Die Wölfin

Text
Autor:
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Wölfin
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Über dieses Buch

Sein Vater hat sich umgebracht, seine Mutter ist darob kalt geworden. Jetzt wächst «der Bub» bei den Grosseltern und der Urgrossmutter Onna Maria auf. Die Letztere wird seine starke Instanz. Mit dem einarmigen Grossvater Pieder Paul teilt er den Phantomschmerz, iPiedern der Suche nach anderen Menschen, denen etwas fehlt, nach Einarmigen und Einbeinigen, nach Prothesen, nach Vätern und Übervätern. Onna Maria spricht wenig, aber bestimmt, Paul viel, aber nur in Zitaten.

Leo Tuor zeichnet eine ungewöhnliche Persönlichkeitsbildung nach in einem ganz gewöhnlichen, katholischen Dorf zu einer Zeit, als Welten und Weltbilder noch geschlossen waren. Und so leicht seine Prosa ist, so wenig glättet sie diese kleine, exemplarische Welt voller Schrullen und Schratten, Enge und Grösse, Schabernack und Tiefe. Und fliessend fügen sich die Erinnerungen zu einer surselvischen Geschichte anhand von vier Generationen und zu einer Integration des erzählenden Ichs in seine genealogia.


Foto Ayşe Yavaş

Leo Tuor, geboren 1959, wuchs in Rabius und Disentis auf, ­studierte Philosophie, Geschichte und Literatur in Zürich, Fribourg und Berlin. Neben der Surselver Trilogie mit «Giacumbert Nau», «Die Wölfin» und «Settembrini» sind im Limmat Verlag seine Erzählung «Cavrein» sowie die Geschichten- und Essay­sammlung «Auf der Suche nach dem ­verlorenen Schnee» lieferbar. Leo Tuors Werk wurde vielfach ausgezeichnet.

Peter Egloff, 1950 geboren, lebt als freier Journalist in Zü­rich und Sumvitg. Autor und Herausgeber mehrerer Bücher zu Graubünden und zur Surselva, zuletzt «Der Bischof als Dru­i­de». Im Limmat Verlag ist «Die Kirche im Gletscher / La baselgia el glatscher» lieferbar. Seine Übersetzung von Leo Tuors «Giacumbert Nau» wurde vom ­Kanton Zürich mit einem Anerkennungspreis ausgezeich­net, die Übersetzung von «Settembrini» war für den Paul-Celan-Übersetzerpreis nominiert.

Leo Tuor

Die ­Wölfin

Aus dem Rätoromanischen von Peter Egloff

Limmat Verlag

Zürich

Ihr naht euch wieder,

schwankende Gestalten

Goethe

Seine Vorfahren stammten vom Wolf. Er war neun Jahre alt. In seinem Dorf gingen damals am Sonntag alle in die Kirche, zwei Männer ausgenommen. Der eine war ein Protestant, der andere ein Taugenichts. Das war Mutters Verdikt.

Was ist ein Protestant?, hatte der kleine Bruder ge­fragt.

Einer, der nicht in die Kirche geht.

Warum geht er nicht in die Kirche?

Weil er ein Protestant ist.

Die Frage hatte sich in die Antwort verbissen.

Dass seine Vorfahren vom Wolf stammten, ging Mutter nichts an.

Oria, die greise Stammmutter, liegt Nase zur Decke unter schweren Federbetten, schließt für lange Momente die Augen. Man sieht nur den Kopf im weißen Kissen. Und auf dem Kopf die weiße Spitzenhaube der Großmütter, die in den Märchen im Bett liegen.

Der Bub steht in der Tür, verdeckt ein Auge mit der Hand und kneift das andere zu, um besser fantasieren zu können. Er stellt sich vor, dort im Bett sei nur ein Kopf. Wenn er von dieser Vorstellung genug hat, stellt er sich eine vollständige Oria vor, aber mit dem Kopf einer Wölfin unter der Spitzenhaube. Dann wird Oria grün, ihre Nase wird lang und flach, bekommt etwas von einer riesigen Mundharmonika, und Zähnchen schauen seitlich heraus, als ob sie lachen würde.

Oria ist ein Krokodil mit Großmutterhaube.

Die Alte öffnet die Augen und fragt: Bub, was machst du?, und er erzählt, und sie zeigt sich vom Nachkommen beeindruckt.

Oria war keine Urgroßmutter, die von Rotkäppchen erzählte. Orias Wolf war die säugende Wölfin, die Wölfin von Rom.

