Vae Victis

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Vae Victis
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ISBN-Nr: 978-3-00-048614-2

© Marius Streit 2015

Alle Rechte vorbehalten

Edition Mitternacht


Umschlag und Satz: FICHT Kommunikation & Design, Hofheim am Taunus
Illustrationen: Stefan Sittig, Liederbach am Taunus
Lektorat: Kirsten Knetsch
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

UM DAS JAHR 523 NACH GRÜNDUNG DER STADT ROM, ENTSANDTE ERATOSTHENES VON KYRENE, LEITER DER ALEXANDRINISCHEN BIBLIOTHEK, KAPITÄN RATA UND SEINEN NAVIGATOR MAUI AUF EINE MISSION ZUR UMSEGELUNG DER ERDE. DAS SCHIFF HATTE EIN EINMALIGES, VON ERATOSTHENES ERFUNDENES GERÄT AN BORD, DAS DAZU BESTIMMT WAR, DEN SEELEUTEN DIE ORIENTIERUNG AUF DEN WELTMEEREN ZU ERLEICHTERN. ES KEHRTE NIEMALS ZURÜCK.

Die Triere kämpfte sich schwerfällig durch die aufgewühlten Wogen hindurch und stemmte sich ächzend gegen die immer rauer werdende See.

Ihr Bug versank tief ins Meer und tauchte mit jedem Mal langsamer und mühsamer aus dem Wasser auf.

Die Ruderer stöhnten vor Anstrengung und verfluchten laut den Trommler, der mit unbarmherziger Bestimmtheit die Schlagzahl vorgab. Ein grimmiger kahl rasierter Aufseher stolzierte durch ihre Reihen und zeigte den angeketteten Unglückseligen seine aufgerollte Peitsche. Von der Brücke aus war nicht zu vernehmen, ob er schimpfte oder nur unverständliche Laute von sich gab.

An Bord des Schiffes rang Lucius Cornelius Castor seit geraumer Zeit mit der Seekrankheit. Als Mensch vom Festland und Sprössling latinischer Bauern hasste und fürchtete er die See. Sein älterer Bruder war vor wenigen Jahren auf dem Meer verschollen, vermutlich von griechischen Seeräubern ermordet.

Jedes Mal, wenn Lucius in See stechen musste, spürte er einen Kloß in der Magengegend. Es war die Angst des Festlandmenschen vor dem nassen Element, vor den Gefühlen der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins.

Diesmal musste er von Karthago nach Rom zurückkehren, um einen Auftrag des wortkargen Gaius Pompeius Glabra auszuführen. Er war der Adjutant von Scipio Aemilianus, den alle Africanus Minor nannten. Scipio Aemilianus war ein besonders fähiger Feldherr, und sein Adoptivvater Publius Cornelius Scipio hatte keinen geringeren als Hannibal bezwungen.

Erneut überkam Lucius eine Welle von Übelkeit. Mare nostrum, unser Meer, wie es sein Volk nannte, war bestimmt nicht sein Meer. „Mare nostrum, was für ein Unsinn!“, dachte er mit finsterer Miene, während das Gefühl der Angst ihn immer stärker in Besitz nahm. Verzweifelt und mürbe vom ständigen Schaukeln versuchte er sich zu entspannen, indem er daran zurückdachte, wie sein seltsamer Auftrag, der ihn nach Rom führen würde, angefangen hatte.

Das schwache Licht der Fackel erleuchtete spärlich das Innere des Zeltes. Die Schatten, die es an die Wände warf, ließen alles bedrohlich erscheinen. Nur mit Mühe waren an der rechten Wand die Umrisse einer liegenden Gestalt auszumachen.

Dort lag ein junger Mann auf einer ziegenfellbespannten Liege tief im Erschöpfungsschlaf versunken. Sein rechter Arm hing zum Boden herab, aus nächster Nähe konnte man seinen schweren Atem hören.

Die schlanke Adlernase und das ausgewogene, längliche Gesicht deuteten auf eine gut aussehende Erscheinung hin.

Die drückende Hitze, die im Zelt herrschte, hatte auf dem Kopf des Schlafenden winzige glänzende Perlen erscheinen lassen. Im Dickicht seiner kurzen, gekräuselten Haare leuchteten die Schweißtropfen jedes Mal, wenn das Licht flackerte, golden auf.

Plötzlich wurde der Zeltvorhang aufgerissen, und eine massige, gedrungene Gestalt verdeckte den Himmel.

