unruhig. Sie arbeiteten ohne Lust und waren müde, ohne Schlaf zu finden. Lange verdeckte Feindschaften platzten auf wie die rissige Erde. Die Richter fällten mildere Urteile über Untaten, wenn sie in den Föhn-Nächten geschehen waren.

Die Felsengipfel verschwammen in flimmernder Hitze. Der Mittagsglast schien ihre Schwere aufzulösen. Ihre Konturen verwischten sich, und sie lagerten gleich sonnendurchleuchteten Silberwolken über grünen Tälern.

Die Häuser und Türme, das holprige Pflaster in den Straßen der Bergstadt nahmen Sonnenglut auf und strömten sie doppelt zurück. Im Schatten unter den steinernen Laubengängen stand unbewegt die schwüle Luft. Der Bahnhof lag leer und verlassen. Mißmutig kontrollierte der schwarzuniformierte Stationsvorsteher die Signale und begab sich langsam auf den Bahnsteig. Aus Süden ratterte der erwartete Personenzug heran. Schnaufend und zischend zerrte die alte Lokomotive die wenigen Wagen hinter sich her, pfiff durch die dumpfige Stille und hielt.

Der Zug war fast leer. Nur aus dem vordersten Wagen stiegen drei Personen aus. Eine alte Bäuerin schob einen verschnürten, mit schwerer Last gefüllten Korb auf das Trittbrett; sie stieg aus, bückte sich und nahm ihn auf den Rücken. Die Weidenruten, die als Tragriemen dienten, schnitten tief in ihre knochigen Schultern ein. Mit gesenktem Blick ging sie an dem Stationsvorsteher vorbei und gab ihre Fahrkarte an der Sperre ab. Sie schlug die Richtung zur Altstadt ein. Hinter ihr hallten der Tritt genagelter Schuhe und die leichteren Schritte eines Weinbergbesitzers und Bürgers von Bozen, der schwitzend seiner Schenke zustrebte.

Als die Bäuerin mit ihrer Last in die nächste Gasse einbog, sah sie auf dem Kopfsteinpflaster naturfarbene rindslederne Nagelschuhe neben sich auftauchen. Sie schaute mißtrauisch langsam von den Schuhen aufwärts über die schafwollenen Wadenstrümpfe zu den Knickerbockers und dem abgewetzten Rock aus hellem Cord und endlich zu dem braungebrannten mageren Gesicht unter einem hellen, hohen, schmalrandigen Filzhut.

»Grüaß …«, sagte der Mann.

»Grüaß … naa, der Tierser Karl?!«

»Ei ja.«

Der junge Mann lief weiter und ließ die Alte hinter sich zurück. Er hatte einen raumgreifenden, in den Knien federnden Schritt von gleichmäßiger Schnelligkeit. Die genagelten Sohlen schallten im Schreiten laut in den engen Gassen. Mit ausgestreckten Armen hätte der Mann rechts und links die gedrängt stehenden dunklen Häuserwände berühren können.

Auf einmal tat sich der Blick auf einen freien Platz auf. Karl, der Bergführer, mied diesen großen Platz mit den eleganten Restaurants, mit der großen alten Kirche, mit den Ansichtskarten- und Obstgeschäften. Über abgetretene Stufen ging er in eine dunkle kleine Gaststube, die von Stammgästen, zuweilen auch von Touristen aufgesucht wurde und deren Besitzer hin und wieder Führertouren vermittelten. Das bunte Glasfenster war geschlossen; die Luft im Raum, kühl und dennoch stickig, roch nach Wein. Karl war an diesem Tag der einzige Gast. Der dickbäuchige Wirt brachte ein Viertel Roten und ein Stück geräucherten Speck mit Brot. Das war der gewohnte Imbiß in Südtirol.

Karl aß und trank schweigend.

»Schlechtes Jahr heuer«, sagte der Wirt. Man schrieb 1939.

Der Bergführer nickte.

»Hascht auch keine Partien …?«

»Woll … doch …«

»Ah so?« Der Wirt wurde neugierig.

