Resilienz

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Resilienz
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Linda Graham

Resilienz

LINDA GRAHAM


Wirkungsvolle Übungen, um nach Schwierigkeiten, Enttäuschungen und Katastrophen wieder ins Gleichgewicht zu kommen

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Bongartz


Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel: Resilience – Powerful Practices for Bouncing Back from Disappointment, Difficulty, and Even Disaster.

Copyright © 2018 by Linda Graham

First published in the United States of America by New World Library. Translation rights arranged through Agence Schweiger.

All rights reserved. This book may not be reproduced in whole or in part, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means – electronic, mechanical, or other – without written permission from the publisher, except by a reviewer, who may quote brief passages in a review.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Cover: unter Verwendung einer Grafik von © fightingfear/depositphotos.com

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2020

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book 978-3-86781-301-3

Dieses Buch ist der regelmäßigen Praxis gewidmet, denn praktizierte Regelmäßigkeit hilft uns, unsere Resilienz wiederzuerlangen und zu stärken.

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Einleitung

KAPITEL 1

Die Grundlagen zur Stärkung von Resilienz

KAPITEL 2

Übungen zur somatischen Intelligenz: Atem, Berührung, Bewegung, Visualisierung, soziale Kontakte

KAPITEL 3

Übungen zur emotionalen Intelligenz: Selbstmitgefühl, achtsame Empathie, Positivität, Theory of Mind

KAPITEL 4

Übungen zur Beziehungsintelligenz in uns selber: Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz, innere sichere Basis

KAPITEL 5

Übungen zur Beziehungsintelligenz in Bezug auf andere: Vertrauen, gemeinsame Menschlichkeit, Wechselbeziehung, Zuflucht, Ressourcen

KAPITEL 6

Übungen zur reflexiven Intelligenz: Achtsamkeit, klares Sehen, kluges Entscheiden, Gleichmut

KAPITEL 7

Vorbehaltlose Resilienz: Mit allem, wirklich allem umgehen

KAPITEL 8

Sich um sein beeindruckendes Gehirn kümmern und es pflegen: Ein Lebensstil im Namen der Resilienz

Dank

Rechte

Liste der Übungen

Endnoten

Ausgewählte Quellen

Über die Autorin

Einleitung

Es ist eine Sache, die Wohnungsschlüssel oder das Portemonnaie genau in dem Moment zu verlegen, in dem Sie aus dem Haus rennen, um den Bus zur Arbeit um Viertel nach sechs zu erwischen. Sie versuchen, langsam und tief zu atmen, die Ruhe zu bewahren und sich zu sagen, hätte ich nur etwas anderes mit Taschen in der morgendlichen Hektik angezogen. Wir erleben all diese kleinen Hindernisse des Lebens – die Lasagneform fällt uns auf dem Weg zum Esstisch, an dem sechs Gäste warten, aus der Hand, wir schreddern die falsche Kundendatei im Büro, wir vergessen den Laptop im Flugzeug, die Badezimmerwände sind voller Schimmel, das Auto braucht einen neuen Zahnriemen oder die Waschmaschine ist kaputt. Diese Hindernisse können unser Nervensystem ziemlich belasten. Sie strapazieren immer wieder unsere Bewältigungsmechanismen. Unsere Fähigkeit, mit diesen unvermeidlichen Höhen und Tiefen umzugehen, wird dann weiter auf die Probe gestellt, wenn wir uns zusätzlich in Selbstkritik üben: »Du bist aber auch ein Tollpatsch« oder »Ich hab’s gewusst. Ich bekomme nichts richtig hin«.

Aber es gelingt uns gewöhnlich, uns wieder zu fangen. Wir sagen uns, dass wir keine kleinen Kinder mehr sind, stellen uns dem Problem und gehen es an.