„Herr, wach auf!“, rief der Centurio Sextus Fundius in das Halbdunkel hinein.

Die Gestalt auf der Liege rührte sich ein wenig, als wollte sie ein unsichtbares Tier vom Rücken schütteln, blieb aber liegen. „Herr!“ Die Stimme wurde drängender. Sie fand den Weg ins Gehirn des Schlafenden und stach ihn wach.

Lucius Cornelius Castor drehte sich auf die Seite, öffnete die Augen und setzte sich auf. Er schaute mit verklärtem Blick durch den Centurio hindurch und schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kommen. Trockenheit klebte ihm die Zunge am Gaumen fest und seine Stimmbänder brachten zunächst nur Rostiges hervor.

„Was ist?“

„Sie haben die erste Linie durchbrochen und versuchen, sich zum Isthmus hindurchzuschlagen.“

Der Nebel in Lucius Kopf begann sich zu lichten. Er packte den Arm des Centurio und fragte erneut, diesmal mit fester Stimme:

„Was ist geschehen?“

„Die Velites, diese leichtbewaffneten Hasenfüßler, sind völlig überrascht worden.“

Jetzt erst merkte der junge Offizier, dass der Soldat keuchte. Sein eckiges, breites Bauerngesicht war dreckverschmiert und aus den kleinen Augen schrie die nackte Verzweiflung. Er fuhr hastig fort. „Die Velites sind in Panik gegen die eigenen Linien gerannt. Sie hatten nicht einmal Zeit, sich gegen den Feind aufzustellen. Die Barbaren haben uns mit einer starken Einheit Fußvolk und einer Gruppe Reiter überrascht. Die übrigen werden vom Fußvolk gejagt, es sind mehrere tausend. Wir brauchen unbedingt Verstärkung, denn die Hastati sind auch schon auf dem Rückzug.“

Jetzt war der junge Mann ganz wach.

Wenn die Lanzenträger schon auf dem Rückzug sind, dann sieht es brenzlig aus, dachte Lucius, während er hastig sein Schwert anlegte und zum Kettenhemd und den Schienbeinschützern griff. Danach nahm er mit der Linken den Schild, der gegen die Liege gelehnt war, und hob mit der Rechten im Hinausgehen seinen Helm vom Boden. Draußen tobte von fern wildes Geschrei heran, das vom klirrenden Klang der Waffen verstärkt wurde. Lichter sprangen in fünf Stadien Entfernung ziellos umher.

„Wir müssen ganz nach vorne. Folge mir!“

Sie schlugen sich durch das Gedränge der Truppen durch, die sich eilig für das Gefecht rüsteten. Je weiter sie kamen, umso stärker wurde das Gedränge und umso lauter tönte das Kampfgeschrei.

Der Centurio Sextus Fundius lief schweigend, mit grimmig verschlossener Miene an der Seite seines Vorgesetzten. Lucius warf ihm verstohlen einen Blick zu, er wusste, warum der Soldat so unzufrieden wirkte. Er war schon sehr lange dabei, der Centurio, und hatte in den einundzwanzig Jahren bei der kämpfenden Truppe vieles erlebt und erlitten. Inzwischen gehörte er zur Kerntruppe der Triarier und sein Wort hatte bei Soldaten und Vorgesetzten großes Gewicht.

Dass er jetzt verzweifelt zum Tribun Lucius Cornelius Castor gerannt war, hatte nicht mit der augenblicklichen Lage zu tun, denn er war es gewohnt, solche schwierigen Situationen selbst zu meistern. Sein Hilfsbegehren war vielmehr ein untrügliches Zeichen für den allgemeinen Lauf der Dinge, seit diese Belagerung begonnen hatte.

Fast drei Jahre waren seit dem neuen Krieg gegen Karthago schon ins Land gegangen. Sie hatten gedacht, es würde ein leichtes Spiel werden, aber dann immer wieder schmerzhafte und demütigende Rückschläge hinnehmen müssen.

Die römischen Feldherren, Lucius Piso für das Landheer und Lucius Mancinus für die Flotte, hatten bisher so gut wie keine Erfolge aufweisen können und zeigten keineswegs mehr Geschick als ihre Vorgänger Manius Manilius und Lucius Censorinus, die sie vor einem Jahr auf Geheiß des römischen Senats abgelöst hatten. Schlimmer noch: Die Moral und der Kampfgeist der Truppe waren seit den ersten Misserfolgen bei der Belagerung so sehr gesunken, dass sie einen erschreckenden Tiefpunkt erreicht hatten.