»Heut in der Fruah hab’ i’ die Guglia g’macht.«

»Was du net sagscht! Die Guglia di Brenta?«

»Ja.« Karl zog den großen ledernen Geldbeutel und zahlte seine kleine Zeche. Er dachte einen Augenblick an die kühn aufragende Felsnadel, das berühmte Ziel der Sportkletterer. Bei Sonnenaufgang hatte er sie mit einem Touristen am Seil bezwungen. Wenn er genau nachrechnete, war er diese Tour zum dreißigsten Male gegangen. Sie gehörte nicht zu seinem »Revier«, und die arbeitslosen ortsansässigen Bergführer von Madonna di Campiglio hatten ihm mit Bitterkeit nachgeschaut. Karl war vierundzwanzig Jahre alt, ein berühmter Kletterführer, der alle bekannten Touren seines Heimatlandes beherrschte und für sie alle zugelassen war. Während er seinen schlapp hängenden Rucksack wieder aufsetzte und das gleichmäßig in Schlingen gelegte Seil über die Schulter nahm, erinnerte er sich noch einmal mit Stirnrunzeln daran, daß er dem Touristen die Tour zu billig gelassen hatte. Für die Hälfte des tarifmäßigen Lohns! Herrgottsakra, es war ein schlechter Sommer. Nur wenige ausländische Touristen kamen, und selbst Karl Unteregger hatte nicht viel zu tun. Es sollte aber das letztemal gewesen sein, daß er seinen Lohn hatte drücken lassen.

 

Verschwitzt und müde, mit dem schweren Seil auf der Schulter und von dem Viertel Roten kaum erfrischt, lief der Bergführer weiter durch die alte Stadt. Noch immer saß die Kuppel des pastellblauen Himmels wie eine hitzeschwangere Glucke über dem schmachtenden Land, und der Wind wehte aus Süden. Die Stundenschläge der Turmuhr dröhnten durch die Stille. Karl Unteregger fuhr wieder ein Stück mit der Bahn und gewann dann die Landstraße nach Tiers. Nach der wochenlangen Trockenheit trug sie eine dicke Schicht Kalkstaub. Bei jedem Schritt stäubte er auf und legte sich auf die Schuhe. Der Fußgänger holte ein kleines Fuhrwerk ein, dessen Haflinger Pony langsam dahinzottelte. Der Föhn hatte auch dem Tier die Munterkeit genommen. Der Bergführer wechselte einen kurzen Gruß mit dem Fuhrmann, der zwei Fässer Wein ins Tierser Tal bringen sollte. Die Einheimischen kannten einander.

Karl Unteregger lief schneller als das unlustige Pferd. Der Fuhrmann hatte keine Eile. Karl aber mußte heute noch hinauf zur Kölner Hütte, denn für den kommenden Morgen war er dort bestellt. Überquerung der Vajolettürme … ein hoher Lohn – Tariflohn – … das durfte er sich nicht entgehen lassen. Die Moidl wartete auf den eigenen Hausstand, und Karl wollte das alte Haus mit den paar Wiesen oben am Berghang kaufen. Er wollte kaufen, aber die Lire stand schlecht, und Grund und Boden waren teuer.

Die Straße führte dem Bergwald und dem schluchtartigen Tal zu. Schon leuchteten die Wiesen unter den sinkenden Sonnenstrahlen in tieferem Grün, und Blütenblätter wurden durchsichtig mit ihren Adern und Zellen. Der Duft der Blumen und der Erde, den die Hitze gebannt hatte, strömte befreit durch die Lüfte, und Wald und Wiese mischten ihren Atem. Die harte Trennung von Himmel und Erde, die Grenzen der Farben und Formen lockerten sich unter den ersten Anzeichen der Dämmerung. Vom blaugrünen Wald webte die Luft einen kaum faßbaren flirrenden Schleier bis zu grünlich leuchtender Himmelsferne und den starr und hoch thronenden Felsschrofen.

Der Wald nahm den einsam Wandernden auf. Die Steigung begann, der gut trainierte Körper legte sich ein wenig nach vorn, um die günstigste Gewichtsverteilung herzustellen. Der Bach rauschte leise, die Wipfel neigten sich im warmen Wind. Karl Unteregger lief schnell, sein Herz klopfte. Droben auf der Kölner Hütte durfte ihm kein anderer Bergführer die Tour abjagen! Er mußte zur Stelle sein.

