Schwarze Präsenz

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Schwarze Präsenz

Lena Obscuritas

Fantasy-Roman

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Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze,

Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder

Ereignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.de Erste Auflage 2021 © Text: Lena Obscuritas © net-Verlag, 09125 Chemnitz © Coverbild: Yekaterina S auf Pixabay Covergestaltung, Lektorat und Layout: net-Verlag printed in the EU ISBN 978-3-95720-311-3 eISBN 978-3-95720-312-0

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Über die Autorin

Schwarze Präsenz

1. Kapitel
Der Traum vom Sterben
1.

Die Sonne ging auf, während der Engel seine schneeweißen Schwingen ausbreitete. Das Sonnenlicht fiel auf sie herab und ließ die Federn leuchten wie Diamanten. Er trug eine lange Robe; die blauen Augen waren voller Schmerz. Sein braunes Haar hing ihm wirr im Gesicht; kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er war blass, sein Atem nur ein unregelmäßiges Luftschnappen.

Der Engel stand auf dem Dach einer Kirche, ob am Rande eines Dorfes oder einer Stadt, konnte er durch den Schleier seiner Qual nicht erkennen.

Vollkommen erschöpft lehnte er sich an das Kreuz, das sich hinter ihm erhob. Schmerz durchzuckte ihn. Er verzog das Gesicht und krümmte sich. Sein Atem wurde schneller, ein Schrei drang über seine Lippen. Der Schmerz und die Verzweiflung hallten in seinem eigenen Kopf wider.

Währenddessen stieg die Sonne immer höher, beobachtete den Engel in seinem einsamen Kampf.

Langsam begann er, von innen heraus zu leuchten. Was zuerst nur ein schwacher Schein gewesen war, wurde heller und gleißender, je höher die Sonne stieg. Und das Licht schien ihm große Schmerzen zu bereiten. Je heller das Leuchten wurde, desto gequälter wurden seine Atemzüge. Blut floss aus seinen Augen wie eine groteske Art von Tränen.

Dann, als die Sonne im Zenit stand, ging der Engel in Flammen auf und verbrannte unter qualvollen Schreien.

Daniel fuhr mit rasendem Herzen aus seinem Schlaf hoch. Er atmete schwer, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Sein Keuchen zerschnitt die Stille und klang wie das verzweifelte Luftschnappen des Engels. Die Dunkelheit drückte schwer auf Daniels Augen, und die Schatten in seinem Zimmer verschwammen zu einer wabernden Masse.

Er machte schnell seine Nachttischlampe an, um die Schatten zu vertreiben. Dann ließ er sich zurück in sein Kissen fallen und fuhr entnervt durch sein braunes Haar.

Sein Zimmer wurde nun in warmes Licht getaucht. Auf seinem Schreibtisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand, zeigte ihm sein Wecker an, dass es drei Uhr morgens war.

Daniels Blick wanderte weiter, zu dem Sessel neben seinem Schreibtisch. Danach kamen nur noch ein Schrank, am Fußende seines Bettes, und ein, zugegebenermaßen recht kleines, Bücherregal. Damit war sein Zimmer voll. Obwohl es in hellen Farben gehalten war, konnte es die Gedanken an seinen Traum nicht vertreiben.

Daniel zog sein Kissen unter dem Kopf hervor und legte es sich quer über sein Gesicht. Am liebsten hätte er laut geschrien. Dieser Traum verfolgte ihn jetzt schon seit Monaten, und es war jede Nacht derselbe.

Viel zu oft hatte Daniel Angst davor einzuschlafen. Er wollte nicht jede Nacht das Schicksal des Engels miterleben, wie er erst Höllenqualen litt und dann starb. Der Engel, der sein Gesicht trug.

Daniels Wecker riss ihn unsanft aus dem Schlaf. Er konnte nicht genau sagen, wann er schließlich wieder eingeschlafen war, aber seine Nerven waren immer noch zum Zerreißen gespannt. Passend zu seiner Stimmung zog er sich vollkommen schwarz an.

In der Küche setzte er sich an den Tisch und sah schlecht gelaunt aus dem Fenster. Seine Eltern waren schon zur Arbeit gefahren; Geschwister hatte er keine, also hing Daniel allein seinen Gedanken nach.