Alle Trödler, Händler und Wucherer, die sich vom Krieg ernährten, taten das Ihre, um den Sold der Legionäre schnellstmöglich zu verzehren. Dazu kamen noch die zwei notdürftig errichteten Lupanare am Rande des Lagers, die ihren Besitzern bei geringem Risiko riesige Gewinne bescherten.

Diese Tatsachen sowie die mangelnde Kontrolle durch die Befehlshaber waren an der augenblicklichen Misere schuld. Der Gedanke an dieses Elend des römischen Heeres ließ den Tribun mit den Zähnen knirschen.

Endlich gelangten die beiden an den Ort des größten Tumultes, an die vorderste Linie. Wiehernd stürzte ein Pferd neben Lucius zu Boden und begrub seinen verletzten Reiter unter sich.

Plötzlich tauchte ein bärtiger Riese mit nacktem Oberkörper aus dem Nichts auf. Brüllend stürzte er sich auf den jungen Römer, sein langes Schwert fuhr mit gigantischer Wucht auf den Tribun nieder. Lucius hatte kaum die Zeit, den Schlag abzuwehren, sein junger Körper beugte sich nach hinten und ging in die Knie, als der mächtige Punier ihn nach unten drückte. Der Mann holte zum zweiten Mal aus, um seinem Gegner den endgültigen Stoß zu versetzen, doch dazu kam es nicht mehr.

Mit einer knappen, halbkreisförmigen Bewegung offenbarte Lucius’ Schwert die Därme aus dem ungeschützten Bauch des Gegners, der taumelnd zwei Schritte machte und dann flach aufs Gesicht fiel. Röchelnd versuchte der Riese sich aufzurichten, aber die Waffe des Römers nagelte ihn endgültig an den Boden. Neben Lucius zerrte der Centurio Sextus Fundius einen Feind vom Pferd und enthauptete ihn.

„Centurio!“, schrie ihm der Tribun zu, das Gesicht von frischen roten Flecken bedeckt, „ich ordne die Reihen, hol du sofort die Verstärkung.“

 

Der alte Legionär wusste, was er zu tun hatte, und verschwand in der Dunkelheit.

„Neptun meint es schlecht mit uns.“ Der Schiffskapitän war von hinten an Lucius herangetreten.

„Meiner Einschätzung nach werden wir demnächst von einem mächtigen Sturm eingeholt werden. Er rollt aus Richtung Ägypten-Judäa an und wir können ihm in keiner Weise ausweichen.“ Das zerfurchte, sonnengegerbte Gesicht des Mannes zeigte keine Regung, aber seine Stimme verriet Anspannung.

Lucius spürte, wie die Übelkeit allmählich verschwand, aber nur, um durch ein schleichendes Gefühl von Panik ersetzt zu werden.

„Lass sie schneller rudern, Aegidus“, sagte er mit beherrschter Stimme, konnte aber ein leichtes Zittern nicht unterdrücken.

Der Seemann erkannte die Angst seines Gegenübers. Zu lange war er zur See gefahren und zu viel hatte er gesehen, um sich von beherrschten oder gar martialischen Auftritten täuschen zu lassen. Die Augen verraten alles, hatte ihn sein Vater gelehrt. Dieser junge Mann war auch nicht anders als die anderen. Er hielt sich zwar tapfer, aber sein Herz war vor dem zunehmenden Seegang ganz klein geworden.

Was ist bloß so wichtig an diesem jungen Kerl, dass sie eine Triere und zwei Penteren entbehren konnten, nur um ihn nach Rom zu bringen, wunderte er sich.

Ausgerechnet jetzt, wo die Belagerung dieser verfluchten Stadt nicht voranging und der Großteil der Flotte gemütlich vor Karthago dümpelte, mussten sie ihn, Aegidus Naso, beauftragen, diesen Besserwisser nach Rom zu befördern, obwohl er viel lieber vor der punischen Festung geblieben wäre. Denn für die Flotte war die jüngste Zeit ruhig verlaufen, da der neue Feldherr Scipio Aemilianus zunächst mit dem Aufrütteln des erlahmten Heeres beschäftigt gewesen war.

