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Leo Gasmann

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Roman

edition mitternacht

1. Auflage, April 2019

ISBN 978-3-9823209-1-5

© Marius Streit, 2019

Edition Mitternacht

Lektorat: Kirsten Knetsch

Umschlaggestaltung & Satz: Doris Schneider, grafik-nach-mass.de

Umschlagfoto: Yeti Studio, Adobe Stock

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

»Was helffen Fakeln Licht oder Briln,

so die Levt nicht sehen wollen?«

Heinrich Khunrath, Amphitheatrum sapientiae aeternae, solius verae, christiano-kabalisticum, divino-magicum, nec non physicochymicum, tertriunum, catholicon, Hanoviae Excudebat Guilielmus Antonius, MDCIX [1609].

I

Wir schreiben das Jahr unseres Herrn 1603. An dem verdrießlichen Januarmorgen, als alles seinen Anfang nahm, regnete es wie bereits seit Tagen in beständigen kleinen Tropfen, was in seiner zermürbenden Eintönigkeit die Festigkeit meines Gemüts über die Maßen beanspruchte. Obgleich ich an jenem Vormittag in einem Raum bei geschlossenem Fenster saß, löste der Blick durch die nasse Fensterscheibe ein unwillkürliches Schaudern in mir aus, und ich zog die dicke, grob gewobene Soutane enger um mich. Der hartnäckige Regen hatte mich ganz in seinen Bann gezogen; es bereitete mir größte Mühe, mich auf den vor mir liegenden Text einzulassen.

Ich hatte denselben Satz bereits zum dritten oder vierten Mal gelesen, ohne seine Bedeutung richtig zu erfassen, als mich unversehens eine leise Stimme aus dieser schwermütigen Abwesenheit riss.

»Bruder Tomás, verzeih die Störung, aber unser Prior möchte dich unverzüglich sprechen.«

Recht heftig muss ich zusammengezuckt sein, denn Bruder Theopold weitete erschrocken die Augen und wich verunsichert einen Schritt zurück.

»Entschuldige, Bruder«, erwiderte ich verlegen, »ich war gerade in Gedanken versunken.«

Vorsichtig richtete ich mich auf, um die anderen Brüder in ihrer Arbeit nicht zu stören. Schweigend durchquerten wir den Lesesaal, verfolgt von neugierig verstohlenen Blicken.

Draußen im Kreuzgang bekam ich die wirkliche Kälte dieses nassen Januartages ungeschützt zu spüren. Während wir wortlos hintereinander liefen, zerschellten die winzigen Regentropfen an den Steinsäulen und drangen mir wie feine Gischt in die Nase. Es roch kalt und modrig, und ich versuchte, mich von der Schwermut dieses Tages zu lösen, indem ich den gebückten Mann anstarrte, der in trippelndem Gang vor mir her lief.

Er hat noch mehr abgenommen, dachte ich besorgt beim Betrachten der dürren Gestalt Bruder Theopolds, als mir blitzartig einfiel, dass die Zeit für eine Unterredung mit dem Prior recht ungewöhnlich war: Bruder Javier pflegte zur Tageszeit gewöhnlich seine Exerzitien zu machen. Schließlich erreichten wir die schwere Eichentür, die zu seinem Offizium führte, und mein Begleiter stürzte sich förmlich auf sie und klopfte so laut, wie es die Kraft seiner schwachen Arme erlaubte.

Ein gedämpftes »Herein!« erklang, und Theopold riss die Tür auf, als hätte er es kaum erwarten können, mich loszuwerden. Das überraschte mich, kannte ich ihn doch als gesprächigen und mitteilungsbedürftigen Menschen. Ich hätte gerne gefragt, was der Grund sei, aber der Umstand der sperrangelweit geöffneten Tür nahm mir bereits jede Möglichkeit eines Wortwechsels.

Ich nickte Theopold kurz zu und betrat das Zimmer.

Bruder Javier saß an seinem Tisch, und sein Blick musterte mich mit einem Ausdruck, den ich im ersten Augenblick kalter Neugier zuordnete. Ich hatte das Gefühl, als beobachte er ein merkwürdiges, bisher unbekanntes Insekt unter dem Lupenglas, von dem er sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse erhoffte.

Die Tür schloss sich mit einem dumpfen Geräusch hinter mir, und ich schritt zögernd auf den Tisch zu, an dem der Prior saß.

»Tritt ruhig näher, Bruder«, sagte er überflüssigerweise. Seine kleinen dunkelbraunen Augen musterten mich unruhig unter den dichten, störrisch wachsenden Augenbrauen.