Am liebsten wäre er einfach nicht in die Schule gegangen, aber es war wohl eine fadenscheinige Ausrede, zu Hause zu bleiben, weil man schlecht geträumt hatte. Sein Körper schien da allerdings anderer Meinung zu sein. Jede Bewegung strengte ihn an, ließ seine Atmung schneller werden und sein Herz rasen.

Daniel wartete nur darauf, dass das Feuer in sein reales Leben überging und ihn und alles um ihn herum verschlang. Seufzend nahm er seine Schultasche und verließ das Haus.

Es hatte geregnet; die Straße glänzte noch feucht, die Morgenluft roch frisch. Dass es schon mitten im Frühling war, machte Daniel nervös, schließlich war in seinem Traum Sommer gewesen. Er konnte nicht erklären, woher diese Nervosität kam, aber sie war da; eine dunkle Welle, die nur darauf wartete, über ihm zusammenzubrechen.

Seit er diesen Traum hatte, bekam er immer wieder Panikattacken. Sie kamen vollkommen unerwartet, mit einer Intensität, die ihn jedes Mal erschreckte.

Auch jetzt spürte er eine aufkeimende Angst in sich. Schatten schienen nach ihm greifen zu wollen, während ihm war, als würde ihn jedes Gesicht misstrauisch ansehen.

Daniel versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, doch es war hoffnungslos. Sie verfolgten ihn mit der gleichen Hartnäckigkeit wie sein Traum.

Bereits völlig erschöpft, traf er auf seinen besten Freund Raphael, der immer zwei Straßen vor der Schule entfernt auf ihn wartete. Manchmal fragte Daniel sich, wieso Raphael sich ausgerechnet ihm angeschlossen hatte.

Raphael war ein außergewöhnlicher Mensch, neben dem er sich manchmal unauffällig und fast schon unbedeutend fühlte. Er hatte dunkle, verstrubbelte Haare und erstaunlich grüne Augen, die er sich immer mit schwarzem Kajal nachzeichnete. Auch seine Kleidung war schwarz; Daniel hatte ihn noch nie in einer anderen Farbe gesehen.

»Hey«, sagte Raphael, als Daniel ihn erreicht hatte.

»Hey«, erwiderte Daniel. Dann gingen die beiden gemeinsam weiter.

»Du siehst aus, als hätte man dich gerade erst ausgegraben«, sagte Raphael unverblümt, nachdem er seinen Freund eine Weile gemustert hatte.

»Wie charmant«, sagte Daniel und lächelte schwach, »aber so fühle ich mich auch.«

Raphael sah ihn nur nachdenklich an. Einerseits mochte Daniel diese Verschwiegenheit an ihm, andererseits war in Raphaels Augen manchmal eine Starre, die Daniel Angst machte. Er war dann unerreichbar für jeden, bis sich der Schleier vor seinen Augen wieder lichtete.

Viele seiner Freunde konnten nicht verstehen, wieso Raphael Daniel so viel bedeutete, aber bei ihm fühlte er sich so verstanden und … sicher.

»Du hattest wieder diesen Albtraum, nicht wahr?«, durchbrach Raphael schließlich die Stille.

Daniel ließ mit einem Seufzer die Luft aus seinen Lungen entweichen, dann nickte er und stellte Raphael die Frage, die ihn schon so lange beschäftigte: »Glaubst du, der Traum bedeutet etwas?«

Raphael zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommst du darauf?«

»Ich träume ihn jede Nacht; es ist immer die gleiche Handlung«, sagte Daniel. »Was ist, wenn es bedeutet, dass ich bald sterben werde?«

Raphael dachte kurz nach. »Das ergibt keinen Sinn«, meinte er dann.

»Und wieso nicht?«, fragte Daniel.

»Du hast erzählt, in deinem Traum bist du ein Engel, also bist du bereits tot. Du müsstest erst sterben, damit der Traum sich bewahrheitet«, erklärte Raphael.

»Wow«, erwiderte Daniel, »das beruhigt mich jetzt kein bisschen.«

Raphael legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon wieder«, versicherte er.

 

Als sie dann gemeinsam den Klassenraum betraten, hatte Daniel den überwältigenden Drang, schreiend wieder nach draußen zu rennen. Raphaels Seitenblick nach zu urteilen, sah man ihm das auch an.

Der Schultag zog sich endlos hin. Daniel fühlte sich zerschlagen, erschöpft und konnte sich kaum konzentrieren. Erst, als Raphael ihm erzählte, wie er einmal über seine Katze gestolpert war und dabei ein Buch über die Balkonbrüstung geworfen hatte, musste Daniel lachen. Es passte nicht so ganz zu Raphaels Ruf an der Schule.