Aegidus segelte schon seit über zwanzig Jahren zur See, und er hatte wirklich genug von der Aufregung des Seemannslebens im Dienst der römischen Kriegsmarine. Er war Thyrrenoi aus Volturnum, und seine Familie hegte seit Generationen eine tiefe Abneigung gegen die Römer. Dieses Misstrauen gegen die Herren der Welt hatte er bereits in frühester Jugend eingeflößt bekommen, denn zu sehr hatte sein Volk unter der römischen Herrschaft gelitten.

Trotz der eigenen Angst überkam ihn die Lust, den jungen Römer weiter zu erschrecken.

„Vor zwei Jahren hat Censorinus eine ganze Flotte in einem solchen Sturm verloren. Da half das schnellere Rudern auch nicht mehr, Herr“, sagte er ohne jede Gesichtsregung zu Lucius.

Er wusste, er durfte sein Gegenüber nicht zu sehr herausfordern, auch wenn er der Kapitän war. Allzu mächtig stand hinter diesem jungen Tribun der Schatten des unheimlichen Gaius Glabra. Von ihm kam auch der Brief, den Lucius bei Reiseantritt vorgezeigt hatte. Darin stand, Aegidus Naso möge den Militärtribun Lucius Cornelius Castor auf dem schnellsten und sichersten Weg nach Rom befördern. Der Kapitän würde persönlich für das Wohlergehen seines Gastes haften. Der Brief war nicht unterschrieben, aber Aegidus wusste trotzdem sofort, von wem er kam. Er trug ein Siegel, auf dem ein Rabe mit erhobenem Haupt stand, das Zeichen des Glabra. Der Wind wuchs zum unbeherrschbaren Ungeheuer heran. Er drückte die Schiffe tief ins Wasser und schob gnadenlos den Wolkenvorhang über den hilflosen Nussschalen zusammen. Der bleierne Himmel senkte sich immer tiefer, als wollte er sich mit den Wellen zum Unheil der Seefahrer verbünden.

Lucius stand regungslos und starr auf der Brücke und seine Finger krallten sich mit aller Macht in die Brüstung. Aegidus schrie, um den Wind zu übertönen:

„Geh hinunter zu den Ruderern Herr, da bist du sicherer. Ich hab Angst, dass du hier oben von Bord gespült wirst.“

Doch Lucius hörte ihn nicht. Die Angst war von ihm gewichen und eine unerwartete Seelenruhe bemächtigte sich seiner.

Er träumte mit offenen Augen, sah die sanften in warmes Sonnenlicht gebadeten Hügel von Tusculum, erblickte seine Mutter und seine Schwester Julia, die ihm zuwinkten. Dann wurden ihre Gesichter immer undeutlicher, bis sie ganz verschwunden waren. Verzweifelt versuchte er, dieses idyllische Bild zurückzuholen, aber es wollte ihm nicht gelingen. An seine Stelle trat ein dunkles, bedrohliches Bild.

Am liebsten hätte er geschrien, bei Neptun, er hätte diesen verfluchten Sturm weg geschrien, wenn er nur gekonnt hätte!

Unterhalb der Brücke, die sich am hinteren Ende des Schiffes befand, saßen bis nach vorne gereiht die Ruderer an ihre Ruder gekettet und dazu verdammt, schlimmstenfalls mit dem Schiff unterzugehen, ohne von der Tyche auch nur mit einem Augenzwinkern bedacht zu werden. Sie wussten es und so ruderten sie, als wollten sie dem Hades mit aller Macht entkommen.

Lucius kniff die Augen zusammen. Wieder wanderten seine Gedanken zurück in die Zeit, die nur wenige Tage zurücklag.

Die Reiterkolonne schlängelte sich langsam durch die Zeltreihen. Unter der sengenden Sonne bewegte sie sich zielstrebig auf den Hauptplatz des Lagers zu. In ihrem Staub sammelten sich die Soldaten und beäugten misstrauisch die Neuankömmlinge. Erloschene Augen aus erschöpften Gesichtern blickten zu den Reitern hinauf.

Die Spitze der Formation führte der Konsul Publius Cornelius Scipio Aemilianus an. In eine dichte Staubwolke gehüllt, stieg er am Hauptplatz des Lagers vom Pferd und warf einen langen Blick auf das Heereslager.

Das Schweigen der Wartenden wurde nur von kurzen, barschen Befehlen, die den Neuankömmlingen galten, unterbrochen.