Das Verhältnis zwischen uns war nie besonders herzlich gewesen, aber wir bemühten uns beide, soweit möglich, den Anschein der Geschäftsmäßigkeit zu wahren.

Ich erwiderte seinen Blick, ohne den Eindruck von Herausforderung oder Respektlosigkeit zu erwecken, mit echter Neugier.

»Es hat einen ganz bestimmten Grund, warum ich dich habe rufen lassen, Bruder Tomás«, fuhr Javier fort, und obwohl er bemüht war, seine Stimme zu bändigen, schallte ihr tiefer Klang unverhältnismäßig laut im spärlich ausgestatteten Raum. »Ich habe heute einen sonderbaren Brief aus Rom erhalten, in dem mich Bruder Claudio persönlich um Mithilfe ersucht.«

Ich beschloss, zunächst weiter zu schweigen, da ich noch immer nicht wusste, worauf er hinauswollte.

Der Prior sprach weiter, als hätte er meine Gedanken lesen können, und seine Stimme nahm einen besonders ernsten Ton an.

»Leider kann ich unserem General nicht persönlich helfen, weil mich die Pflichten dieses Konvents hier festhalten und außerdem«, er räusperte sich zum ersten Mal seit Beginn dieser Unterredung und tat somit seine Verlegenheit kund, »ja, und außerdem bin ich kein ausgewiesener Fachmann auf diesem Gebiet.«

Ich wollte fragen, um was es sich eigentlich handelte, als er mir mit einer kurzen Geste zu schweigen gebot.

»Es geht um einige merkwürdige Vorfälle, die sich in Rom ereignet haben, deren Untersuchung offenbar Hilfe von außen erfordert. Das ist der Grund, warum ich dich zu mir gebeten habe, Bruder.«

»Ich fühle mich besonders geehrt, unserer Gesellschaft und somit Jesu Christo zu dienen, aber um meinen Auftrag, wie immer geartet, zu erfüllen, müsste ich wissen, worum es geht«, entgegnete ich geduldig und versuchte den Tonfall meiner Stimme demütig zu halten.

Zu meinem großen, kaum zu verbergenden Erstaunen wurde Bruder Javier auf einmal sichtlich verlegen. In den zehn Jahren, seitdem ich ihn kannte, war es das erste Mal, dass ich ihn in einer derartigen Lage erlebte. Es war keine Spur von der mürrischen Autorität, der unbeugsamen Willensstärke und der grimmigen Entschlossenheit zu erkennen, die offenkundig so bezeichnend für seinen Charakter waren. Ich hatte auf einmal das unangenehme Gefühl, vor einem völlig anderen, verunsicherten und zweifelnden Menschen zu stehen. Und das Peinlichste daran war, dass Javier es selbst so empfand, denn er versuchte vergebens, seiner Stimme die alte Schneidigkeit wieder zu verleihen, indem er sagte:

»Du bist doch unser Fachmann für Geheimwissenschaften, nicht wahr? Außerdem sprichst du Italienisch nebst einigen anderen Sprachen …«, und er fuhr, ohne auf meine Antwort zu warten, fort, als wollte er diese unangenehme Unterhaltung so bald wie möglich hinter sich bringen: »Es geht darum, dass in Rom irgendetwas geschehen ist, worüber uns der Brief nicht näher Auskunft gibt, was aber die Anwesenheit eines Fachkundigen in Sachen Okkultismus erforderlich macht.«

Allmählich wich seine Unsicherheit einer wachsenden Verärgerung, ahnte er gewiss, dass ich weitere Fragen dazu stellen würde, die er mir höchstwahrscheinlich nicht beantworten könnte.

»Ich weiß nicht, um was es genau geht, Bruder, aber es dürfte dir hoffentlich klar sein, dass eine Bitte unseres Generals eigentlich ein Befehl ist, den man nicht in Frage stellt. Ich selbst kann über die Hintergründe dieses Schreibens nur spekulieren. Vielleicht hat es etwas mit diesem Ketzer aus Wittenberg zu tun, denn wir wissen alle, dass seine gottlosen Jünger zu allem fähig sind. Oder aber es ist etwas ganz anderes«, seufzte er erschöpft. »Ich weiß es nicht.«

»Und wann soll ich aufbrechen?«, fragte ich knapp, denn ich wusste, dass jede weitere Diskussion überflüssig und fruchtlos sein würde.