Im Wald fielen lange Schatten. Karl keuchte und lief. Er war jung und besaß Bärenkräfte; als dreijähriger Bub war er schon mit hinaufgegangen zur Berghütte. Aber heute hatte er sich viel vorgenommen: Vor Sonnenaufgang von Madonna di Campiglio den Weg zur Guglia, dann den gefährlichen Turm mit einem wahren Mehlsack von Touristen am Seil und für den halben Lohn, nach der Tour drei Stunden im Trab hinab ins Tal, die Bahnfahrt in der brütenden Hitze, jetzt aufwärts in das Felsgebiet des »Rosengarten«, das machte noch einmal einen Weg von vielen Stunden. Herzfehler hatten die Führer alle, es war eine Berufskrankheit.

Karl Unteregger kam durch sein stilles Heimatdorf. In den Gastwirtschaften an der Straße waren die Räume schon erleuchtet. Aus den Bauernhäusern klang das eintönige gemeinsam gemurmelte Abendgebet. Auf einer Bank an weißgekalkter Wand saß ein alter Mann und dengelte seine Sense. Die einzelnen Häuser lagen weit über die steilen Wiesenhänge verstreut. Das Bergheu duftete würzig. In den Ställen rührte sich das Vieh, Kuhglocken schlugen leise einen dunklen Ton. Ein Dorfköter kläffte, die Katzen begannen umherzuschleichen auf Mäusefang. Aus den roh gemauerten kleinen Schornsteinen quälte sich der Rauch heraus und schloß sich dann zögernd dem Luftzug des Föhnwinds an. Von den Viehweiden hoch am Berg war wiederum ein Stück abgebrochen. Der Unteregger sah es im Gehen. Oben bei der vom Felsgrund abgerutschten Wiese stand das baufällige kleine Haus, das er kaufen wollte. Die Kinder des Besitzers waren abgewandert; Bauer und Bäuerin lagen auf dem Kirchhof. Der Weinbergbesitzer, mit dem Karl von Trient nach Bozen im Personenzug gefahren war, hatte als entfernter Verwandter geerbt. Dieser dicke Mann verlangte einen Wucherpreis, aber anderes Land stand im Tierser Tal nicht zum Verkauf, und Karl wollte den Heimatort nicht verlassen, der zugleich sein Standplatz als Bergführer war. Weitere Wiesen bei dem alten Haus oben drohten abzubrechen. Das war ein unaufhaltsamer Prozeß in diesem Tal. Vor abertausenden von Jahren war das ganze Land bis in die höchsten Höhen voll grüner Auen und ein wahrer Blumengarten gewesen. Die alten Bergnamen wie »Ochsenweide«, »Rosengarten«, »Mühlenpaß« zeugten noch davon. Aber Hitze, Wasser, Kälte hatten ihre Zerstörungsarbeit getan, und wo einst das Rindvieh gebrüllt und Mühlen geklappert hatten, ragten heute nur noch unfruchtbare, bröckelnde, sterbende Felsen zum Himmel. Immer weiter brach die fruchtbare Erde ab, und das nackte Gerippe der Korallenbauten aus warmen Meeren der Urzeit kam wieder zutage. Vielleicht zahlte Karl Unteregger eines Tages und mußte erleben, daß er nicht ein Haus sondern einen Erdrutsch gekauft hatte.

Der Bergführer war in das Hochtal gelangt. Auf bewachsenem Boden und den in die Graswurzeln eingewachsenen Steinen waren selbst die Genagelten nicht mehr zu hören. Die Vögel waren schon verstummt. Nur der Bach murmelte ruhelos vor sich hin. Das Alpenglühen, letztes Wunder des Tages, lieh den verwitterten Felsen am Talschluß seinen Zauber. Eine das Auge überwältigende Hochzeit von Sonne und Stein feierte sich hoch über Hängen und Tal. Der Erde abgewandt, glühten die Berge und vermählten sich dem Scheine des Himmels, der in tausend Farbwundern spielte. Die Felsen-Rosen in »Zwergenkönig Laurins Rosengarten« erblühten vor der sinkenden Sonne in blutigem satten Rot. Das war ein böses Zeichen. Der Föhnwind brachte Sturm und Unwetter. Wenn das Wetter nur morgen noch hielt, nur morgen …

Den gehetzten Wanderer fröstelte, als der erste Schatten die schimmernden Gipfel erreichte. Unmerklich schlich das Dunkel höher, und die Herrlichkeit des Himmels und der Erde sank in seinen grauen Schleier. Ein Fels nach dem anderen nahm Abschied aus der Glut und wurde matt und grau wie Asche. Noch ein letztes Leben der Sonne, ein letzter, ein allerletzter Strahl über die höchsten Gipfel, dann war erloschen, was geglüht hatte.