Endlich war er wieder da, der Konsul Scipio. Nach einem Jahr der Abwesenheit von seiner Truppe, in dem er in den dunklen Machtkorridoren Roms seinen einsamen Kampf gegen die Machenschaften der Politiker ausgefochten hatte, war er wiedergekommen, um auf Wunsch des Senats das Kommando in diesem glücklosen Krieg zu übernehmen. Er kannte den Gegner, und er kannte seine Truppe viel besser als die abgesetzten Feldherren.

Er war der Mann, in den Soldaten wie Sextus Fundius ihre letzte Hoffnung setzten. Mit unbestechlichem, tapferem und gerechtem Ruf trat er in die Fußstapfen seines legendären Adoptivvaters, des Publius Cornelius Scipio, genannt Africanus, dem Bezwinger von Hannibal.

Was Scipio erblickte, erfüllte ihn mit Wut und Hass. Wut, weil das römische Heer einem Haufen versoffener Bettler glich, und Hass, weil die schuldigen Feldherren ungestraft blieben.

„Glabra, lass die Legionen antreten!“

Der große, hagere Mann mit den eingefallenen Wangen und dem finsteren Gesicht drehte sich um und erteilte halblaut einige Befehle. Dann wandte er sich wieder dem Feldherrn zu und sprach leise ins Ohr von Scipio.

Gaius Pompeius Glabra war ein gefürchteter Mann. Er war seinem Herrn Scipio durch Todesschwur treu ergeben, sein Name ließ jedoch alle, die jemals von ihm gehört hatten, erzittern, weil er mit Bestrafung und rollenden Köpfen in Verbindung gebracht wurde.

Während Gaius Glabra mit undurchdringlicher Miene redete, verdunkelte sich das Antlitz des Feldherrn zusehends. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, stellte sich Stille ein.

„Soldaten“, begann der Feldherr und seine Stimme schnitt wie ein Schwert durch die erstarrten Reihen, „ich habe gerade sehr schlimme Dinge gehört. Dinge, die mich betrüben und empören. Dinge, die mir zu denken geben, ob ich ein römisches Heer oder einen Haufen Weiber vor mir habe.“

Die Hitze wuchs.

„Ihr wisst, mit welchem Auftrag euch das römische Volk hierher entsandt hat. Ihr solltet diesen Feind endgültig niederwerfen, nie wieder soll Karthago eine Bedrohung für den Frieden unserer Welt sein. Niemals wieder soll dieses Volk es wagen, das Haupt gegen uns zu erheben.

Das waren die Vorgaben, mit denen euch das römische Volk beauftragt hat.

Doch was ist aus diesen Vorgaben geworden? Fast drei Jahre sind ins Land gegangen, seitdem ihr hier weilt. Jahre, in denen ihr es geschafft habt, über dreitausend Mann sowie Disziplin und Kampfgeist zu verlieren. Jahre, in denen Huren und Trödler eure Herren geworden sind.“

Die folgenden Worte kamen ihm schwer über die Lippen:

„Ihr habt das Vertrauen eurer bisherigen Feldherren missbraucht. Ihr habt euch unwürdig gezeigt, das römische Volk zu vertreten.“

Die letzten Worte wurden vom Wind durch die Reihen gepeitscht und hämmerten erbarmungslos gegen die Ohren der erstarrten Soldaten.

Scipio schaute langsam über die Legionen, als wollte er sich jedes einzelne Gesicht merken.

„Heute Nacht hat der Feind versucht, aus unserer Umklammerung auszubrechen. Es war nur seiner Ungeschicktheit zu verdanken, dass er scheiterte. Ihr aber habt zweihundertdreißig Mann, vierundzwanzig Pferde und eine Fahne verloren. Schande über euch!“

Seine letzten Worte donnerten durch die Reihen. Den Soldaten lief der Schweiß in Strömen unter ihren Helmen und Rüstungen, aber niemand wagte, sich zu rühren.

Mit Unheil verkündendem Blick stand der Feldherr den Legionen gegenüber.

„Es ist mir berichtet worden, dass die Velites und die Hastati unter dem Befehl von Tribun Marcus Andronicus ihre Seite des Lagers nicht bewacht haben. Stattdessen waren die Wachen betrunken und schliefen, der Tribun selbst war nicht auffindbar. Es musste Lucius Cornelius Castor, Befehlshaber über eine andere Einheit, herbeigeholt werden, um das Kommando zu übernehmen. Es geht also um mangelnde Wachsamkeit und Disziplin, und dazu kommt noch Feigheit vor dem Feind. Ihr wisst, welche Strafe darauf steht!“

„Marcus Andronicus, lass deine Einheiten zwanzig Schritte vortreten.“

Der aufgeforderte Tribun verließ die Reihen der Offiziere hinter dem Konsul Scipio und trat vor.