Als es endlich zur Pause klingelte, ging Daniel mit seinen Freunden auf den Schulhof, während Raphael wie immer verschwand. Allerdings wusste Daniel nicht genau, wohin sich Raphael zurückzog.

Mit halbem Ohr hörte er den Gesprächen seiner Freunde zu, hatte aber kein Interesse daran, sich an ihnen zu beteiligen. Schule, Hobbys, Freundinnen …, das alles kam ihm so unwichtig und klein vor.

»Leute«, sagte er und unterbrach damit die Planung von Chris’ Party, seinem Freund seit Kindertagen. »Ich geh mal Raphael suchen.«

Alex, der neben Chris stand, rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf.

Chris sah Daniel dagegen enttäuscht an. »Aber am Wochenende kommst du auf jeden Fall, oder?«, fragte er.

»Klar«, antwortete Daniel und versuchte zu lächeln, was ihm gründlich misslang.

»Versprochen?«, wollte Chris wissen.

»Versprochen«, bestätigte Daniel.

Sie schlugen kurz ihre Fäuste aneinander, dann drehte Daniel sich um und ging in Richtung Schulhaus. Kurz genoss er die Stille, als er die Aula betrat. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Dann suchte er nach Raphael.

Daniel fand seinen Freund schließlich auf der Tribüne der Turnhalle, wo er in ein Buch vergraben dasaß. Während Raphael vollkommen in sein Buch eingetaucht schien, blieb Daniel stehen, unsicher, ob er nicht störte.

»Na, hast du keine Lust mehr auf tiefgründige Gespräche gehabt?«, fragte Raphael da, ohne von seinem Buch aufzusehen oder den Sarkasmus in seiner Stimme zu verbergen.

Daniel überwand die letzten Schritte, während Raphael sein Buch schloss, und setzte sich neben ihn. »Ich hatte schon Lust auf Gespräche«, sagte Daniel, »allerdings auf Gespräche mit dir.«

»Worüber möchtest du denn reden?«, wollte Raphael wissen.

Daniel zuckte nur mit den Schultern.

Raphael lehnte sich zurück und schwieg. Auch Daniel sagte nichts, denn er fand die Stille zu schön, als dass er sie stören wollte. So saßen sie nebeneinander, bis es zum Ende der Pause läutete. Gemeinsam standen sie auf und gingen in ihr Klassenzimmer.

»Es macht Spaß, sich mit dir zu unterhalten«, scherzte Daniel und grinste Raphael an.

Raphaels Lippen umspielte nur ein leichtes Lächeln, als wäre er zu mehr zu schüchtern.

»Das ist das Geheimnis: Wahre Freundschaft braucht nicht viele Worte«, sagte er dann.

Sie setzten sich auf ihre Plätze. Daniel bemerkte, wie sich ein stechender Schmerz in seiner Schläfe festsetzte. Erst dachte er, dass es nur an dem schlechten Wetter lag, aber am Ende des Schultags war der stechende einem pulsierenden Schmerz gewichen.

Am liebsten hätte er sich einfach vor der Welt verkrochen, doch wenn er alleine war, wurde die Angst vor seinem Traum schlimmer.

»Sollen wir noch irgendwo hingehen?«, fragte Raphael, als sie das Schulhaus endlich verließen.

»Wohin denn?«, fragte Daniel.

»Ich kenne ein kleines Café, hier um die Ecke«, sagte Raphael.

Daniel antwortete nicht. Plötzlich tat ihm jeder Knochen im Leib weh, und ein wahnsinniger Hass war in seinem Herzen erwacht. Er wusste genau, dass er kurz vor einer Panikattacke stand und eigentlich hatte er keine große Lust, sie auf offener Straße zu bekommen.

»Wenn es dir lieber ist, kann ich dich auch nur nach Hause begleiten«, fügte Raphael hinzu und sah ihn an.

Daniel schüttelte den Kopf, was seinen Kopfschmerzen nicht gerade gut bekam. »Ich würde gerne noch einen Kaffee trinken.«

»Trotz deiner Kopfschmerzen?«, fragte Raphael nach.

Daniel sah ihn überrascht an. »Woher weißt du das?«

»Man sieht es dir an«, antwortete Raphael schlicht.