Oria war ganz in Schwarz gekleidet, wenn sie auf war, und sie trug ein weißes Hemd und eine weiße Haube, wenn sie im Bett lag. Es gab die weiße Oria und die schwarze Oria.

Er spürt, wie sich sein Körper regt und dehnt, erwacht.

Warum interessiert er sich für seine Vorfahren? Ist es gut zu wissen, woher man kommt? Ist es trostlos zu wissen, wohin man kommen wird? Die schiere Verzweiflung wäre es für seinen Vater gewesen. Der war auf der Jagd schwer verletzt worden und hatte dabei seine Männlichkeit verloren, hatte das nie verwinden können und schließlich Gott und alle seine Heiligen in die Hölle verflucht, Schluss gemacht und eine Frau und fünf kleine Kinder hinterlassen.

Die Mutter war hart geworden. Sie hatte das lange Gesicht leidender Frauen bekommen, hatte dem Vater nie verzeihen können. Was sollte sie allein mit fünf Kindern anfangen? Funktioniert ein Mann so simpel?

Die Mutter hatte den Bub zur Großmutter von Vitg gegeben, Vaters Mutter. Alle sagten der Bub, weil er hieß wie sein Vater. Und dieser Name wurde in der Familie nicht mehr ausgesprochen.

Ansonsten war Großmutter nicht kompliziert. Sie war einfach da, vertrat und verkörperte die Vorfahren.

Immer wieder fragte die Großmutter von Cuoz: Welche Großmutter hast du lieber, die von Vitg oder die von Cuoz?

Er wand sich mit einem Trick aus der Schlinge: Alle beide!

«Von den Pflichten der Hebamme gegen Verunglückte und Scheintodte

Es kann sich wohl in jeder Gemeinde, so klein sie auch ist, der Fall ereignen, dass ein unglücklicher Mensch durch ungewöhnliche Ereignisse in Gefahr kommt, sein Leben zu verlieren, oder durch eine krankhafte Verwirrung seines Kopfes und Herzens sogar auf den Gedanken geräth, Hand an sein eigenes Leben zu legen. (…) Dem Erhenkten muss der Strick sofort abgeschnitten werden. (…) So einfach diese Regel auch scheinen mag, so häufig wird dagegen gefehlt; denn die lächerlichsten Vorurtheile verhindern oft die Rettung des Menschenlebens. Der Eine behauptet, der Verunglückte müsse so lange an dem Orte, wo er den scheinbaren Tod fand, liegen bleiben, bis die Gerichtspersonen ankommen, damit diese sich selbst überzeugen, auf welche Weise der Mensch ums Leben gekommen; der Andere glaubt gar, das Abschneiden des Stricks bei einem Erhenkten sei eine entehrende Handlung, sie sei die Gerechtsame eines gewissen Standes, welche sich mit der Beseitigung todter Tiere abgiebt. – Die von der Wichtigkeit ihres Standes und von dem Werthe eines Menschenlebens durchdrungene He­bam­me denke ­anders. Wo es daher ihre schwa­chen weiblichen Kräfte erlauben, schreite sie (z. B. durch Abschneiden des Strickes) ohne Weiteres zu diesem Liebeswerke.»

Dr. Jos. Hermann Schmidt’s Hebammenbuch, Chur 1850

Warum nimmt einer, der seinem Leben ein Ende setzt, zuvor noch ein Bad und kämmt sich?

«Der Rota-Arm (von Ingenieur Meyer von den Rota­werken in Aachen) ist etwas leichter und gefälliger als der Jagenbergsche Arm. In seiner Beweglichkeit geht er über diejenige des menschlichen Armes erheblich hinaus ...»

Pieder Paul Tumera, mein Großvater, Turengia ge­nannt, trug werktags den Arm mit Haken und an Sonn- und Feiertagen den Arm mit der schwarzen Leder­hand. Es gab den Großvater mit Kralle und den Großvater aus Leder.

Als er geboren war, hatte der Großvater sich mächtig gefreut und den Kleinen gleich auf den Arm genommen. Was für ein Anblick – eine Prothese, die leise ­einen Säugling wiegte, und das winzige Köpfchen in der mächtigen verbliebenen Hand. Der Kleine schrie aus vollem Hals.

Das Leben ist banal. Deshalb muss man es variieren. Werde ein Meister der Variation, und wenn dir das nicht be­schieden ist, so sei dein Leben zumindest kurz und dein Tod leicht.