Er ließ zwei Manipel vorschreiten und dreihundert Legionäre machten zwanzig Schritte nach vorn. Dann marschierte er selbst vor und blieb zehn Schritte vor den Einheiten stehen.

„Fahnenträger vom zweiten Manipel, vortreten!“

Der Soldat trat drei Schritte aus der ersten Reihe hervor. Er hieß Quintus Severus und war bereits seit elf Jahren Legionär, ein kräftiger Endzwanziger, der sich in Iberien vor drei Jahren durch besonderen Mut ausgezeichnet hatte. Im Feldzug gegen die Turdetaner hatte er sich bei Kameraden und Vorgesetzten Bewunderung und Anerkennung erfochten. Für den Feldzug gegen Karthago wurde ihm die Ehre zuteil, die Fahne zu tragen.

Beim nächtlichen Ausfall der Feinde hatte er in der Verwirrung des Überraschungsangriffs den Kopf verloren und war beim überstürzten Rückzug der Römer gestolpert. Um ihn herum waren entsetzte Kameraden in Panik auf die eigenen Reihen zugerannt. Verzweifelt hatte er sich wieder auf die Beine gekämpft.

Ein einziger Gedanke hatte ihn beherrscht: Weg, weg von hier!

Später, als bei der Neuformierung seiner Einheit die Angst etwas nachgelassen hatte, wurden seine Gedanken klarer. Er wusste, was ihn ohne Fahne erwartete.

Mit unerhörtem Mut hatte er die eigenen Reihen verlassen und war allein mit gezogenem Schwert gegen die Feinde, zurück in die Dunkelheit, gerast. Blindwütig hatte er um sich geschlagen, während er brüllend nach der Fahne suchte.

Er hatte sie nicht finden können.

Von allen Seiten vom Feind bedrängt, war er schließlich wieder zu den Kameraden geflüchtet.

Er hatte sich mit einer Tapferkeit geschlagen, mit einem Mut, den nur die angstbeseelte Verzweiflung verleihen kann.

Unter anderen Umständen hätte dies für Quintus Severus höchste Auszeichnung und Ehrung bedeutet. Diesmal jedoch besiegelte es sein Schicksal.

Nun stand er da, allein vor den versammelten Legionen, drei Schritte von den Reihen entfernt, drei Schritte, die Welten trennten, die Welt der Lebenden von der der Toten.

Der Tote war er.

Er kannte sehr wohl die Strafe, die auf sein Vergehen stand: das Fustuarium.

Der Feldherr wandte den Kopf zum Tribun Lucius Castor und nickte ihm kaum merklich zu.

Sofort ging Lucius auf den Soldaten Quintus Severus zu und blieb auf Armeslänge vor ihm stehen. Er hob die Rechte und berührte mit dem Stock, den er eigens zu diesem Zweck bei sich hatte, sein Gegenüber leicht an der Schulter. Dann drehte er sich um und ging ohne ein Wort in die Reihe der Offiziere zurück.

Aus der vordersten Linie der Legionen lösten sich vier Soldaten und rannten auf Quintus Severus zu. Sie rissen ihm den Helm vom Kopf, nahmen ihm das Schwert ab, schnitten ihm den Brustpanzer vom Leib und warfen die gesamte Ausrüstung in den Staub.

Ein tiefes Geräusch entfuhr Tausenden von Männerkehlen, es klang wie von einem verwundeten, aufgebrachten Tier.

Einzelne Soldaten, mit Stöcken bewaffnet, kamen aus den Reihen hervor. Zunächst bewegten sie sich langsam, fast bedächtig, dann schneller, schließlich liefen sie auf den Verurteilten zu. Der verlor nun endgültig die Selbstbeherrschung und flüchtete verzweifelt vor den eigenen Kameraden in die scheinbar einzige freie Richtung, auf die karthagische Festung zu.

 

Sehr bald hatten ihn seine Verfolger eingeholt, zu denen sich immer mehr Legionäre aus den aufgestellten Reihen gesellten. Das Brüllen und Schimpfen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Die Stockschläge kamen erst von hinten, dann regneten sie von überall her auf den Wehrlosen nieder.