Unversehens braute sich schon leichtes Gewölk zusammen, und einzelne Tropfen fielen wie Tränen über die Wunden der Berge, die von Winterkälte und Sommerglut zerfressen waren. Quellen sammelten den brechenden Stein und trugen ihn geduldig als kleine Kiesel abwärts, um ihn unter Gras und Blumen zu begraben und zwischen den Wurzeln schattiger Tannen. Oben aber sangen die erkaltenden Felsen im Abendwind ihre geheimnisvolle Melodie.

Karl machte einen kurzen Halt. Er ging in die Talkapelle, die immer offen stand, kniete sich auf die Betbank aus wurmstichigem Holz und murmelte ein Vaterunser. Vielleicht brauchte er am kommenden Tag einen Fürbitter. Einst, als Kind, hatte Karl sich vor dieser Kapelle gefürchtet, um die noch die vertriebenen heidnischen Geister spuken sollten. Wenn er den Weg machen mußte, war er immer wie ein Verfolgter gerannt. Jetzt hatte er keine Angst mehr vor Geistern, und heute konnte auch kein Tourist ungeduldig werden und spotten, wenn Karl um Schutz vor den unvorhersehbaren Zufällen am Berg betete.

Ein kühler Luftzug kam aus den Schluchten. Er drang dem verschwitzten Manne bis auf die Haut und erleichterte ihm den Atem. In dem Rund, in dem sich Himmel und Erde berührten, griffen die Felsenschatten jetzt bis zu den Sternen, die auf ihrer ewigen Bahn zu dieser Stunde über diesem Lande aufleuchteten. Karl Unteregger lief quer über die steilen, auch hier noch grasbewachsenen Hänge, an windverkrüppelten Bäumen vorbei. Er kannte jeden Schritt und Tritt. Die Vegetation wurde magerer, das Gras dünner, nur die am Boden kriechenden Latschenkiefern konnten sich noch halten. Ein Ziegenhirt pfiff noch ein letztes Lied vor seiner roh gezimmerten Holzhütte, ehe er es sich auf dem Heulager bequem machte. Karl hatte als Bub auch Ziegen gehütet. Er war eines von zehn Kindern. Der Älteste erbte den Hof. Es war nicht nach Karls Sinn, dort den Knecht zu spielen. Er hatte sich selbständig gemacht und das Führerpatent erworben. Viele im Tal beneideten ihn heute, das wußte er. So viel Geld verdienen an einem Tag, sagten sie, o mein, so viel Geld! Aber sie dachten nicht daran, daß die Klettersaison im Sommer und die Skisaison im Winter kurz waren und daß Karls Verdienst auch vom Wetter und von dem ausländischen Fremdenverkehr abhing. Im Frühjahr und im Herbst verdingte er sich bei den Bauern und bei den Gemeinden als Holzfäller.

Der Bergführer atmete durch den Mund. Er schwitzte jetzt vor Anstrengung. Seine Beine liefen immer noch in dem gleichmäßigen, von keinem anderen erreichbaren Tempo, aber er spürte einen bohrenden Schmerz in den Schläfen. Das sakrische Kopfweh! Er durfte dem nicht nachgeben. Er hatte schon viel verdient, auch in diesem schlechten Sommer. Noch ein paar gute Partien und er konnte die Anzahlung leisten.

Es war Nacht. Der Mond ging auf. Wie eine Silberflut floß sein Licht über Himmel und Höhen. Tief unten im Tal lagen die schlafende alte Stadt und die Dörfer zwischen Wald und Wiesen.

Karl erreichte die Geröllzone. Geschickt benutzte er die Streifen und Inseln von Moos und Bergpflanzen, die dem Fuß besseren Halt gaben als die rutschenden, kollernden Steine. Der Bergführer keuchte. Das schwere Hanfseil drückte auf die Schulter. Aber oben am Fels erkannte er schon die Hütte, die sein Ziel war. Die Fenster der Gaststube waren noch hell.

Karl Unteregger hatte den Weg in der Hälfte der Zeit zurückgelegt, die das Reisehandbuch für die Touristen nannte. Erschöpft, hohlwangig, nach Schweiß riechend, trat er in die Berghütte ein. Er ging zuerst in die Küche, nickte kurz einen Gruß und ließ sich von der Kellnerin Rosa den Schnaps geben, auf den ein Führer nach Hüttenbrauch gratis Anspruch hatte.