Da hatte der Kleine erstmals die Stimme seines Vorfahren vernommen und zu lachen angefangen. Aber die Großmutter hatte gesagt, das sei die Kin­dergicht, auch Engelslachen genannt. So kleine Kinder könnten noch gar nicht lachen.

Der Großvater döst in der Sonne auf der Bank vor dem Haus. Ab und zu zieht er an seiner Pfeife, an deren Mundstück der Gummiring einer Bierflasche verhindert, dass sie den zahnlosen Kiefern entgleitet. Zwi­schendurch kommentiert er die Gemeindepolitik. Als sich die Sonne dem Horizont nähert, ist er in Bern angelangt, und wie sie untergeht, in Washington und Moskau.

Der Kleine thront wie ein Pascha in seinem Sitz, döst in der Sonne, zieht regelmäßig am Schnuller mit dem Ring. Hört von fern Großvaters Stimme, wie er mit halb aufgeknöpfter Weste ihnen beiden, zahnlos und kahl, die Politik der weiten Welt erklärt.

Großmutter war die Tochter eines anderen.

Deswegen brauchte sie sich nicht zu grämen. Außer ihrer Mutter wusste das niemand. Ihr Herrgott wusste es vermutlich auch, aber den schien es nicht groß zu beschäftigen, wer von wem sei. Er war ein Herrgott, der sich nicht in private Angelegenheiten einmischte. Ein Herrgott, der kein Waschweib zu sein schien.

Entscheidend war, dass die Leute von nichts wussten.

Kommts drauf an, woher man kommt? Die Leute wollen die Dinge an ihrem Platz wissen. Wenn die Leute wüss­ten, was in einem Dorf so alles geht und läuft, wüss­ten, wer tatsächlich von wem ist, wüssten, wer wie viel hat!

Die Leute, das ist eine Nase auf zwei Beinen. Diese Nase ist überall. Sie geht durch die Straßen wie der ­Pikenträger an der Landsgemeinde, benimmt sich wie der Pikenträger, ist angezogen wie der Pikenträger, hat einen Dreispitz auf wie dieser, mit einer Ecke nach vorn und zwei nach den ­Seiten, und hintendran gerade. Die Nase verbeugt sich tief nach vorn und hinten. Bis zum Boden.

Die Mutter war ein Problem. Sie war stillgestanden. Hatte die Gefühle verloren. War verfangen in der Misse­tat ihres Mannes, welche sie nicht mehr losließ. Und konnte nicht über dieses Grauen sprechen. Das Schweigen ist ein Kleister, der die Seele ans Fleisch pappt. Die Mutter war ein Gesicht, das sich nur noch in die Länge zog. Ihre Hand verdorrte. Der Bub wünschte aus ihrer Hand lesen zu können, wie alt sie würde. Sie ist steinalt geworden.

 

Die Mutter war ein kalter Specksteinofen.

«Ho, ho, ich meint’ in blondem Haar zu wühlen und muss nun hier zwei wüste Hörner fühlen.»

Gebhard Stuppaun, Die zehn Lebensalter, Ardez 1564

Alle, die ihm mit der Hand über den Kopf gestrichen hatten, waren erschrocken und verstummt. Da wuchs einer heran, nahm Tag für Tag an Größe und Weisheit zu und bekam Hörner.

Nach diesen Worten nahm der Großvater die Brille von der Nase und erhob sich feierlich. Wurde vom Erzähler zum Moses, der soeben am Fuß des Berges die Gesetzestafeln zerschmettert hatte.

Er hatte, in Pantoffeln, etwas sehr Wichtiges gesagt.

Als wir klein waren, durften wir den Fernsehapparat nicht anrühren, geschweige denn Knöpfe drücken oder gar drehen.

Hände weg vom Parat, sagte Großvater, halb zum Spaß, halb im Ernst. Die Abkürzung gefiel ihm. Er machte banale Verse und sagte sie her, wann immer ihm die Kiste in den Sinn kam:

Darf er nicht an den Parat

wird der Bub gleich rabiat.

Vom Parat herunter schaute mit entschlossener Miene die Büste eines Bruder Klaus aus gelblichbraunem Holz mit langem, bärtigem Asketenschädel. Etwa ab der Stelle, wo der Bub zu jener Zeit das Herz des Menschen vermutete, war der Rest des Körpers abgeschnitten. Um sich nicht einen entzweigesägten Körper vorstellen zu müssen, redete er sich ein, der Rest des Kör­­­pers stecke im Parat, aber die Arme waren halt doch verstümmelt. Diese Figur, wie sie so schaute und schaute, hatte etwas Beunruhigendes.