»So bald wie möglich«, erwiderte Javier, und sein Gesicht hellte sich merklich auf. »Ich werde sogleich eine Nachricht an unseren General verfassen und ihm mitteilen, dass du dich mit dem ersten Schiff, das du im Hafen von Valencia erreichst, auf den Weg machen wirst.«

Ich nickte, rührte mich aber nicht von der Stelle.

Statt weiter fortzufahren, sah mich Bruder Javier nur fragend an.

»Ist es erforderlich, dass ich etwas auf die Reise mitnehme?«, erkundigte ich mich.

Der Prior lächelte erleichtert, und ich rätselte, welche Frage er eigentlich erwartet hatte.

»Nur das Wissen, das du in deinem Kopfe trägst, Bruder, nur dein Wissen. Lass uns nun gemeinsam beten.«

Er stand auf, und seine massige Gestalt überragte mich um mehr als einen Kopf. Zielstrebig ging er auf den kleinen Altar zu, über dem das geschnitzte Abbild unseres Herrn Jesus Christus thronte. Ich folgte ihm schweigend. Wir knieten schließlich beide nieder und fingen an, leise zu beten.

Später, in der Abgeschiedenheit meiner Zelle, ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Allerlei Fragen drängten sich in meinem Kopf, und auf keine einzige von ihnen hatte ich eine Antwort. Ich gestehe aber ohne jedwede Eitelkeit, dass mich diese neue Lage mit Freude und Stolz erfüllte, ward mir doch die Gunst gewährt, mich als wahren Diener Jesu Christi zu erweisen und Ihm etwas von der unendlichen Liebe, die er uns Menschen geschenkt hat, zurückzugeben. Ich ahnte damals nicht, welch schwere Prüfung unser Herr mir auferlegen und in welche Abgründe meiner Seele er mich führen würde.

In dem Augenblick aber, alleine mit dem Herrn und mit meinen Gedanken, fühlte ich mich leicht und unbesiegbar, und die unbekannten Aufgaben, die mich erwarteten, ließen die kurze Zeit, die ich noch in unserem Konvent zu verbringen hatte, wie im Fluge verstreichen.

Gerade noch rechtzeitig vor meiner Abreise war es mir gelungen, die Übersetzung eines wenig bekannten Textes aus dem Hebräischen ins Lateinische zu vollenden, und ich dankte Gott, dass er mir die Kraft dazu verliehen hatte.

 

Am Morgen des 17. Januar machte ich mich nach der Frühmesse auf den Weg ins Tal, nach Valencia.

Noch bis zum heutigen Tage habe ich das klare Bild meiner Brüder vor Augen, wie sie mir aus dem Fenster zum Abschied zuwinkten. Als wäre es erst gestern gewesen, erinnere ich mich, wie die Umrisse unseres Klosters in immer weitere Ferne rückten. Wiederholt drehte ich mich um und betrachtete das Gebäude, in dem ich den größten Teil meines Lebens zugebracht hatte, mit einer gewissen Wehmut, als hätte ich geahnt, dass diese Reise mein ganzes Leben von Grund auf ändern würde.

Obgleich es an dem Morgen zum ersten Mal seit vielen Wochen nicht geregnet hatte, ermahnte mich der bösartige, kalte Wind, dass der Winter, der sich in diesem Jahr als besonders hart erwiesen hatte, noch lange nicht vorüber war.

Die verschlammte, steile Straße war stumme Zeugin der endlosen Regenfälle, die unsere Gegend dieses Jahr heimgesucht hatten, und ein Ende war noch immer nicht in Sicht. Unser armes, geschundenes Land wurde seit langem auf eine harte Probe gestellt, denn seit dem Tode des gütigen Königs Philipp vor nunmehr fünf Jahren konnte sich Spanien aus dem Elend nicht befreien.

Während ich mir mühevoll den Weg durch den glitschigen Schlamm bahnte, stieß ich auf ausgestorbene Dörfer, die mich mit ihren vernagelten Fenstern und Türen an das jüngste Unglück erinnerten, welches dieses Land heimgesucht hatte: Die Pest hatte kurz nach dem Tod unseres geliebten Königs Einzug in Spanien gehalten, und sie hatte vier lange Jahre ununterbrochen gewütet. Alles, was sie zurückließ, bekam ich ungeschützt von der Abgeschiedenheit der Klostermauern zu sehen und zu riechen, denn hinter den vernagelten Türen und Fenstern faulten zumeist die Leichen der Eingeschlossenen, häufig unschuldige Opfer der Angst, die diese unheimliche Seuche verbreitete. Zuweilen genügte nur ein leiser Verdacht der Ansteckung, um die Unglückseligen in ihren Häusern lebendig begraben zu lassen, Männer wie Frauen, Alte wie Kinder. Und wehe jenen, die versuchten, aus ihrem Grab auszubrechen; denn sie wurden von den übrigen Bewohnern auf der Stelle erschlagen.