»O mein, daß du noch kommen bischt!« sagte das schwarzhaarige Mädchen. »Dein Herr hat fei scho’ g’sagt, er will ein andern nehmen.« Sie sprach das Tiroler Deutsch mit den harten Rachenlauten.

»G’mietet bin i amal für morgen in der Fruah, und also muß er mir zahlen. Sonscht kann er machen, was er will.«

Karl Unteregger verließ die Küche, ging zum Schlafraum der Führer, einer Kammer mit Strohsäcken, und legte dort Seil und Rucksack ab. Dann wusch er sich an dem Brunnen vor dem Haus und ließ sich das eiskalte Bergwasser in den Nacken springen.

Als er die Gaststube betrat, sahen alle in ihm einen großen, stolzen, kräftigen Menschen. Er lächelte ein klein wenig, mit etwas Unterwürfigkeit und etwas Ironie, und ging zu dem Tisch, an dem er »seinen Herrn« erkannte. Zwar hatte Karl Unteregger diesen Touristen noch nie in seinem Leben gesehen, denn die Bestellung für die Tour war durch Dritte gegangen. Aber von allen Anwesenden kam für die Besteigung der Vajolettürme und für die entsprechende Zahlungskraft nur ein einziger in Frage.

Der Zahlungskräftige, Fritz Ordemann mit Namen, hatte sich einen aussichtsreichen Fensterplatz gewählt. Teller, Schüsseln, Weinglas vor ihm verrieten, daß für seines Leibes Wohl gesorgt war. Er rauchte eine Zigarre und schaute prüfend auf den Mann, dessen Fähigkeiten er für den nächsten Tag kaufen wollte. Diesen Augenblick empfand Unteregger mit den Gefühlen eines Sklaven, der auf dem Markte ausgeboten wurde. Hoffnung auf Arbeit, Trotz und Scham mischten sich. Er wußte, daß er kraftvoll, zuverlässig, sauber gekleidet erscheinen mußte, damit die Damen und Herren, die Geld hatten, ihn als Führer nahmen. Ein Fabrikarbeiter konnte seine Arbeitskraft für Wochen, Monate, Jahre am selben Platze vermieten. Der Führer mußte fast jeden Tag damit hausieren gehen. Tagtäglich befand er sich in der Lage des Arbeitslosen, der neue Arbeit suchte.

Der Zwang, sich täglich auf den Markt zu stellen, die verkrampfte Scham dabei, färbte auf sein Wesen ab. Er war als Bauernjunge aufgewachsen, in kargen Verhältnissen, doch mit dem Stolz des Kindes, dessen Vater noch Land besaß. Jetzt war sein Stolz gedrückt. Karl war empfindlich geworden, als ob man ihm die Haut abgezogen habe. Aber er verbarg diese Verletzbarkeit. Sein freier Stolz nahm die Form des Ehrgeizes an, des Ehrgeizes, zu verdienen und von den Sachverständigen des Klettersports anerkannt zu werden. Als Ordemann ihn unverhohlen taxierte, dachte Karl Unteregger an das kleine Gut. Erst wieder Boden unter den Füßen, sagten seine Gedanken, dann kannst mir du … du …

Fritz Ordemann, der für Unteregger das Schicksal des nächsten Tages verkörperte, machte den Eindruck eines gepflegten Junggesellen. Er mochte Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig sein. Seine Touristenkleidung war sachgemäß gewählt. Auch ihn hatte die Sonne gebräunt, wenn auch nur mit einem Sommerfrischler-Braun und nicht mit der tief eingebrannten Farbe des Berglers.

 

An den Schläfen des Junggesellen war das erste Grau sorgfältig abrasiert. Sein Gesicht wurde von der Nase beherrscht, einer starken, gebogenen Nase, deren Spitze nach unten zur Lippe ging. Er war verhältnismäßig schlank und muskulös; die Hände waren kräftig ausgebildet. Nur der Nacken erschien feist. Karl Unteregger schätzte das touristische Können dieses Mannes auf »eben noch ausreichend für Schwierigkeitsgrad vier«, wenn der Führer mit dem Seil kräftig nachhalf. Die Schwere seiner Arbeit taxierte Unteregger bei solchen Touristen nach Gewicht. Ordemann mochte 180 Pfund wiegen. Karl Unteregger konnte es vor sich selbst und vor dem Club Alpino verantworten, diesen Mann auf die Vajolettürme mitzunehmen, aber es würde sehr harte Arbeit sein.