Da klingelte sein Handy. Daniel konnte nicht hören, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, er musste sich mit Raphaels Antworten begnügen.

»Nein, auf keinen Fall«, sagte er gerade. »Ich will nicht, dass …«

Er wurde unterbrochen. Daniel lief einfach weiter stumm neben seinem Freund her.

»Das ist mir egal, ich will ihn nicht in Gefahr bringen.«

Daniel bekam langsam das unangenehme Gefühl, dass sich das Gespräch um ihn drehte.

Raphael legte die Stirn in Falten. »Und Wyn ist sich sicher?«, fragte er, bevor er geschlagen seufzte. »Na schön, bis später.«

Er legte auf und sah Daniel an. »Hast du heute Abend schon etwas vor?«

»Nein«, erwiderte Daniel und fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt, »aber es klingt, als hätte ich es gleich.«

Raphael lachte leise. »Ein paar Freunde von mir wollten heute ein Lagerfeuer veranstalten. Möchtest du mitkommen?«

Daniel zögerte. Er kannte niemanden von Raphaels Freunden.

»Sie sind fantastisch, glaub mir«, sagte Raphael und schubste ihn in eine Seitenstraße. »Zu dem Café geht es da lang.«

2.

Im Zentrum der Stadt, in einer ganz normalen Mietswohnung, klappte Ranva ihr silbernes Handy zusammen und legte es neben sich auf die Kommode. Sie strich sich ihr langes, tintenschwarzes Haar aus dem Gesicht und wandte sich an die Personen in ihrem Rücken.

In dem in dunklen Farben gehaltenen Wohnzimmer befanden sich noch vier weitere Menschen. Auf dem schwarzen Ledersofa saß ein Junge mit längeren schwarzen Haaren und eiskalten blauen Augen, ein Mädchen mit dunkelroten, schulterlangen Haaren neben sich. Beide sahen Ranva erwartungsvoll an.

Neben dem Sofa befanden sich zu beiden Seiten mokkabraune Sessel. In dem links von Ranva saß ein schwarzhaariger Junge, der helle, wölfische Augen hatte. Er ließ sein rechtes Bein lässig über eine Armlehne baumeln.

In dem anderen Sessel lümmelte ein Junge mit schwarz-blauen Haaren, die ihm fransig ins Gesicht fielen. Die schwarzen Augen musterten Ranva neugierig.

Sie hielt dem Blick stand; ihre Augen waren hellgrau, so hell, dass sie in bestimmtem Licht weiß wirkten.

»Wir lernen heute Raphaels kleinen Träumer kennen«, verkündete Ranva schließlich.

»Ob Raphael wirklich dachte, dass er ihn aus der ganzen Sache heraushalten kann?«, fragte Gabriel vom linken Sessel.

»Offenbar«, antwortete der Junge mit den schwarz-blauen Haaren namens Wyn. »Nur brauchen wir den Träumer, ohne ihn können wir diese ganze Sache wohl nicht verstehen.«

Ranva lehnte sich an die Kommode und verschränkte die Arme. Sie dachte über diesen Daniel nach. Etwas an dieser Sache gefiel ihr nicht, kam ihr falsch vor, wie eine schiefe Note in einem Klavierstück. Während sie nachdachte, ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen. In ihrer Wohnung wirkte alles nur auf den ersten Blick normal. Untersuchte man die Bücherregale, die sich an jeder freien Wand hochzogen, fand man nur Bücher über Magie, Runen und Dämonen. An der Wand links von Ranva befand sich eine Glasvitrine, in der zwei Bücher ausgestellt waren, eine christliche Bibel, alt, mit vergoldeten Seiten und Ledereinband, sowie eine satanische Bibel, in schwarz gehüllt, ohne jeglichen Prunk.

Die Fensterreihe im Rücken des Ledersofas wurde durch luftige, hellgraue Vorhänge verdeckt, und vor jedem der drei Fenster war ein kleiner Wasserspeier angebracht. Auf dem kleinen Kaffeetisch vor dem Sofa stapelten sich Bücher über Traumdeutung, das Unterbewusstsein und Engel.

»Was ist los, Ranva?«, fragte Gabriel. »Worüber denkst du nach?«

Ranva schüttelte den Kopf. »Irgendetwas gefällt mir an der ganzen Sache nicht.«

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte das andere Mädchen. »Ich habe noch nie von einem Fall wie diesem gehört.«

»Nur, weil wir etwas nicht kennen, muss es nicht falsch sein, Farah«, meinte der Junge, der neben ihr saß.