Manchmal gibt es größere Probleme und Widrigkeiten, keine kleinen Hindernisse, sondern höhere Hürden, die unsere Bewältigungsstrategien vorübergehend außer Gefecht setzen. Dazu gehören Unfruchtbarkeit und Untreue, die Diagnose Lungenkrebs, Arbeitslosigkeit kurz vor der Verrentung, die Tochter, die wegen Dealen mit Marihuana verhaftet, oder der Sohn, der als Soldat beim Einsatz im Ausland verwundet wird. Treffen wir auf solche Hürden, müssen wir auf tiefer liegende Quellen der Resilienz und unsere Erinnerung an Zeiten zurückgreifen, in denen wir Probleme erfolgreich bewältigten und uns gleichzeitig unserer äußeren Ressourcen wie Familie und Freunde bedienen. Auch hier fällt es uns schwerer, wieder zu unserer Mitte, zu unserem inneren Gleichgewicht und unserer Belastbarkeit zurückzufinden, wenn man uns sagt – oder wir uns selber so wahrnehmen –, wir seien alles andere als fähig, alles andere als geschickt, alles andere als gut genug oder jeder Hilfe unwürdig.

Und dann gibt es Zeiten, in denen einfach verdammt viele Katastrophen auf einmal über uns hereinbrechen: Wir verlieren unser Kind durch einen Autounfall oder verursachen selber am Steuer den Tod eines Kindes, während die alte Mutter oder der alte Vater einen Schlaganfall hat und ein Unwetter das halbe Haus unter Wasser setzt. Gibt es derartige Katastrophen, können wir sehr leicht und schnell unsere gesamte Resilienz verlieren, vorübergehend oder über einen längeren Zeitraum hinweg.

Vielleicht lösen sie eine Traumareaktion in uns aus: Die Welt ergibt keinen Sinn oder existiert nicht mehr und wir müssen nun irgendwie eine Lektion oder einen Sinn in dem finden, was wir gerade durchmachen. Wenn wir zu viele solcher ungelösten Traumata in der Vergangenheit erlebt haben, sind wir sehr anfällig dafür, zusammenzubrechen und uns davon nicht mehr zu erholen. Sind unsere Vorräte erschöpft, dann fühlen wir uns schnell so, als könnten wir uns nur gerade eben über Wasser halten und jede Sekunde ertrinken.

Wie finden wir aus derartigen Traumata wieder zurück in unsere Mitte? – Indem wir unsere Resilienz stärken.

Resilienz – die Fähigkeit, sich mit dem Wind zu biegen, mit dem Strom zu schwimmen und den Weg aus Widrigkeiten zurück zu finden – wurde seit Urzeiten erforscht und studiert: in Stämmen und Gemeinschaften, in philosophischen und spirituellen Traditionen und mittels Literatur und Akademien.

Sie ist für das Überleben und das Gedeihen von Menschen und menschlichen Gesellschaften unerlässlich. Wir wissen heute auch, dass sie eines der Verhaltensresultate eines reifen und gut funktionierenden präfrontalen Kortex im Gehirn ist.1 Ob wir mit kleinen Ärgernissen oder einer schrecklichen Katastrophe konfrontiert werden, Resilienz kann vermittelt, gelernt und wiedererlangt werden.

In diesem Buch werden wir uns ansehen, wie wir mit Resilienz auf das antworten, was uns das Leben beschert, ganz gleich, wie stark oder wie wenig unsere Resilienz beeinträchtigt wird. Wir fangen am Anfang an und schauen uns an, wie wir die Fähigkeit zu Resilienz überhaupt erst entwickeln – oder auch nicht – und danach, welche Werkzeuge und Techniken wir zuverlässig benutzen können, um unsere Resilienz aufzubauen oder wiederzuerlangen, damit wir auf sie zurückgreifen können, wenn wir auf Herausforderungen oder Katastrophen, welcher Art auch immer, stoßen, damit wir mit allem, wirklich allem umgehen können.

Lass mich nicht bitten, vor Gefahr bewahrt zu werden, sondern ihr furchtlos begegnen. Lass mich nicht das Ende der Schmerzen erflehen, sondern das Herz, das sie besiegt.

RABINDRANATH TAGORE, Fruchtlese

Resilienz führt Sie Schritt für Schritt durch den Prozess, wie Sie mehr Wohlbefinden in Ihrem Leben kultivieren, indem Sie Ihre Resilienz stärken, um jeder Widrigkeit oder Katastrophe gekonnt gegenüberzutreten, die Sie ansonsten aus der Bahn werfen würde. Sie werden die Kompetenz entwickeln, mit den im Leben unvermeidlichen Enttäuschungen und Schwierigkeiten umzugehen und darauf zu vertrauen, den Weg aus Katastrophen zurückzufinden oder ihnen sogar vorzubeugen.