»Hei’ Hitler, ’n Abend«, begrüßte der Tourist den Bergführer. »Pünktlichkeit scheint nicht Ihre Stärke zu sein, Herr Unteregger. Bei der Deutschen Reichspost ist das anders. Aber nachdem Sie nun doch noch erschienen sind, können wir das Notwendige besprechen. Bitte sehr.« Er machte eine Handbewegung, daß Unteregger sich setzen solle.

Der Führer nahm Platz, und jetzt grüßte ihn auch das junge Mädchen, das neben Ordemann saß. Um ihr Gesicht spielten braune Locken. Die Hände waren zart, die Gesichtsfarbe blaß. Am besten gefielen Karl Unteregger die Augen, diese großen, aufmerksamen Augen, in denen kein Hochmut lag. Das Mädel tat dem Unteregger leid. Lieben konnte sie doch den Mann mit dem feisten Nacken und den grauen Schläfen nicht, obwohl er stattlich wirkte und gut angezogen war. Sie hätte seine Tochter sein können. Unteregger beobachtete den müden, bitteren Zug, der sich schon um den jungen Mund gelegt hatte. Allein die Art, in der Ordemann jetzt den Arm auf den Tisch stützte und damit seine Gefährtin beiseite zu schieben schien, verriet dem Beobachter, wer hier herrschte und auf welche Art er es tat.

Es wurde nicht viel gesprochen. Fritz Ordemann erzählte kurz von einigen Touren, die er schon gemacht hatte, um sich vor dem Bergführer zu legitimieren – Dreitorspitze, Fünffingerspitze, Marmolada-Nordwand – und traf seine Anordnungen. Um vier Uhr früh sollte bereits aufgebrochen werden. Ordemann bestätigte dem Führer, daß er bereit sei, den Tariflohn für die Überquerung der Vajolettürme zu zahlen. Er liebte es, immer korrekt zu handeln. Karl Unteregger stand auf. Er war verabschiedet. Mit einem höflichen Kopfnicken grüßte er Ordemann, ohne dabei etwas zu sagen. Als er dem blassen Fräulein eine gute Nacht wünschte, lächelte er ein wenig. In diesem Lächeln, das zögernd und in keiner Weise aufdringlich war, lag das Verständnis eines schwer arbeitenden Menschen für die schwere Lage eines andern und Mitempfinden für eine Jugend, die litt.

Karl ging wieder in die Küche und ließ sich dort auf eigene Kosten eine Erbsensuppe geben. Kost war im Tarif nicht einbegriffen, und Ordemann gab nicht mehr, als er zu geben hatte. Zur Suppe aß der Führer sein Bauernbrot aus dem Rucksack. Er aß wenig und würgte an dem wenigen, ohne sich das merken zu lassen. Ein Bergführer durfte nicht müde erscheinen, auch nicht vor der Rosa oder dem Kollegen, der sich unterdessen in der Küche eingefunden hatte. Sonst wurde er von den Hüttenwarten nicht mehr empfohlen und verlor die Kundschaft. Sonst ging es dem Tierser Karl, wie es dem mißmutigen Giuseppe aus dem Fassatal schon lange gegangen war. Er wurde zum alten Eisen gerechnet, und mit seiner Laufbahn und seinem Verdienst war es zu Ende.

Karl saß in der Herdecke. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und stützte sich mit dem Ellenbogen auf die erkaltende Herdplatte. Wortlos beobachtete er Rosa bei ihren Hantierungen.

»Die Lire ischt fei wieder g’fallen«, sagte die Kellnerin in die Stille hinein. »All’s werd teurer.«

»Unsereins werd alleweil betrogen«, meinte Karl.

»Vielleicht daß der ›Club‹ die Tarife hinaufsetzt«, wollte Rosa die Führer trösten.

Beide lachten verächtlich. »O mei …« Es war nicht der Mühe wert, auf etwas derart Illusorisches einzugehen. Der ›Club‹, das waren Touristen. Sie hatten kein Interesse daran, die Führerlöhne so schnell hinaufzusetzen, wie die Preise stiegen.

»Wenn ihr euch halt zusammentut, muß der Club den Lohn doch hinaufsetzen«, sagte Rosa resolut.