Farah verdrehte die Augen. »Du weißt genau, dass ich das so nicht gemeint habe, Leander.«

Normalerweise brachten die Diskussionen zwischen den beiden Ranva zum Lächeln, denn sie benahmen sich wie ein altes Ehepaar, obwohl sie nicht zusammen waren.

Sie und Raphael dagegen waren schon lange ein Paar, schliefen Hand in Hand ein und wachten Hand in Hand auf. Ranva hatte früher nie an die einzig wahre Liebe geglaubt, doch dann hatte sie Raphael kennengelernt.

»Also, was sollen wir jetzt tun?«, fragte Ranva in die Runde.

»Ich denke, wir sehen uns Daniel erst einmal an«, antwortete Wyn. »Vielleicht überrascht er uns ja.«

Gabriel stand auf und streckte sich. »Kommt, bereiten wir alles für heute Abend vor!«

Gemeinsam verließen sie die Wohnung.

3.

Daniel setzte seine Kaffeetasse ab und sah sich in dem kleinen Café um. Er hatte nicht erwartet, dass Raphael ausgerechnet diesen Laden auswählen würde. Alles war hell und freundlich, bunte Aquarelle hingen an den Wänden, und sanfte Klaviermusik drang aus den Lautsprechern.

Raphael hatte sein Kinn in die linke Hand gestützt und starrte gedankenverloren die Wand in Daniels Rücken an.

Daniel selbst besah sich die anderen Gäste über Raphaels Schulter hinweg genauer. Zwei Mädchen schienen sehr an Raphael interessiert; sie sahen immer wieder zu ihm herüber, steckten die Köpfe zusammen und kicherten.

»Ich glaube, du hast zwei Verehrerinnen«, sagte Daniel.

Raphael blinzelte überrascht, dann warf er einen kurzen Blick über seine Schulter. »Nicht mein Fall«, sagte er.

Daniel grinste. »Dachte ich mir schon.«

»Du kennst mich eben viel zu gut«, behauptete Raphael, während er seine Tasse zwischen den Händen drehte, »aber abgesehen davon, habe ich eine Freundin.«

»Wirklich?«, fragte Daniel verwundert, woraufhin Raphael nickte. »Du wirst sie heute Abend kennenlernen.«

Jetzt war es an Daniel zu nicken.

»Hat der Kaffee gegen deine Kopfschmerzen geholfen?«, wollte Raphael wissen.

»Ja, danke«, antwortete Daniel.

Raphael sagte nichts weiter. Als Daniel ihn genauer betrachtete, sah er auf einmal sehr müde aus.

»Verschweigst du mir außer deiner Freundin noch mehr?«, fragte Daniel, eigentlich im Scherz.

»Zu viel«, flüsterte Raphael, »und das tut mir leid.«

Daniel lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah seinen Freund nachdenklich an. Insgeheim machte er sich Sorgen um ihn.

»Aber das wird sich ändern, ich verspreche es«, sagte Raphael.

»Ich bin froh, dass du noch nie ein Versprechen gebrochen hast«, erwiderte Daniel.

Raphael nickte. »Ich auch.« Er warf einen Blick auf Daniels Tasse. »Sollen wir gehen?«, fragte er.

Als Daniel zustimmte, winkte Raphael nach der Kellnerin. Nachdem sie gezahlt hatten, traten sie in die frische Frühlingsluft hinaus.

»Ist es in Ordnung, wenn ich dich später um acht abhole?«, fragte Raphael. Er wirkte unsicher, als er Daniel von der Seite ansah, als hätte er Angst vor einer Absage.

Seltsamerweise brachte das Daniel zum Schmunzeln. »In Ordnung, ich freue mich schon«, sagte er deswegen.

Raphael lächelte wieder sein schüchternes Lächeln. »Ich mich auch.«

4.

Nachdem Daniel zu Hause angekommen war, hatte er sich in sein Zimmer zurückgezogen. Die Kopfschmerzen waren wiedergekommen, schlimmer als zuvor. Sogar das kurze Gespräch mit seiner Mutter, dass er sich noch mit Raphael treffen wollte, hatte sich wie Glasscherben in seinem Kopf angefühlt.

Kraftlos ließ Daniel sich in seinen Sessel fallen und versuchte, sich mit dem Gedanken an Raphaels Freunde abzulenken. Er saß immer noch regungslos da, als es pünktlich um acht Uhr an der Haustür klingelte.