Sie werden ebenfalls mehr darüber erfahren, wie das Gehirn, wie Ihr Gehirn, funktioniert und wie Sie mit Ihrem Gehirn zusammenarbeiten, um neue Gewohnheiten zu schaffen, mit denen Sie flexibler auf Situationen reagieren können (Flexibilität ist die Basis von Resilienz). Wir werden uns genauer sichere und effektive Werkzeuge und Techniken ansehen, die selbst seit Langem bestehende Reaktionsmuster neu verdrahten können, wenn diese für Sie nicht mehr funktionieren. Sie werden nicht nur Praktiken lernen, um sich von jeglicher Widrigkeit zu erholen, sondern Sie werden auch lernen, sich selber als jemanden wahrzunehmen, die lernen kann, die verschiedene Situationen bewältigen kann und die ihre Resilienz und ihr Wohlbefinden aktiv fördern kann. Und das sorgt nicht nur für mehr Resilienz, sondern es macht das Leben in jeder Hinsicht zufriedenstellender und erfüllender.

 

Was dieses Buch Ihnen bietet

Weil Resilienz wirklich wiedererlangt werden kann, habe ich diesen Resilienz-Ratgeber speziell als Gehirntraining entwickelt, um Ihre Fähigkeiten zur Wiedererlangung von Resilienz zu stärken. Es gibt über 130 empirische Übungen, mit deren Hilfe Sie sich selber – und Ihr Gehirn – trainieren, um sich wieder aufzufangen oder auszurichten, ganz gleich, was um Sie herum geschieht, damit Sie kompetent auf die häufigsten und schwierigsten äußeren Stressoren reagieren können. Die Übungen helfen auch, mit jeglichen negativen inneren Botschaften umzugehen, die Ihnen mitteilen, Sie können mit solchen Stressoren nicht umgehen, und denen Sie möglicherweise glauben.

Diese Übungen zapfen das einmalige Anpassungspotenzial des Gehirns an. Sie sind in die fünf verschiedenen Arten von Intelligenz eingeteilt, die die Grundlage von Resilienz bilden: somatische Intelligenz, emotionale Intelligenz, Beziehungsintelligenz in uns selber, Beziehungsintelligenz in Bezug auf andere sowie reflexive Intelligenz. Sie werden lernen, jede dieser fünf Arten durch drei Schlüsselprozesse der Gehirnveränderung zu fördern. Ich bezeichne sie als neue Konditionierung, Rekonditionierung und Dekonditionierung. Mit ihrer Hilfe werden Sie Ihre Fähigkeit verbessern, flexibel auf Stress und Traumata zu reagieren. Sie können diese Prozesse auf jede Art der Störung Ihrer Resilienz anwenden, von kleinen Problemen bis hin zu großen Sorgen und einem potenziell traumatisierenden »Zuviel«. Machen Sie diese Übungen regelmäßig, dann werden Sie Ihre Resilienz, Stärke und Weisheit aufbauen und so Ihr Wohlbefinden auf lange Sicht verbessern.

Wie dieses Buch zu benutzen ist

Die Reihenfolge der Übungen ist bewusst gewählt, eine baut auf der anderen auf, ähnlich dem Prozess, der in Ihrem Gehirn stattfindet, wenn es diese Fähigkeiten erstmalig entwickelt. Ich bitte Sie daher, sich vom Anfang bis zum Ende durch dieses Buch zu arbeiten und nicht zu sehr zwischen den Kapiteln herumzuspringen, bis Sie es zumindest einmal ganz gelesen haben. Sie können dieses Buch als Workshop unter eigener Leitung benutzen.

Kapitel 1 erklärt, wie sich Resilienz in Ihrem Gehirn entwickelt hat (oder auch nicht), wie Sie die Erfahrungen auswählen, die die Reaktionsflexibilität Ihres Gehirns jetzt stärken, und es beschreibt die fünf Bedingungen, die das Vermögen Ihres Gehirns beschleunigen, zu lernen und sich neu zu verdrahten.

Kapitel 2 bis 7 beinhalten die meisten Übungen des Buchs. Jedes Kapitel hat zuerst einfache Übungen, auf die komplexe Übungen folgen, um die komplexeren Unterbrüche Ihrer Resilienz anzusprechen. Die Einleitung zu jedem Kapitel beschreibt, wie diese Übungen funktionieren, welche Ergebnisse Sie erwarten können und warum Sie sie anwenden sollten, um gerade diese Art von Intelligenz zu stärken, die in diesem Kapitel angesprochen wird.