Mein Weg führte mich durch diese von Gott bestraften Dörfer, und ich konnte dem Wind und der kalten Witterung zum Trotz den süßlichen, durchdringenden Geruch der Zersetzung nicht loswerden. Ich vermochte die Leichen der Pestopfer nicht zu sehen, aber sie hatten mich entdeckt und waren fest entschlossen, mich mit ihrem hartnäckigen Gestank zu verfolgen, nur um mich daran zu erinnern, dass ich eines Tages selbst an der Reihe sein werde.

In bedrückter Stimmung setzte ich meinen Weg fort; die anfängliche Freude an der unbekannten Aufgabe war dem Entsetzen über die Wirklichkeit gewichen. Leise und in mich gekehrt betete ich für die Seelen der Verstorbenen, während ich mich durch den Schlamm der Straße mühte. Verlassene, verwüstete Landschaften traten vor meinen entsetzten Blick, und ich hatte das Gefühl, als würde der bleierne, tief hängende Himmel mich jeden Augenblick zerquetschen.

Noch vor Einbruch der Nacht erreichte ich schließlich ein Dorf, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere, in welchem ich aber zum ersten Mal seit Beginn meiner Reise einem menschlichen Wesen begegnete. Während die Dunkelheit bereits im Begriff war, das letzte Tageslicht zu verjagen, schickte ich mich an, ein Dach über meinem Kopf zu finden, als ich unversehens ein größeres Haus erspähte. Es lag etwas abseits, zum Ende des Dorfes hin, und nahm sich im Gegensatz zu den anderen wenigen Gebäuden der Siedlung einigermaßen gepflegt aus.

Ich richtete meine Schritte dorthin und dachte keinen Augenblick daran, ob es bewohnt wäre, denn an wüste, vereinsamte Landstriche hatte ich mich bereits gewöhnt und erwartete keinerlei Lebenszeichen. Ich hoffte nur inständig, eine Möglichkeit zu finden hineinzukommen, denn eine Übernachtung im Freien war das Letzte, was mir in jenem Augenblick zuträglich war.

Aufmerksam schlich ich um das Gebäude, in der Hoffnung, einen Eingang zu finden, da auch hier alle Fenster und Eingänge mit Brettern vernagelt waren. Plötzlich entdeckte ich eine kleine, schmale Tür. Sie befand sich an der Querseite des Hauses und war wie die Wand, in der sie eingebaut war, ursprünglich weiß getüncht. Der harte, feuchte Winter und der Zahn der Zeit hatten jedoch die Farbe im Licht des untergehenden Tages in ein schmutziges Grau verwandelt, so dass sich die Tür von der übrigen Wand farblich nicht mehr unterschied.

Es muss wohl der Kellereingang sein, dachte ich und versuchte, sie vorsichtig zu öffnen. Sie klemmte. Ratlos stand ich davor und überlegte, ob ich es erneut versuchen sollte, als ich plötzlich leise Geräusche dahinter zu hören glaubte. Ich legte das Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. Ein kaum wahrnehmbares kurzes Rascheln war alles, was ich vernahm.

Ratten, dachte ich, und schaute mich hastig nach einem kräftigen Stock um. Unterdessen war es beinahe dunkel geworden, und ich beeilte mich damit, solange ich noch etwas sehen konnte. Glücklicherweise entdeckte ich unweit der Mauer einen vom Wind abgebrochenen kräftigen Ast und ergriff ihn sogleich.

Ich stemmte mich erneut mit aller Macht gegen die Tür, die auf einmal ohne allzu großen Widerstand aufsprang. Dabei verlor ich augenblicklich das Gleichgewicht und fiel seitlich in die Dunkelheit hinein.