Daniel öffnete die Augen, verscheuchte die Bilder, die in seinem Kopf herumspukten. Er zog im Flur gerade seine Jacke an, als seine Mutter mit einem Buch in der Hand aus dem Wohnzimmer kam.

»Ist schon gut«, sagte Daniel, »das wird Raphael sein.«

Seine Mutter lächelte und strich sich ihre hellbraunen Locken zurück. »Gut, amüsiert euch. Aber kommt bitte nicht zu spät, morgen ist schließlich ein Schultag.«

Daniel winkte ihr zu, als sie wieder ins Wohnzimmer ging. Dann öffnete er die Tür und stockte. Vor ihm stand Raphael, aber er sah plötzlich völlig anders aus.

 

Wie immer war er ganz in schwarz gekleidet, doch dazu trug er schwere Stiefel. Um seinen Hals hing ein silbernes Kreuz an einer filigranen Kette. Dieses Kreuz schien seine ganze Ausstrahlung zu verändern, schien ihn stark und gleichzeitig verletzlich zu machen.

»Etwas paradox heute«, scherzte Daniel, um seine eigene Anspannung zu lösen.

Raphael sah ihn allerdings verständnislos an.

»Das Kreuz?«, half Daniel ihm auf die Sprünge.

Als Raphael den Anhänger kurz berührte, huschte ein liebevoller Ausdruck über sein Gesicht. »Die Kette war ein Geschenk«, antwortete er. »Sollen wir?«

Daniel nickte, und sie gingen los.

Zuerst durchquerten sie das Zentrum der Stadt. Raphael ging zielsicher durch die Straßen, während Daniel langsam die Orientierung verlor.

»Wo genau gehen wir eigentlich hin?«, fragte Daniel, als sie in eine dunkle Gasse einbogen.

»Ins alte Industriegebiet«, antwortete Raphael, als wäre diese Antwort vollkommen selbstverständlich.

Was sie tatsächlich auch war, das alte Industriegebiet war schließlich ein beliebter Treffpunkt der schwarzen Szene. Es war abgelegen, düster, und Daniel bemerkte, dass die Straßenbeleuchtung nur sporadisch funktionierte.

Sie gingen auf eine dunkle Fabrik zu, die bedrohlich in den Himmel hinaufragte. Ein eiserner Zaun umspannte das Gelände, aber das stählerne Tor stand offen. Vereinzelt waren ein paar Büsche gewachsen, und der Schein eines kleinen Lagerfeuers erhellte die Dunkelheit. Die Silhouetten von fünf Menschen, die auf Holzbänken um das Feuer saßen, waren zu erkennen.

Daniel spürte einen Anflug von Nervosität, als sich ein Schatten von der Gruppe trennte und auf ihn und Raphael zukam.

Das Mädchen hatte schwarze Haare, die ihr bis zu den Ellbogen fielen, hellgraue Augen und trug einen schwarzen Rollkragenpullover mit weiten Ärmeln. Dazu hatte sie schwarze Jeans an, die in Stiefeln mit durchgehender Plateausohle steckten.

Kaum war das Mädchen bei ihnen angekommen, zog Raphael sie in seine Arme und drückte ihr einen Kuss in die Haare.

»Daniel, das ist meine Freundin Ranva«, stellte Raphael sie vor.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Daniel.

»Ja, mich auch«, lächelte Ranva. Ihre grauen Augen funkelten.

Es überraschte Daniel, als sie ihn ebenfalls in die Arme schloss.

»Kommt schon«, sagte sie dann und nahm Raphaels Hand, »alle warten schon auf euch.«

Gemeinsam gingen sie auf das Feuer zu. Drei Jungen und ein weiteres Mädchen erwarteten sie. Das Mädchen stand auf, um Daniel ebenfalls kurz in die Arme zu schließen. Ihre roten Haare waren kürzer als Ranvas und außerdem leicht gewellt. Sie trug eine schwarze Korsage unter einem gleichfarbigen Strickmantel.

»Das ist Farah«, sagte Ranva.

»Hey, Daniel, wie geht’s?«, fragte Farah und lächelte.

Daniel zuckte nur vage mit den Schultern.

Ein Junge, der schlichte schwarze Kleidung trug, musterte ihn eindringlich. Seine Augen wirkten im flackernden Licht gelblich. »Ich bin Gabriel«, stellte er sich schließlich vor.