Karl schaute aus den Augenwinkeln auf Giuseppe.

»Bischt du überhaupt noch vom Club anerkannt?« fragte der den Karl. »Es wird soviel geredet …«

Karl runzelte die Stirn. Wußte der Schleicher das schon wieder? Viele der Herren im Club Alpino waren faschistisch gesonnen. Sie hatten Karl das Führerpatent streitig machen wollen.

»I weiß amal gar nix«, antwortete der Unteregger dem Giuseppe zugeknöpft.

»Ah so.« Giuseppe begann, seine Pfeife zu putzen. Eine schwärzliche Flüssigkeit rann heraus.

»Nix als großes Geschrei und ein Lumpengeld«, philosophierte er dabei. »Die Menschen wer’n alleweil schlechter.«

Es wurde wieder still in der Küche. Jeder hing seinen trübsinnigen Gedanken nach. Giuseppe schaute ein paarmal nach einer vergilbten Fotographie, die in einem breiten schwarzen Rahmen an der Wand hing. Männer in Touristenkleidung, mit langen Bärten und altmodischen langen Bergstöcken waren darauf zu sehen. Unter dem Bild standen die Namensunterschriften. Der alte Giuseppe hatte noch manch einen dieser Touristen gekannt und geführt. Er erinnerte sich der vergangenen Jahre, in denen diese Fotographie nicht in der Küche gehangen hatte, sondern einen Ehrenplatz in der alten Gaststube einnahm. Ja, damals war Giuseppe jung und ein kecker Bursch gewesen. Wie die Zeit verging! Sie machte aus dem flotten Giuseppe einen Griesgram, der den Kollegen die Touren wegzuschnappen trachtete. Giuseppe hatte gehofft, daß der Unteregger nicht mehr kommen werde. Er hatte dem wohlsituierten Herrn Ordemann schon eine bequeme Tour auf den Kesselkogel vorgeschlagen, die die junge Frau mitmachen konnte. Aber nun war diese Hoffnung zerstört.

»Ei ja«, seufzte die Rosa vor sich hin, ohne recht zu wissen, was sie damit sagen wollte. Auch sie war schlechter Laune. Ordemann knauserte mit den Trinkgeldern.

Im Schweigen der Bergnacht draußen ließen sich auf einmal Schritte hören. Zu so später Stunde kamen sie noch zu der Hütte herauf. Die Haustür knarrte, dann tat sich auch die Küchentür auf, und es kamen zwei junge Menschen herein. Ein Bursch und ein Mädel, beide vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie warfen die Rucksäcke zu Boden, tranken einen Roten und aßen das übliche Hüttengericht, die Erbsensuppe.

In den Bergtälern im Süden der Alpen lebte ein schöner Menschenschlag. Das Mädel hatte schwere Zöpfe, eine aufrechte Gestalt mit abfallenden Schultern und eine Haut wie ein reifer Pfirsich.

Ihre braunen Augen waren lustig und trafen sich immer wieder in Lachen und Scherz mit denen des blonden Burschen. Die beiden stammten aus Bozen, der alten Bergstadt. Der Bursch war Fuhrknecht, das Mädel Serviererin. Morgen hatten sie beide einen freien Sonntag, und den wollten sie auf dem Berg verbringen. Darum waren sie nach der Arbeit zur Nacht noch aufgestiegen. Als sie gegessen hatten, holte der Bursch die Zither. Er begann zu singen. Das Mädel stimmte mit wohlklingender Stimme ein, und schon sangen die anderen mit: der verdrießliche Giuseppe, die Rosa, der die Trinkgelder heute nicht gereicht hatten, der müde, erschöpfte Karl Unteregger. »Wohl ist die Welt so groß und weit und voller Sonnenschein … die Berge hoch, das grüne Tal, mein Mädel und der Wein!« Der Raum, den Sorge und Mißmut verdüstert hatten, war mit einem Schlage von dem lachenden Leben der beiden jungen Menschen erhellt.

Vielstimmig erklang das Lied in der Hütte, und das Sehnen der arbeitenden Menschen nach einem freien und glücklichen Leben schwang mit den Tönen hinaus in die schwüle Bergnacht und zu den Felsen, aus denen unheimlich die brüchigen Steine sprangen. Die Führer horchten beide, als die letzte Strophe verklungen war.

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