Während meine Arme unbeholfen nach Halt suchten, drang mir ein feuchter, leicht modriger, aber keineswegs fauliger Geruch in die Nase. Gerade in dem Augenblick, als ich darüber stutzte, schlug ich mit aller Wucht auf der weichen, feuchten Erde auf. Erschrocken versuchte ich mich schnell wieder aufzurichten, verfing mich aber in dem weiten Stoff meiner Kutte und landete aufs Neue auf dem Boden. Als ich es endlich schaffte aufzustehen, rief ich mit zitternder und rauer Kehle in die Dunkelheit hinein:

»Ist da jemand?«

Die Antwort war ein erneutes Rascheln, diesmal ganz in meiner Nähe. Ich hob den Stock, um zuzuschlagen, als plötzlich eine leise, schwache Frauenstimme erklang:

»Hab Erbarmen, Fremder, verschone uns!«

Ich atmete erleichtert auf, ließ den Stock sinken und fing an, in meinem kleinen Lederbeutel nach dem Kerzenstummel zu suchen, den ich auf die Reise mitgenommen hatte. Nach einiger Mühe gelang es mir, ein paar Holzspäne und die Zündsteine aus meinem Beutel herauszuziehen und nach wenigen Versuchen damit den Kerzenstummel anzuzünden. Im schwachen, flackernden Licht entdeckte ich eine zusammengekauerte Frauengestalt mit zerzausten Haaren, die ein Neugeborenes fest umklammert hielt. Als sie mich sah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen.

»Bitte, bitte, tu mir nichts!«, flehte sie mit verzweifelt schwacher Stimme.

»Ich bin Priester, mein Kind. Ich will dir nur helfen«, sagte ich mit Nachdruck, während ich sie aufmerksam musterte. Sie mochte höchstens fünfzehn Jahre alt sein, und das Kind auf ihrem Arm schien nicht älter als einige Wochen.

Statt das arme Geschöpf zu beruhigen, hatten meine Worte jedoch die gegenteilige Wirkung.

»Bitte, bitte, lass mich in Frieden.«

Ich starrte sie verständnislos an.

»Ich will nichts von dir, ich möchte dir nur helfen«, wiederholte ich meine Worte.

»Ich war auf der Suche nach einem Nachtlager, als ich diese Tür entdeckte. Ich bin nur auf der Durchreise nach Valencia …«

Ihre Züge wurden eine Spur weicher, aber die Spannung in der Luft war noch immer dermaßen hoch, dass ich zunächst nicht merkte, wie mir das heiße Wachs auf die Finger tropfte.

»Vor wem hast du Angst?«, fragte ich verwirrt.

Sie räusperte sich verlegen und musterte mich erneut.

»Heißt das, du gehörst nicht zu ihnen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»Zu wem denn, mein Kind? Sag mir endlich vor wem du Angst hast«, drängte ich und merkte, wie die Ungeduld in mir wuchs.

Sie antwortete so leise, dass ich nichts verstand.

»Sprich lauter!«, bat ich mit Nachdruck.

»Vor den Mönchen!«

»Wie, vor den Mönchen?«, fragte ich ungläubig. »Du bist krank, Mädchen. Hast du etwa das Fieber?«, erkundigte ich mich vorsichtig, denn das Wort Pest wollte ich zunächst nicht in den Mund nehmen.

»Nein, Pater, ich habe kein Fieber!«, beteuerte sie, und ihre Stimme klang fester.

»Willst du mir vielleicht erzählen, dass dir die Mönche Angst einjagen?«, fragte ich und spürte, wie mein Misstrauen immer stärker wurde.

An Stelle einer Antwort fing sie an, heftig zu nicken.

»Und was soll es sein, was sie von dir gewollt haben, weshalb hast du solche Angst vor ihnen?« Mein strenger Blick ließ sie heftig zusammenzucken. Da sie weiter schwieg, beschloss ich, behutsam nachzuhaken.

»Was wollen die Mönche von dir?«, erkundigte ich mich wieder, diesmal in sanfterem Ton, da ich fühlte, dass Strenge hier nicht die Wahrheit ans Licht bringen würde.

»Ich schwör’s beim Leben meines Sohnes, so wahr mir Gott helfe!«, rief sie voller Inbrunst.

»Was schwörst du, Kind?«, wollte ich wissen und näherte mich vorsichtig ihrer zusammengekauerten Gestalt. Sie zuckte abermals zusammen, die ursprüngliche Angst schien aber von ihr gewichen zu sein.

»Sie kommen jede Nacht … jedes Mal ein anderer …«

Ich sah sie fragend an.

»Und sie vergewaltigen mich«, stieß sie mit erschöpftem Atem hervor.

Ich blieb ungläubig stehen und wollte meinen Ohren nicht trauen, als sie, befreit von der Last des Schweigens, in einen wahren Wortschwall ausbrach.