Bitte gehen Sie an diese Übungen mit einem Gefühl der Neugier und Experimentierfreudigkeit heran. Wenn eine Übung für Sie funktioniert, dann machen Sie sie bitte häufig. Wenn eine Übung nicht für Sie funktioniert, dann lassen Sie es einfach bleiben und versuchen eine andere.

Zahlreiche Studien zeigen, dass das Gehirn durch Wiederholungen von Übungen am besten lernt,2 und zwar wenig und oft: kleine, schrittweise Veränderungen, die viele Male wiederholt werden. Wenn Sie diese Übungen täglich nur zehn oder zwanzig Minuten lang machen, werden Sie sofort eine veränderte Reaktion auf Ihre Stressoren bemerken. Und Sie können dauerhafte Veränderungen in Ihrem Gehirn – und damit in Ihrem Verhalten – erzeugen, wenn Sie sie regelmäßig über einen Zeitraum von Wochen und Monaten wiederholen. Bei neuen Stressoren, ob klein oder groß, werden Sie dann bemerken, wie sich diese langfristigen Veränderungen in Ihren Gedanken und Reaktionen bemerkbar machen.

Kapitel 8 enthält Vorschläge zu Änderungen, die Sie in Ihrem Lebensstil zur Optimierung Ihrer Gehirnfunktion vornehmen können, um sich Ihre Resilienz für den Rest Ihres Lebens zu bewahren.

Woher dieses Programm stammt

Ich arbeite seit über 25 Jahren als Psychotherapeutin in eigener Praxis und helfe Patientinnen und Patienten, sich ihren persönlichen Herausforderungen und Katastrophen mit effektiven Fertigkeiten und Resilienz zu stellen. Mindestens zwanzig dieser Jahre habe ich auch damit verbracht, die neuesten Forschungsergebnisse aus westlichen Verhaltenswissenschaften mit Fortschritten in der modernen Neurowissenschaft, Bindungstheorie, interpersonellen Neurobiologie, positiven Psychologie, Traumatherapie, im Resilienztraining und im posttraumatischen Wachstum zu verbinden. In demselben Zeitraum lernte und unterrichtete ich ebenfalls Praktiken aus den östlichen kontemplativen Traditionen mit dem Schwerpunkt Achtsamkeit und Selbstmitgefühl. Beide gelten in der Wissenschaft als zwei der wichtigsten Faktoren für Veränderungen im Gehirn.

Mein erstes Buch Der achtsame Weg zu Resilienz und Wohlbefinden: Wie wir unser Gehirn vor Stress und Burn-out schützen können (Arbor Verlag, 2014) präsentiert Werkzeuge und Techniken, die ich durch die Integration von Forschungsergebnissen und Perspektiven aus allen oben genannten Paradigmen vereinigt hatte. Das Buch gewann mehrere amerikanische Preise und betrat Neuland, was die Vermittlung von Resilienz betrifft. Seit seiner Veröffentlichung habe ich Tausenden von in der psychischen Gesundheit Tätigen und nach persönlichem Wachstum und Selbsttransformation Suchenden die Neurowissenschaft zur Resilienz vermittelt, und das im Rahmen von klinischen Trainingsprogrammen und Workshops in den USA, in Europa, Australien und im Mittleren Osten. Ich arbeite ebenfalls auch eng mit Mentoren und Kolleginnen zusammen und wir teilen unsere wirksamsten Praktiken in Form eines interaktiven Netzwerks des Lernens miteinander.

Nun ergänze ich in diesem Ratgeber die Lehren in Der achtsame Weg zu Resilienz und Wohlbefinden mit neuen aus diesen Trainingsworkshops und Erfahrungen gesammelten Erkenntnissen sowie mit Dutzenden neuer Werkzeuge und Ressourcen. Ich möchte Ihnen dabei helfen, Ihre Resilienz, Ihre Lebensfreude und Ihr Wohlbefinden wiederzuerlangen. Sie sind Ihr Geburtsrecht. Mit den hier beschriebenen Praktiken können Sie Ihre Reaktionsflexibilität verbessern und kluge Entscheidungen treffen und so mit allem, wirklich allem, umgehen.

