Heart of Sullivan

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Heart of Sullivan
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Inhaltsverzeichnis

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Danksagung

Weitere Bücher der Autorin

Vollständige e-Book Ausgabe 2021

© 2021 ISEGRIM Verlag

in der Spielberg Verlag GmbH, Neumarkt

Bildmaterial: © shutterstock.com

Covergestaltung: © Ria Raven, www.riaraven.de

Alle Rechte vorbehalten.

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

eBook - ISBN: 978-3-95452-837-0

www.isegrim-buecher.de

Buchbloggerin, Buchhändlerin und Fantasy-Liebhaberin Leinani Klaas ist in den USA und in Deutschland groß geworden und träumte schon mit jungen Jahren von einem eigenen Buch. »Heart of Sullivan« und »Tochter des Ozeans« sind ihre ersten Bücher, weitere sind bereits in Arbeit.

Die Autorin liebt, schreibt und lebt mit Freund und Katzen in Freiburg im Breisgau.

Weitere Informationen über sie sind auf Instagram unter @leinanisbookcorner zu finden.

Für die Träumer*innen unter uns.

»Es gibt keinen schlimmeren Alptraum, als sich nicht mehr ins Wachsein retten zu können.«

Aus ›Eistau‹ von Ilija Trojanow

Oder

»Albträume brauchen keinen Schlaf.«

Gregor Brand

1

Das monotone Rattern der Eisenbahn und ihr sanftes Schaukeln lullen mich normalerweise ein. Es gibt nichts, was mich mehr beruhigt, als der vorbeiziehenden Landschaft zuzuschauen, den Widerhall der Räder auf den Schienen als Vibration im Bauch zu spüren und nichts tun zu müssen, als zu sitzen. Mein Kopf sinkt von alleine nach vorn, die Muskeln in meinem Körper werden weich, meine Augen fallen zu und dann schrecke ich hoch. Mit einem Schlag ist die ganze Nervosität und bange Erwartung wieder da und beherrscht meinen Körper wie eine Urgewalt. Neben mir auf der Bank sitzt Emma Waldorf und ich kann ihren sorgenvollen Blick auf mir spüren. In den vergangenen zweieinhalb Stunden, seit unserer Abfahrt in Caselton, hat sie mir diesen Blick immer wieder zugeworfen und obwohl ich weiß, dass sie es nur gut meint, nervt er mich mittlerweile ein bisschen. Meine nervöse Angewohnheit, mit der Zunge immer wieder über die Oberlippe zu lecken, wenn ich angespannt bin, hat meine Lippen schon ganz ausgetrocknet. Eine fast schon fiebrige Aufregung hält mich so sehr in ihrem Bann gefangen, dass ich nicht in meinem Rucksack nach der Lippenpflege suchen kann. Stattdessen lehne ich meinen Kopf gegen das Fensterglas, das unter meiner Haut leicht vibriert, und schließe die Augen. Tief durch die Nase ein- und durch den Mund wieder ausatmen. Das beruhigt. Doch bald schon schießen mir wieder die Bilder durch den Kopf und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Unter meinen Händen gibt der weiche Stoff des Polsters nach, als ich sie fest darauf drücke und meine Zunge erneut über meine Oberlippe schnellt.

»Hier.«

Vor meinen Augen taucht verschwommen ein kleines Döschen auf und schwebt in der Luft, bis mein Blick sich klärt und ich den Lippenbalsam erkenne, den Emma mir hinhält.

Dankbar greife ich danach und benetze meine Lippen, die erst kurz brennen, sich dann aber schnell besser anfühlen. Wenn sich doch nur alle Probleme so einfach beheben ließen. Ein kleiner Seufzer entschlüpft meinem Mund. Mit einer Hand reibe ich mir übers Gesicht und atme erneut tief durch.