»Sie kommen seit Wochen, jede Nacht ein anderer, ohne Ausnahme, auch als ich mein Kind gebar, ohne Ausnahme und vergewaltigen mich. Sie drohen mir, das Kind wegzunehmen, wenn ich mich verweigere oder wenn ich versuchen sollte wegzulaufen. Sie bringen mir jedes Mal etwas zu essen mit, aber nur soviel, dass es bis zum nächsten Tag reicht, für mich und meinen Kleinen …« Dicke Tränen liefen an ihren eingefallenen Wangen hinunter, ihre Stimme versagte.

»Du bist krank, armes Kind«, sagte ich und legte die Hand auf ihre Stirn. »Lass mich mal sehen …«

Sie starrte mich mit leiderfüllten Augen an, ihr Blick verfolgte mich mit flehendem Ausdruck, so dass ich das Gefühl hatte, sie ersuche mich mit jeder Faser ihres Leibes, ihr Glauben zu schenken.

Mir war bekannt, dass kranke Menschen im Fieber bisweilen ganz seltsame, unerklärliche Verhaltensweisen aufzeigen und in ihrem Zustand über Einbildungskräfte verfügen, die sogar einen klar denkenden Gesunden überzeugen und gründlich irrezuführen vermögen.

Ich stieß ein stilles Gebet aus, der Herr möge sie und ihr Kind beschützen, als sich ihr Blick plötzlich fest auf einen Punkt hinter meiner rechten Schulter heftete. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen …

Einen Augenblick zu lange verstand ich nicht, was das bedeutete. Als ich es endlich begriff, schnellte ich blitzartig herum, aber es reichte nur für eine halbe Umdrehung. Ein jäher, heller Schmerz schoss in meine rechte Schulter. Ich taumelte, die Kerze fiel mir aus der Hand und erlosch. Es wurde stockfinster. Regungslos lag ich auf dem feuchten Boden, als ich einen schweren Atem in meiner Nähe wahrnahm. Ich hörte das junge Mädchen leise winseln und versuchte, den rechten Arm auszustrecken, um meinen Stock ausfindig zu machen, aber der Arm wollte mir nicht gehorchen. Fieberhaft tasteten die Finger meiner linken Hand die Erde in ihrer Reichweite ab. Plötzlich vernahm ich das Hauchen eines Gegenstandes durch die Luft. Ich rollte blitzschnell zur Seite. Ein dumpfer Schlag prallte unweit meines Kopfes nieder und kleine, feuchte Stückchen Erde spritzten mir ins Gesicht.

Unverhofft bekamen meine Finger den Stock zu fassen, und ich schwang ihn, ohne zu zögern, mit aller Kraft in einer halbkreisförmigen Bewegung in Richtung meines Widersachers. Ein lauter Aufschrei bedeutete mir, dass ich getroffen hatte. Ich setzte nach, und mein Stock traf erneut. Nun schlug ich immer wieder zu, mit der ganzen Kraft meines unversehrten linken Armes, bis der Mann anfing, jämmerlich zu brüllen.

»Aufhören, bitte aufhören!«, bettelte er mit heiserer Stimme.

Ich ließ den Stock fallen und tastete hastig nach dem Kerzenstummel. Ich entdeckte ihn unweit der Stelle, an der ich hockte, und es gelang mir, ihn mit zitternder Hand anzuzünden.

Am Boden lag rücklings ein dicker, bärtiger Mönch und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den ausladenden Bauch. Ich kniete mich neben ihn und näherte mich seinem Gesicht.

 

»Wie heißt du?«

Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er merkte, dass ich ebenfalls Priester war.

»Ich, ich bin Bruder Pedro«, keuchte er. »Ich dachte du wärst einer dieser unseligen Räuber, die sich in fremden Häusern zu schaffen machen: Entschuldige, Bruder!«, sagte er in tiefem Ton.

»Ich bin Bruder Tomás von der Gesellschaft Jesu in Cuenca«, stellte ich mich vor. »Wo ist euer Kloster, Bruder Pedro?«, erkundigte ich mich höflich, während ich meine immer noch taube Schulter rieb.

Der dicke Mönch drehte sich schwerfällig auf die Seite und richtete sich röchelnd auf. Sein Gesicht erhellte sich bei dieser Frage.

»Nur etwa drei Meilen von hier«, erwiderte er eifrig.

»Was suchst du dann hier in diesem Haus?«, fragte ich und versuchte, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen.

Er starrte mich überrascht an.