Ich fürchte mich nicht vor Stürmen, denn ich lerne, mein Schiff zu segeln.

LOUISA MAY ALCOTT

Fangen wir an.

KAPITEL 1

Die Grundlagen zur

Stärkung von Resilienz

Wie wir lernen, sie wiederzuerlangen

Die ganze Welt ist voller Leid. Aber sie ist auch voller Überwindung von Leid.

HELEN KELLER

Das Leben ist voller Herausforderungen. Sie lassen sich nicht vermeiden. Ganz gleich, wie sehr wir es auch versuchen, wie ernsthaft wir uns bemühen oder wie gut wir als Mensch sind, das Leben verläuft nicht geradlinig, sondern zieht jedem von uns gelegentlich den Boden unter den Füßen weg. Niemand ist immun gegen diese Realität des menschlichen Daseins. Missgeschicke und Hürden, manchmal sogar Katastrophen und Krisen, sind so unvermeidlich in der menschlichen Erfahrung, dass wir das Böse, das guten Menschen widerfährt, nicht so persönlich nehmen sollten.

Wir können die Tatsache nicht ändern: Ab und zu läuft es dumm. Was wir dagegen ändern können ist unsere Reaktion darauf. Und genau darum geht es in diesem Buch.

Missgeschicke sind wie Messer, sie schaden oder sie nützen uns, je nachdem, ob wir sie an der Klinge oder am Griff nehmen.

JAMES RUSSELL LOWELL, LITERARY ESSAYS

Passiert etwas Schwieriges oder sogar Verheerendes, dann haben wir die Macht – die Flexibilität –, uns zu entscheiden, wie wir darauf reagieren. Es erfordert Übung und es braucht Gewahrsein, aber die Fähigkeit dazu liegt in uns. Dieses Kapitel ist ein übersichtlicher Plan, wie Sie Ihr Gehirn trainieren, damit es auf die Herausforderungen des Lebens kompetenter und effektiver reagiert. Es vermittelt Ihnen auch ein Verständnis davon, wie die Veränderungen, die in den Leitungsbahnen Ihres Gehirns stattfinden, dieses resilienter machen.

Wenn es dumm läuft: Reaktionsflexibilität entwickeln

Wenn wir mit äußeren Problemen und Schicksalsschlägen konfrontiert werden – ein Autounfall, eine schlimme Krankheit, eine Scheidung oder der Verlust eines Kindes – oder wenn wir anderen bei solchen Katastrophen zur Seite stehen, kann man uns kaum einen Vorwurf machen, wenn wir versuchen, das Problem zu korrigieren, indem wir die Umstände und Bedingungen »da draußen« ändern. Selbst wenn uns innere Botschaften bombardieren, wie schlecht wir die Lage doch meistern – »Daran hätte ich auch eher denken können. Ich Blödmann.« –, konzentrieren wir uns immer noch darauf, wie das Problem »da draußen« zu lösen sei, um uns »da drinnen« besser zu fühlen.

Es ist selbstverständlich wichtig, die Lebenskompetenzen, Ressourcen und Weisheit zu entwickeln, um jene äußeren Umstände dann zu ändern, wenn es möglich ist, und zu lernen, mit ihnen dann immer und immer wieder umzugehen, wenn es nicht möglich ist. Und genau das ist, was Resilienz zum großen Teil ausmacht. Alles andere ist auch wichtig, notwendig und nützlich. Aber genauso wichtig wie das Beschäftigen mit dem »Da-Draußen« ist, wie wir das »Da-Drinnen« wahrnehmen und darauf reagieren – auf jeden äußeren Stressor, auf jede innere Botschaft über den Stressor, auf jede innere Botschaft, wie gut oder schlecht wir damit umgehen, und auch auf jede implizite Erinnerung an eine Gefahr aus unserer Vergangenheit, die vom gegenwärtigen Ereignis ausgelöst wird und sich nun sehr real anfühlt. Unsere Fähigkeit, wahrzunehmen und zu reagieren, gehört zu den wichtigsten Faktoren, die unsere Fähigkeit zur Resilienz und zum inneren Gleichgewicht beeinflussen oder vorherbestimmen.