Rechts vom Heiligen bewahrte Großvater seinen Feldstecher auf. Finger weg vom Feldstecher. Finger weg vom Parat.

In jenen Jahren, da die Großmütter Kinder kriegten, gab es Piusse und Pias am laufenden Meter. (Der weibliche Pius ist die Pia, nicht die Piua. Piua nannte Großvater die einzige Kuh des Pius, bei welcher ein Horn ziegenartig nach hinten zeigte, das andere geradeaus nach vorn.)

In hellen Scharen waren die Kinder nach den beiden Päps­ten Pius XI. und Pius XII. getauft worden, die aufeinander gefolgt waren. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte es einen Pius gegeben, und etwa um die Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts hatten ebenfalls drei Piusse regiert.

Die Piusse hatten aufgeräumt. Einer hatte dem Jesuitenorden wieder auf die Beine geholfen, einer hatte in Sachen unbefleckte Muttergottes sauberen Tisch gemacht und der Welt weisgemacht, dass der Papst unfehlbar sei. Einer hatte den Modernismus bekämpft und war vom übernächsten Pius heilig gesprochen worden. Pius XI. hatte knüppeldick Enzykliken zu Ehe und Erziehung herausgegeben, hatte dem Kommunismus den Tarif erklärt und sich von der Ökumene distanziert. Der letzte Pius war ein Monarch gewesen, runde Brille, gläserner Blick, hatte weiterhin den Kommunismus gepiesackt und verkündet, «nachdem Wir nun immer wieder inständig zu Gott gefleht und den Geist der Wahrheit angerufen haben», dass es eine von Gott geoffenbarte Glaubenswahrheit sei, «dass die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen worden ist», um dann sofort auf die Konsequenzen zu sprechen zu kommen: «Wenn daher, was Gott verhüte, jemand diese Wahrheit, die von Uns definiert worden ist, zu leugnen oder bewusst in Zweifel zu ziehen wagt, so soll er wissen, dass er vollständig vom göttlichen und katholischen Glauben abgefallen ist.» Das war jene Ankündigung vom ersten elften neunzehnhundertundfünfzig.

Er hat ein Problem, hatte Oria kommentiert.

Großmutter hatte an die Wand gleich unter die Kuckucksuhr einen Pius XII. gehängt, wie man ihn im Dorf von Tür zu Tür verkaufte. Er posierte in einem Oval aus Bronzeguss, welches wiederum auf einen Rhombus aus lackiertem Tannenholz geklebt war. Ein Pius im Profil, das Käppchen auf dem Hinterkopf, die Lippen schmal. Der Bub stellte sich vor, dass der Papst nie rennen konnte, ja nicht einmal mit dem Kopf nach hinten lehnen durfte oder sich nach vorne beugen und zwischen den Beinen hindurch die Welt hinter sich umgekehrt betrachten konnte, weil er sonst jedes Mal sein Käppi verloren hätte. Was für ein Leben musste das sein.

Später war dem Bub in Vaters Knaur, dessen Rücken ganz zerfranst war vom vielen Herausziehen aus dem Regal, etwas aufgefallen. Die Fotografie des gleichen Pius fand sich da neben dem Bild des Francisco Pizarro, Marqués de los Charcas y de los Atabillos. Beide hatten dieselben Augen und denselben Mund und dieselben glatten Wangen. Der eine mit Bart und Helm und Federn und Flaum, der andere mit Käppchen und bartlos und mit derselben Physiognomie aus Stahl.

Wer hatte auf seinen Vater geschossen in den Bleisas Verdas? Wie lange hatte der Schuss in den Felsen widerhallt? Hatte der Räuber den Schuss gehört? Hatte der Vater den Schuss gehört, das Feuer im Elsass gesehen? Wie ist es, wenn eine 270er-Kugel in den Körper dringt, das Fleisch zerfetzt? Wie sieht ein Finger aus, der sich ohne Zittern zum Schuss auf einen Menschen krümmt?

Dein Vater hatte il rir homeric, das homerische Lachen. Der Bub dachte an America.

Dein Vater hatte das Lachen, das nicht unterdrückt werden kann. Das rohe Lachen der alten Götter, das gnadenlos in den Schattenwänden des Kaukasus donnerte. Bei Rabelais wird noch so laut und öffentlich gelacht, im Don Quijote noch laut. Ab dem achtzehn­ten Jahrhundert wird das Lachen besänftigt. Jetzt ist das Lachen entwischt.

Dein Vater gehörte zur Alten Welt.