»Ich wollte nach Pilar schauen«, antwortete er, und ich spürte, wie ein leichtes Zittern in seinen Worten mitschwang.

Ich nickte.

»Eines verstehe ich aber trotzdem nicht, Bruder Pedro.«

Da er keinen Laut von sich gab, fuhr ich unverdrossen fort.

»Warum hast du sie nicht in euer Kloster gebracht? Sie ist hier allein mit einem neugeborenen Kind und scheint sonst niemanden zu haben, der für sie sorgen kann.«

Der Mönch trat verlegen von einem Bein auf das andere.

»Das geht nicht«, bekundete er schließlich. »Wir können keine Frauen im Kloster aufnehmen.«

»Das sind keine gewöhnlichen Zeiten, Bruder Pedro. Die Pest hat ganze Gegenden verwüstet, und die Menschen, die sie überlebt haben, brauchen Hilfe, unsere Hilfe, Bruder. Der Herr hat diese Seuche auf uns niedergelassen, um unseren Glauben und unsere Standfestigkeit auf die Probe zu stellen. Das ist ein klares Gebot der christlichen Nächstenliebe, diesem armen Geschöpf und ihrem Kind zu helfen, nicht wahr, Bruder Pedro?«

Der dicke Mönch nickte eifrig.

»Ich habe ihr und ihrem Kind etwas zu essen mitgebracht«, sagte er stolz.

»Erwartest du etwa, dass ich dich dafür lobe?«, fragte ich erstaunt. »Wir sind Diener Gottes, um sein Werk zu vollbringen, und nicht um Lobpreisungen zu ernten. Warum habt ihr diesem armen Geschöpf nicht den Schutz eurer Mauern gewährt?«

»Ich, ich kann das nicht entscheiden. Es ist unser Prior …«

»Willst du mir etwa sagen, dass du über eine Tat der christlichen Nächstenliebe nicht selbst entscheiden kannst, Bruder? Bedeutet das, dass du dafür eine Genehmigung einholen musst? Habe ich das richtig verstanden?« Die Strenge in meiner Stimme ließ ihn erstarren. Er sagte nichts, stand nur da, mit offenem Mund, wie ein fetter Karpfen, den man soeben aus dem Teich gezogen hat.

»Ich glaube, ich werde mit eurem Prior reden müssen, Bruder Pedro. Ich möchte aus seinem eigenen Munde hören, ob dieses Verhalten im Sinne der Heiligen Mutter Kirche ist.« Ich warf meinem Gegenüber einen prüfenden Blick zu. »Der Zufall will es, dass ich mich auf dem Weg nach Valencia befinde, um von da in die Stadt des Heiligen Vaters weiterzureisen. Ich bin in Glaubenssachen nach Rom beordert worden, und es trifft sich gut, dass ich dort etwas über die Zustände, die in unserem Lande herrschen, berichten kann. Das wird mit Sicherheit auch das Heilige Offizium interessieren …«

Ich hielt kurz inne, um die Wirkung meiner Worte zu beobachten. Sogar im schwachen Licht der Kerze konnte man unschwer erkennen, wie die Gesichtszüge des Mannes sich plötzlich versteinerten, während das Blut aus seinem breiten, aufgedunsenen Gesicht wich.

»Bruder, ich …«

Ich hob energisch die Hand.

»Genug!«, unterbrach ich mit schneidender Stimme. »Ich habe beschlossen, da ihr es versäumt habt eurer christlichen Nächstenliebe nachzukommen, diese beiden Geschöpfe nach Valencia mitzunehmen und sie dort einem Nonnenkloster anzuvertrauen.«

Bruder Pedro wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor.

»Und nun, lass uns hinknien und um die Vergebung unserer Sünden beten«, sagte ich entschieden und ging in die Knie. Bruder Pedro tat es mir gleich, doch konnte ich aus dem Augenwinkel erkennen, wie er Pilar, die uns die ganze Zeit gebannt und erschrocken beobachtet hatte, einen langen Blick zuwarf.

Ich begann laut vorzubeten, während er mit seinem Gebet schwerfällig hinterher hinkte. Pedro schien kaum Kenntnisse der lateinischen Sprache zu haben, denn das, was er mir nachsprach, erinnerte eher an Kauderwelsch als an das Latein unserer Heiligen Mutter Kirche.

Nachdem wir das Gebet mühsam beendet hatten, richtete ich mich auf und sah Bruder Pedro fest in die Augen.

»Hast du mir etwas zu beichten, Bruder?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er, aber sein Blick wich dem meinigen aus.