Quintus fiel auf die Knie, legte sich die Arme über den Kopf, kauerte sich verzweifelt zusammen. Die Schmerzen spürte er kaum. Er hörte das Krachen seiner Rippen und das Fauchen der Stöcke, die sich erbarmungslos den Weg durch die Luft zu ihm bahnten. Plötzlich fühlte er eine wachsende, wohltuende Schwäche. Er ließ sich auf die Seite rollen, während eine warme, salzige Flüssigkeit ihm über die jetzt ruhig geschlossenen Augen lief und in den halbgeöffneten Mund drang. Ein wunderbarer, heller Blitz erleuchtete ihn von innen, gleich danach wurde es für immer dunkel.

Die Leiche des Legionärs Quintus Severus blieb im Staub liegen, während seine ehemaligen Kameraden, einer nach dem anderen, in die Reihen zurückkehrten.

Der Feldherr wandte sich mit strengem Blick dem Tribun Marcus Andronicus zu.

„Tribun, du hast deine Truppen im Stich gelassen! Das ist Feigheit vor dem Feind. Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

Marcus Andronicus konnte seit geraumer Zeit sein Zittern nicht mehr unterdrücken. Als er von Scipio angesprochen wurde, fing sein dicklicher, untersetzter Körper deutlich an zu beben und sein ausgeprägtes Doppelkinn schien sich vom Hals lösen zu wollen.

Er war in der Tat nicht beliebt, dieser Tribun, weder unter seinesgleichen noch bei der Truppe. Sein zügelloses Leben und seine offene Verachtung gegen niedriger Gestellte waren niemandem verborgen geblieben. Bisher jedoch hatte er sich keines größeren militärischen Vergehens schuldig gemacht, und seine allnächtlichen Ausflüge ins Lupanar des Ägypters Ptolemaios wurden vom vorherigen Feldherrn geflissentlich übersehen. Schließlich war Marcus Andronicus der Sprössling einer sehr einflussreichen römischen Familie, deren Beziehungen weit in den Senat hineinreichten.

Sein in Rom bekannter Vater, der ehrenwerte Kaufmann Gaius Andronicus, hatte zur Zeit des Krieges gegen Hannibal sein gesamtes Vermögen dem Senat zur Verfügung gestellt, um die Aufrüstung gegen das Heer des Furcht einflößenden Puniers zu ermöglichen. Nach dem Sieg über Hannibal erlebte Gaius Andronicus die tiefe Dankbarkeit des römischen Volkes und wurde mit hohen Ehren und großzügigen Geschenken bedacht. Sein Wunsch, den einzigen Sohn als Kämpfer gegen Karthago zu sehen, wurde ihm vom Senat erfüllt, er selbst erlebte dies jedoch nicht mehr. Er starb drei Jahre vor Beginn des Feldzugs. Die Demütigung seines Namens blieb ihm erspart.

Scipio kannte den Tribun, der jetzt in Todesangst vor ihm zitterte, noch aus Rom, wo der verweichlichte Marcus Andronicus auch nicht anders gelebt hatte. Es war dem Feldherrn noch lebhaft in Erinnerung, wie sein Gegenüber ihn einmal als „nach Pferdemist stinkenden Soldatentrampel“ verspottet hatte.

„Das darf keine Rache sein“, dachte Scipio und schaute tief in die Augen des Angeklagten. „Wenn du wüsstest, dass ich dich gar nicht hasse … Ich verachte dich bloß so sehr, dass ich keine Worte dafür habe …“ Er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern sagte mit spannungsgeladener Stimme:

„Ich warte auf deine Antwort, Tribun.“

Der Angesprochene öffnete die bebenden Lippen, brachte aber keinen einzigen Laut hervor.

„Bekennst du dich schuldig?“

Mühevoll fasste sich Marcus Andronicus wieder. Er wusste nun, dass er unentrinnbar des Todes war. Den Namen seiner Familie konnte er nicht nochmals beflecken. Nicht dieses Mal.

Das Zittern in seinem Körper hörte auf. Sein Hals streckte sich und ein erloschenes „Ja“ entwich seinen trockenen, aufgesprungenen Lippen.

„Vollstreckt die Strafe!“

Der Feldherr drehte sich um und verschwand im Kommandantenzelt, während der Vorhang lautlos hinter ihm zufiel.