Bei der Untersuchung dessen, was zur Fähigkeit beiträgt, mit Stress umzugehen, muss man drei verschiedene Ressourcen unterscheiden. Die erste ist die Unterstützung, die von außen her zur Verfügung steht, besonders das gesellschaftliche Netz. Eine schwere Krankheit etwa wird in gewissem Grade erträglicher, wenn man eine gute Versicherung und eine liebevolle Familie hat. Das zweite Bollwerk gegen Stress sind die psychologischen Ressourcen eines Menschen, wie Intelligenz, Bildung und wichtige Persönlichkeitsfaktoren. Der Umzug in eine andere Stadt und der Aufbau neuer Freundschaften ist für eine introvertierte Persönlichkeit viel schwerer als für eine extravertierte. Die dritte Kategorie bezieht sich auf die Bewältigungsstrategien, die man gegen Stress anwendet.

Von diesen drei Faktoren ist der dritte für unsere Zwecke am wichtigsten. Äußere Unterstützung an sich ist nicht sehr wirksam bei der Linderung von Stress. Meist wird nur jenen geholfen, die sich selbst helfen können. Und psychologische Ressourcen liegen vorwiegend außerhalb unserer Kontrolle. Es ist schwer, viel klüger oder viel gewandter zu werden, als man von Geburt an war. Doch wie wir etwas bewältigen, ist der wichtigste Faktor bei der Bestimmung, welche Wirkung Stress haben kann, und das flexibelste Hilfsmittel, weil es am stärksten unter unserer Kontrolle steht.3

MIHALY CSIKSZENTMIHALYI,

Flow. Das Geheimnis des Glücks

Und so lautet das Motto dieses Buches: »Wie man auf das Problem reagiert … ist das Problem.« (Tiefe Verbeugung vor meinem Kollegen Frankie Perez vom Momentous Institute in Dallas für diesen Satz.)

Umschalten funktioniert genauso

Was auch immer dumm läuft, der Schlüssel, mit der Situation umzugehen, ist, wie wir unsere Wahrnehmung (unsere Einstellung) und unsere Reaktion (unser Verhalten) umschalten. Es scheint oft so, als nähmen die äußeren Stressoren oder die negativen inneren Botschaften, wie wir sie bewältigen, kein Ende. Darum ist ein Umschalten der Wahrnehmung (unserer Einstellung) und unserer Reaktion auf die Stressoren und die Botschaften (Verhalten) vermutlich die effektivste Entscheidung, die wir treffen können, um unsere Resilienz zu stärken.

 

Sie können den Effekt des Umschaltens von Einstellung und Verhalten erleben, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit neu ausrichten von dem, was gerade geschieht, darauf, wie Sie das gerade Geschehene bewältigen.

Mist! Jetzt ist mir der Teller hingefallen und zerbrochen! Mist, Mist, Mist – das war ein ganz besonderer Teller von meiner Tante, den sie mir zu meinem Uni-Abschluss geschenkt hat. Seufz. Ich rufe sie an und beichte es ihr. Wir werden zusammen jammern. Dann können wir vielleicht nächste Woche gemeinsam einen neuen Teller kaufen gehen. Ein guter Vorwand für einen Besuch.

Was – 3.000 Euro für einen neuen Zahnriemen?! Ganz schön viel Geld. Und … zumindest kann man das Auto reparieren. Dann wird es noch fünf weitere Jahre fahren und … dann machen wir halt dieses Jahr eine Woche weniger Urlaub und … im großen Ganzen ist das doch nur ein kleiner Klacks.

Mein Arzt hat weitere Tests angeordnet. Nicht gerade tolle Nachrichten. Das ist ziemlich beängstigend. Aber es ist immer besser, zu wissen, was los ist. Dann kann ich es auch angehen.

Die große Lektion dieser Übung ist, dass wir, können wir unsere Einstellung und unser Verhalten in solchen Umständen umschalten, sie in jedem Umstand umschalten können. Und genau dieses Wissen bewirkt das Umschalten.

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt die Macht, unsere Antwort zu wählen. In unserer Antwort liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.