Der Junge, der neben Gabriel saß und dessen schwarz-blaue Haare im Feuerschein seidig leuchteten, beachtete Daniel nicht sonderlich. Seine schwarzen Augen bohrten sich förmlich in Raphaels, der fragend eine Augenbraue hochzog. Daniel beobachtete es verwirrt.

»Das ist Wyn«, sagte Farah laut und lenkte Wyns Aufmerksamkeit damit auf Daniel.

Wyn lächelte ihm nur flüchtig zu und wandte sich dann wieder an Raphael. »Können wir kurz reden?«, fragte er dann.

Als Raphael nickte, verschwanden die beiden aus dem Lichtkreis des Lagerfeuers.

Der dritte im Bunde sah Daniel gleichgültig an. Seine blauen Augen wirkten kalt wie Eis; auch er trug schwarze Kleidung, hatte aber dazu ein Halsband mit spitzen Nieten umgelegt. »Das ist Leander«, flüsterte Ranva Daniel zu.

»Hey«, murmelte Daniel verunsichert.

Leander nickte ihm nur zu, dann breitete sich Schweigen aus, und jeder sah in eine andere Richtung und hing eigenen Gedanken nach. Nur das leise Knacken der Holzscheite im Feuer, durchbrach hin und wieder die Stille.

Irgendwann ließ Gabriel mit einem leisen Zischen die Luft aus seinen Lungen entweichen. »Was Raphael und Wyn wohl so lange bereden?«

Ranva grinste und setzte sich neben ihn. »Versuchst du gerade, die Stimmung aufzulockern?«

Gabriel grinste ebenfalls. »Wenn es sonst keiner tut.«

Farah lachte gutgelaunt auf und schubste Daniel in Richtung der Bänke. Beide setzten sich, und in diesem Moment kamen Raphael und Wyn zurück.

»Was haben wir verpasst?«, fragte Wyn und setzte sich neben Leander.

»Gabriel hat uns mit Humor gefoltert«, erwiderte dieser trocken.

»Also habt ihr Daniel noch nichts erzählt?«, wollte Raphael wissen, der sich hinter Ranva stellte und seine Hände auf ihre Schultern legte.

»Was sollen sie mir denn erzählen?«, fragte Daniel misstrauisch.

»Es geht um deinen Traum«, fing Raphael an. »Wir können dir helfen oder wenigstens glauben wir das. Wir haben viel darüber nachgedacht, sind uns aber noch nicht sicher, ob wir richtig liegen.«

Gabriel stand auf und stellte sich neben Raphael. »Unsere Theorie«, erklärte er, »ist, dass du etwas Besonderes bist. Du hast etwas, das alle Mächte der Welt begehren.«

»Muss ich wissen, wovon ihr redet?«, fragte Daniel, der sich wie in einem falschen Film vorkam.

»Das wird schwerer als gedacht«, seufzte Raphael. »Es gibt da etwas, dass du über uns wissen solltest.«

Ehe er weitersprechen konnte, hob Wyn eine Hand. »Ich höre jemanden.«

Tatsächlich kam ein Pärchen aus dem Schatten. Als sie das Feuer sahen, wurden sie langsamer. Wyn löste die Anspannung, als er dem Paar grüßend zunickte.

Die beiden grüßten ebenfalls, gingen dann aber zu einem anderen Teil des Geländes. Bald wurden sie von der Dunkelheit verschluckt.

»Nur Menschen«, murmelte Farah erleichtert.

Daniel sah sie verwirrt an. »Wie meinst du das?«

»Das ist es, was wir dir sagen wollen«, begann diesmal Ranva. »Wir können dir mit deinem Traum helfen, weil wir anders sind.«

»Ich verstehe immer noch nicht.« Daniel wurde zunehmend nervöser. Es klang, als wäre er an eine verrückte Sekte geraten.

»Was du wissen musst«, sprach Raphael weiter, »ist, dass wir keine Menschen sind.« Er zögerte kurz. »Wir sind Engel.«

»Das … Das ist ein Witz, oder?«, fragte Daniel ungläubig.

Ranva schüttelte den Kopf. »Nein, Daniel. Es ist wahr.«

»Aber es ist nur die halbe Wahrheit«, sagte nun Gabriel. »Wir sind nicht einfach nur Engel. Wir sind schwarze Engel.«