»Dann möge Jesus Christus dir deine Sünden vergeben, Bruder Pedro«, schloss ich. »Wir werden uns morgen früh bei Sonnenaufgang auf den Weg machen. Geh jetzt, sonst macht sich euer Prior noch Sorgen.« Ich drehte ihm den Rücken zu und wandte mich an die junge Mutter, die ihren Kleinen noch immer fest umklammert hielt.

»Hier, etwas zu essen für dich! Nimm’s, denn morgen werden wir in aller Frühe aufbrechen«, sagte ich. Hinter mir stand Bruder Pedro und rührte sich nicht vom Fleck.

Ich sah ihn fragend an, ohne jedoch das Wort an ihn zu richten.

»Sie kann nicht gehen«, sagte er leise.

»Wie darf ich das verstehen?«, erwiderte ich mit gespieltem Erstaunen.

Doch statt einer Antwort stürzte sich der dicke Mönch mit ungeahnter Flinkheit auf mich. Obwohl ich auf einen Angriff vorbereitet war, überraschte mich seine Schnelligkeit so sehr, dass ich es nicht mehr schaffte ihm auszuweichen. Wir stürzten beide auf die weiche Erde des Kellerraumes, wobei er auf mir landete. Die Kerze ging wieder aus, und ich spürte, wie zwei eiserne Hände meinen Hals zuschnürten. Ich versuchte in der Finsternis sein Gesicht mit Gewalt wegzudrücken, um mich aus dem tödlichen Griff zu befreien. Er presste meinen Hals mit der ganzen Wucht seines mächtigen Leibes nach unten, um mir die Luftröhre zu brechen. Ich ließ in meiner Verzweiflung los und tastete mit beiden Händen nach dem Stock. Im allerletzten Moment erwischte ich ihn mit der linken Hand und schwang den bewaffneten Arm mit aller Kraft in die Richtung, in der ich seinen Kopf vermutete. Ein trockener Schlag ertönte, als Bestätigung dafür, dass ich getroffen hatte. Der Würgegriff um meine Kehle wurde merklich schwächer. Ich setzte beherzt nach, und diesmal folgte ein heller Schmerzensschrei, während die eisernen Hände mich auf einmal losließen.

Ich wand mich mit der Geschmeidigkeit einer fliehenden Schlange aus meiner unterlegenen Stellung und kam blitzschnell auf die Beine. Es ging um Leben oder Tod, und das wussten wir beide. Ich trat drei schnelle Schritte zurück, erhob den Stock mit beiden Händen und ließ ihn mit meiner ganzen Kraft niedersausen.

Ein entsetzliches Krachen, gefolgt von einem dumpfen Aufprall, ließ mich wissen, dass ich getroffen hatte. Einen Augenblick blieb ich wie angewurzelt stehen, den Stock zum erneuten Schlag bereit, doch nichts geschah. Misstrauisch kniete ich mich hin und legte den Stock in Reichweite ab. Mit zitternden Händen suchte ich nach dem Kerzenstummel, der mir aus der Hand gefallen war. Endlich stießen meine Finger auf den kleinen Klumpen; diesmal hatte ich noch größere Mühe ihn anzuzünden, da meine Hände fast unbeherrschbar zitterten. Als es mir endlich gelang, atmete ich erleichtert auf.

Vor mir auf dem Bauch lag die regungslose Gestalt von Bruder Pedro, den Kopf seitlich zu mir geneigt, die halb geöffneten Augen starr in die Ferne gerichtet. Ich näherte mich vorsichtig, und als er noch immer kein Lebenszeichen von sich gab, kniete ich neben ihm nieder. Ich hielt die Kerze ganz dicht an seinen Kopf und entdeckte mit tiefem Entsetzen, wie ein dünnes Rinnsal aus seinem rechten Ohr lief.

Mein Schlag hatte ihn besser getroffen, als ich je in meinen schlimmsten Albträumen erwartet hätte. Bruder Pedro war tot, und keine Macht der Welt konnte ihn wieder zum Leben erwecken. Mit einem einzigen Schlag hatte ich ihm den Schädel zertrümmert. Für einen kurzen Augenblick wurde mir schwarz vor den Augen, und ich dachte, ich müsse ohnmächtig umfallen, aber nichts dergleichen trat ein. Ich riss die Arme hoch und fing an leidenschaftlich zu beten dieser entsetzliche Albtraum möge augenblicklich enden. Als ich aber die Arme fallen ließ, lag der mächtige Leichnam noch immer da.