VİKTOR FRANKL ZUGESCHRIEBEN

Dieses Umschalten erlaubt es uns, von einem »Du Arme« zu einem aktiven, selbst kontrollierten »Ich« zu wechseln. Es ist ein Umschalten von einem statischen zu einem dynamischen Selbstbild, es ist die Möglichkeit, den Geist fürs Lernen offen zu halten. Wir können jede innere Botschaft ändern, die wir darüber erhalten, wie wir jetzt etwas bewältigen (oder auch nicht) oder in der Vergangenheit bewältigten (oder auch nicht). Das Stärken von Resilienz beinhaltet, uns selber als einen Menschen zu sehen, der resilient sein kann, der Bewältigungskompetenz beweist und der in der Lage ist, Bewältigungsstrategien zu lernen.

Neuroplastizität

Alle Fähigkeiten zur Entwicklung und Stärkung Ihrer Resilienz – innere Ruhe im größten Chaos bewahren, Alternativen klar erkennen, die Perspektive wechseln und flexibel reagieren, sich entscheiden, klug zu entscheiden, angesichts von Zweifeln und Entmutigungen nicht aufzugeben – all diese Fähigkeiten sind in Ihrem Sein innewohnend, weil sie angeborene Fähigkeiten Ihres Gehirns sind.

Unser Gehirn besitzt aufgrund seiner Neuroplastizität unser ganzes Leben lang die Flexibilität, neue Reaktionsmuster auf Ereignisse des Lebens zu bilden. Ein reifes, erwachsenes Gehirn ist physisch stabil, aber seine Funktionsweise ist fließend und plastisch, es ist nicht inert oder starr.4 Unser Gehirn kann neue Neuronen bilden, diese in neuen Schaltkreisen miteinander verbinden, neu Erlerntes in neue neuronale Netzwerke von Gedächtnis und Gewohnheit einbetten und diese Netzwerke dann neu verdrahten, wenn es notwendig ist.

Die Fähigkeit des erwachsenen Gehirns, sich weiterzuentwickeln und seine Funktionsweise das ganze Leben hindurch zu ändern, ist zweifelsohne die spannendste Entdeckung der modernen Neurowissenschaft. Neuroplastizität im erwachsenen menschlichen Gehirn wurde erst vor circa ungefähr 30 Jahren wissenschaftlich anerkannt, als bildgebende Verfahren es Neurowissenschaftlern ermöglichten, diese Veränderungen im präfrontalen Kortex, dem Exekutivsystem des Gehirns, und in anderen Hirnarealen in Echtzeit zu beobachten. Neuroplastizität ist der Motor allen Lernens, in jedem Moment der menschlichen Lebensspanne.

Neuroplastizität bedeutet, dass alle Resilienzfertigkeiten, die Sie benötigen, erlernt und wiedererlangt werden können.5 Auch dann, wenn Sie diese in der frühen Kindheit nicht voll entwickelt haben, vielleicht weil es keine gesunden Vorbilder oder keine sicheren Bindungen oder weil es zu viele Widrigkeiten oder Traumata gab, bevor das Gehirn die notwendigen Schaltkreise zur Bewältigung entwickelt hatte. Sie können sie jetzt aufbauen. Ja, wirklich! Das menschliche Gehirn kann jederzeit neue Bewältigungsmuster lernen, diese Muster in neuen neuronalen Schaltkreisen installieren und sogar alte Schaltkreise neu verdrahten, wenn alte Muster keinem konstruktiven Zweck mehr dienen. Die den Bewältigungsstrategien und -verhaltensweisen unterliegenden neuronalen Netzwerke können durch Ihre eigenen Entscheidungen, durch selbst gesteuerte Neuroplastizität, geformt und verändert werden. Sie können nun lernen, sich ändern und wachsen, weil Ihr Gehirn jederzeit lernen, sich verändern und wachsen kann.

Die Reaktionsflexibilität im Gehirn fördern

Selbstgesteuerte Neuroplastizität erfordert die Inbetriebnahme des präfrontalen Kortex, des Exekutivsystems des Gehirns.6 Der präfrontale Kortex ist hauptsächlich zuständig für das Planen, die Entscheidungsfindung, für Analysen und Beurteilung. Er zeichnet ebenfalls verantwortlich für viele andere Funktionen, die für unsere Resilienz wesentlich sind: Er reguliert Körperfunktionen und das Nervensystem, verwaltet ein breites Spektrum an Emotionen und er dämmt die Angstreaktion der Amygdala ein. (Und dieses Eindämmen ist unerlässlich für Resilienz!) Der präfrontale Kortex erlaubt es uns, uns auf das empfundene Gefühl unserer eigenen Erfahrung und der Erfahrung anderer einzustimmen, Mitgefühl mit der Bedeutung unserer Erfahrung und der Erfahrung anderer zu haben und uns unseres Selbst bewusst zu werden, während dieses Selbst sich mit der Zeit weiterentwickelt. Er ist der Sitz unseres inneren moralischen Kompasses. Er ist die Struktur der Reaktionsflexibilität, unserer Fähigkeit, Gangart, Perspektive, Einstellung und Verhalten zu ändern.