Für ihn ist es besser so, sagten sie zur Mutter, weil sie nicht wussten, was sie sagen sollten.

Pieder Paul Tumera, genannt Turengia, war sich nicht so sicher, dass es für den Toten so besser sei. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass sein Armstumpf ihn in bösen Momenten bis in die Fingerspitzen hinaus schmerzte. Schlimmste der Möglichkeiten war also, dass der Leib vergangen sein mochte, die Hölle aber blieb. So spekulierte Großvater – ha! – wie Ahab, der wider die dunklen Mächte gewettert hatte: «Und wenn mich mein zermalmtes Bein immer noch schmerzt, wo es sich doch längst in ein Nichts aufgelöst hat, wäre es da so ganz undenkbar, Mensch, dass du die Glut ewiger Höllenpein spürst, ganz ohne Körper? Ha!»

«In Ansehung der Kleidung soll die Gebährende leicht gekleidet und nirgends gebunden, oder beschwert seyn, auch das Tragende leicht gewechselt werden können.»

Leitfaden zum Unterricht für Hebammen und ihre Lehrer, 1807

Er wollte sich nicht mit dem Kopf nach unten drehen. Sein erster Protest. Umsonst, die Geburt ließ sich nicht verzögern.

Es war eine Überschwemmung. Rauschen, gurgeln, strömen, ein Dröhnen in den Ohren. Herausgerissen werden aus dem Mutterschoß. Der schmale Weg durch den Geburtskanal hinaus ins Neue, das sich öffnet. So also war die große Welt, die sich ihm Wehe um Wehe aufgenötigt hatte: hell, hart, kalt.

Und er war ein Bub, und das Runde musste gerade werden, der Kreis zur Linie.

«Die Kindbetterin, dem Bösen besonders ausgesetzt, soll nicht ins Freie gehen, bevor sie in der Kirche war», hatte der Schwarzrock damals gesagt. «Oder nur mit Schirm oder mit einer Schindel auf dem Kopf, oder verkleidet, damit man sie nicht erkennt, wenn sie vorher unbedingt ins Freie muss», ergänzte Großvater, der die Regeln auch in ihren Varianten kannte.

Hatte der Schwarzrock, wie sie den Pfarrer nannte, zu Oria gesagt. Sie war Mutter geworden, war des Schwarzrocks unendlich langer Knopfreihe zuvor noch nie so nah gewesen und stellte sich vor, wie es wäre, wenn der Wanst des Mannes im Talar vor ihr sich noch mehr blähte, sodass die breite Schärpe um seinen Leib schließlich platzen und die winzigen Knöpfe einer nach dem andern – pingpingping – vom Bauch wegspringen würden. Und der Schwarzrock war ein Dicksack, und der Dicksack ein Einflüsterer, der über sie hinmurmelte, auf dass der böse Feind ihr nicht schaden könne, «nihil proficiat inimicus in ea.»

Die Benediktiner, seine Lehrer, wollten nicht allzu viel bemerken. Uneinnehmbare Festungen waren sie, seine Lehrer. Es war die Zeit des Totalunterrichts. Das ist eine schwarze Tafel an der Wand, ein Lehrer in einer weißen Arbeitsschürze hinter einem Pult, eine Büchermauer auf dem Pult, dahinter die Bänke mit je zwei Schülern. Die Streber zuvorderst, Gesindel und Giraffen ganz hinten. Die Duckmäuser an den Seiten. In den Bänken hat er gelernt, ruhig zu sein, das zu sagen, was sie hören wollten. Sie wollten ab der ersten Klasse hören, dass man nicht für den Lehrer zur Schule gehe, dass die Strafe auf dem Fuß folge, dass der Krug zum Brunnen gehe. Stopp. Ein gehender Krug, das interessierte ihn. Ein Krug mit Vogelbeinen und vielleicht auch mit Flügeln. Hatte er eine Kappe auf? Der Krug hatte eine Kappe auf. Und schon war er in einer andern Welt als der des dahindozierenden Lehrers.

In der Schule hat er gelernt, so zu tun, als ob er dem Lehrer zuhöre, während sein Kopf woanders war, zum Beispiel bei der Geschichte vom Krug, der ging und noch viel mehr konnte als das. Diese Technik des vorgetäuschten Zuhörens bei gleichzeitigem Träumen hat sein Hirn geschult. Er lernte so, zwei Dinge zugleich zu tun: an seiner eigenen Ge­schichte zu spinnen und dabei doch dem Lehrer zuzuhören, um die gewünschte Antwort geben zu können und nicht aufzufallen.