In der Abgeschiedenheit des Zeltes legte Scipio langsam seine Rüstung ab und ließ sich müde, wie ein erschöpfter Greis aufs Feldbett fallen. Er starrte mit leerem Blick auf die gegenüberliegende Zeltwand. Dem restlichen Strafvollzug, der Dezimierung, wollte er nicht mehr beiwohnen. Nur allzu gut kannte er die Prozedur, denn er hatte sie mehrfach miterlebt.

Es lief auch diesmal nach dem gewohnten Muster ab.

Zunächst wurden die Holzstämme der Henker herangerollt, dann musste der Tribun der schuldigen Einheit jede zehnte Reihe auszählen. Die auf diese Weise ausgewählten Soldaten hatten ihre gesamte Rüstung abzulegen und mussten, einer nach dem anderen, vor dem jeweiligen Holzstamm hinknien und sich mit dem Oberkörper darauf legen.

Den Rest erledigte der Henker.

Scipio Aemilianus konnte durch das geschlossene Zelt die regelmäßigen dumpfen Schläge hören. Die Henker verstanden ihr Handwerk. Nur selten benötigten sie mehr als einen Schlag, um den Kopf vom Rumpf zu trennen.

Während sich das eintönige Geräusch fortsetzte, war nichts anderes zu hören. Die übrigen Legionen rührten sich nicht vom Fleck, denn auf das Verlassen der Reihen bei solcher Gelegenheit stand die Todesstrafe.

Plötzlich kehrte eine längere Stille ein. Dann fiel erneut ein Schlag. Scipio wusste, dass es der letzte war. Er traf den Hals des Marcus Andronicus.

Aegidus blickte über die Wellenberge nach rechts, wo zuletzt noch die Pentere des Leukas war. Außer dem tobenden Meer war jedoch nichts zu erkennen.

Er spürte, wie sein Mund plötzlich ganz trocken wurde.

Verzweifelt wandte er seine Augen nach links, um zumindest das Schiff von Duris zu erblicken. Zunächst sah er nichts. Dann, in etwa zwei Stadien Entfernung, meinte er die Umrisse einer Pentere durch den dichten Regenvorhang zu entdecken. Das unbeherrschbare Meer warf das Boot in alle Richtungen.

Plötzlich sah Aegidus das Schwesterschiff in aller Deutlichkeit.

Es trieb steuerlos, mit gebrochenem Mast durch die Wellen. Ein Großteil der Ruder war ebenfalls gebrochen, und aus der Entfernung konnte man keinerlei Lebenszeichen mehr erkennen.

Als er angestrengt nach Überlebenden Ausschau hielt, sah er, wie eine Welle von hinten an das Schiff heranrollte. Sie bäumte sich auf und wuchs zu einem Wasserberg heran, kam fast bedächtig auf das Schiff des Duris herunter und tilgte es in wenigen Augenblicken von der Meeresoberfläche.

Der Wind legte sich so schnell, wie er aufgekommen war, der Himmel lichtete sich, und das Wasser wurde wieder glatt und ruhig.

Die Triere lag regungslos, während die erschöpften Männer langsam zu sich kamen, als wären sie gerade aus einem furchtbaren Albtraum erwacht.

Als Erster erholte sich Aegidus. Noch schwach und zitternd schaute er auf das Bild der Verwüstung, das sich vor seinen Augen ausbreitete. Währenddessen kämpfte sich der Befehlshaber über die Ruderer in die aufrechte Haltung.

„Atticus, Schadensmeldung!“, sagte der Kapitän mit schwacher Stimme.

Der Mann schüttelte zuerst wie benebelt den Kopf und torkelte dann zwischen die Reihen der Ruderer.

Es stellte sich heraus, dass fünfzehn Sklaven im Sturm gestorben, das Segel gerissen und vier Ruder gebrochen waren. Wie durch ein Wunder war kein größerer bedrohlicher Schaden festzustellen.

„Die Götter haben uns geschützt“, dachte Lucius, der ebenfalls allmählich zu sich kam, obwohl ihm die Angst noch tief in den Gliedern saß. „Neptun und Merkur, ich werde Euch ein reiches Opfer bringen“, sagte er halblaut.

Es dauerte noch einige Stunden, bis das Schiff wieder segelfertig war. Nach zwei Tagen und zwei Nächten ohne weitere Vorkommnisse kamen sie endlich im Hafen von Ostia an.

Es herrschte wie immer eine rege Geschäftigkeit an Roms Tor zur Welt.

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