Alle diese Fertigkeiten, insbesondere die Fähigkeit, die Gangart reibungslos zu wechseln, reifen mit der Reifung unseres präfrontalen Kortex. Die Gesamtheit des Wachstums, der Entwicklung, des Lernens und des Verlernens – des Neuverdrahtens des Gehirns – ist erfahrungsabhängig. Erfahrung bedeutet, wie das Gehirn lernt, verlernt und neu lernt und zwar alles und immer. Das zeigt sich ganz klar in unserer anfänglichen Entwicklung: Wir lernen laufen, sprechen, lesen, Fußball spielen und Plätzchen backen.

Wir wissen heute, dass Erfahrung der Katalysator für die Neuroplastizität des Gehirns und für unser lebenslanges Lernen ist. Wir können uns jederzeit für die Erfahrungen entscheiden, die das Lernen des Gehirns auf ein besseres Funktionieren hin ausrichten. Resilienz kann durch Erfahrung jederzeit gestärkt – oder aber auch vermindert – werden.

Richard Davidson, der Gründer und Direktor des Center for Investigating Healthy Minds an der University of Wisconsin in Madison, meint: »Das Gehirn wird durch Erfahrung geformt. Und basierend auf allem, was die Neurowissenschaft über das Gehirn weiß, ist Veränderung nicht nur möglich, sondern tatsächlich eher die Regel als die Ausnahme. Es ist wirklich nur eine Frage, für welche Einflüsse auf unser Gehirn wir uns entscheiden. Und weil wir die Wahl haben, welche Erfahrungen wir benutzen wollen, um unser Gehirn zu formen, tragen wir die Verantwortung dafür, uns für die Erfahrungen zu entscheiden, die unser Gehirn auf Weisheit und Gesundheit hin formen.«7

Wie Reaktionsflexibilität entgleisen kann

Sehen wir uns jetzt die vier Erfahrungen an, die die Entwicklung der Reaktionsflexibilität des Gehirns beeinflussen, und erklären, warum wir manchmal Schwierigkeiten haben, resilient zu sein und Situationen zu meistern.

1. Frühe Anpassung und Bindungskonditionierung

Weil unsere frühesten Erfahrungen die Entwicklung und Reifung des präfrontalen Kortex im Gehirn in Gang setzen, sind wir bereits von Anfang an dabei, Reaktionsflexibilität zu entwickeln, wenn die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe – Eltern, andere Familienmitglieder, Gleichaltrige, Lehrerinnen, Coaches und andere wichtige Erwachsene – diese Fähigkeit selber besitzen und auch zeigen.8 Wir lernen von diesen Vorbildern, indem wir beobachten, was ihnen bei der Bewältigung von Situationen hilft und was nicht – die Ruhe bewahren und fortfahren oder voller Wut aus dem Zimmer stürmen.

Wir besitzen diese Fähigkeit, Reaktionen zu beobachten und zu replizieren, weil unser Gehirn dafür angelegt ist, genauso zu funktionieren wie die anderen Gehirne um uns herum, besonders im frühen Kindesalter.9 Diese Anpassung (entrainment) in unseren frühen Bindungsbeziehungen (andere Gehirne übernehmen das Lernen für uns) ist das neurobiologische Konditionierungsfundament unseres Verhaltens: Es ist die Art der Natur, effizient zu sein. Ihr Gehirn lernt, sein eigenes Nervensystem zu regulieren, weil es von den Menschen um Sie herum geregelt wird. Es lernt ein breites Spektrum an Emotionen, indem diese Emotionen von den Menschen um Sie herum wahrgenommen und bestätigt werden. Und es lernt, sich auf seine eigenen Erfahrungen einzustimmen dadurch, wie sich die Menschen um Sie herum auf Ihre Erfahrungen einstimmen.