Mach dich nicht so verrückt, beschwöre ich mich selbst. Nach Illington zurückzufahren war schließlich meine Idee gewesen und vor einigen Tagen, mit viel Abstand und der warmen Sonne im Gesicht, war der Gedanke an meinen Heimatort auch nicht so erschreckend gewesen. Doch jetzt, unmittelbar vor unserer Ankunft, tut mir mein ganzer Körper weh und die schrecklichen Bilder meines Dorfs, das man damals ohne viel Fantasie mit einer Geisterstadt hätte vergleichen können, tauchen wie ungebetene Gäste immer wieder in meinen Gedanken auf. Ich weiß nicht, was uns dort erwartet - ob uns dort überhaupt etwas erwartet. Ich frage mich, was mir mehr Angst machen wird: die Stadt wie bei meiner Abreise leer und verlassen vorzufinden oder neu besiedelt. Fremde Menschen in Häusern, die einst Bekannten und Freunden gehört haben, die die Straßen entlang spazieren, auf denen ich früher mit meiner Familie langgelaufen bin. Ohne mein Zutun fährt meine Zunge erneut über die Oberlippe und ich schmecke das klebrige Bienenwachs. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalte, untätig in diesem Zug zu sitzen und spüre ein mulmiges, heißes Gefühl im Bauch. Ich habe solche Angst davor Illington wiederzusehen, dass mir schlecht wird und ich krampfhaft schlucken muss. Emma fühlt meine Unruhe, denn sie greift nach meiner Hand, die sich erneut in das Polster krallt, und drückt sie fest. Diese einfache Berührung hilft mir, mich zu erden, auch wenn mein Herz noch immer heftig in meiner Brust schlägt.

»Du bist nicht alleine, Heart. Ich werde die ganze Zeit an deiner Seite bleiben und sobald es zu viel wird, können wir sofort wieder gehen!«, verspricht sie mir mit Nachdruck und in ihren hellen Augen kann ich die Ernsthaftigkeit ihrer Worte lesen, die mir das Gefühl gibt, mich auf sie verlassen zu können. In den Tagen nach meinem unverhofften Sieg über die Seelenhexe, haben wir uns gegenseitig gestützt und uns gehalten, wenn die Trauer über unseren Verlust zu schmerzhaft wurde, um atmen zu können. Ich weiß nicht, was ich ohne Emma tun würde. Manchmal ist sie das Einzige, das mich antreibt weiterzumachen und neu anzufangen. Oder es zumindest zu versuchen. Mit ihr an meiner Seite ist dieser Neuanfang nicht unbedingt leicht, aber auf jeden Fall einfacher zu ertragen. Jene Tage nach dem Kampf mit der Seelenhexe waren gezeichnet von Albträumen, von furchtsamen Blicken über die Schulter und traurigen Gedanken, die über uns hingen wie schwere Gewitterwolken. Grau, bleiern und unauflöslich. Mit dem Handrücken wische ich mir eine Träne von der Wange, die sich langsam einen Weg über mein Gesicht bahnt und drücke Emmas Hand zurück.

»Danke«, sage ich leise und meine es auch. Dieses kleine Wort reicht nicht ansatzweise aus, um ihr zu zeigen, wie viel es mir bedeutet, sie an meiner Seite zu wissen. Wie nicht anders zu erwarten, schüttelt sie den Kopf und tut so mein Wort ab.

»Du weißt doch …«, setzt sie an und verdreht die Augen. Ihre Aversion gegen dieses Wort lässt mich, trotz meiner Angst, kurz lächeln. Emma findet, man solle seine Dankbarkeit zeigen und nicht inflationär dieses Wort verschwenden, indem man sich für jede Kleinigkeit bedankt und dem Wort so seine Bedeutung nimmt. Ich versuche ihr diesen Gefallen zu tun, aber manche Angewohnheiten lassen sich nicht so einfach ablegen. Ich beuge mich zu ihr und drücke meine Lippen auf die weiche Haut ihrer Wange. Dort verweile ich, atme ihren Duft ein und spüre dem Prickeln in meinem Bauch nach, das sich jedes Mal einstellt, wenn ich sie berühre. Emma schlingt einen Arm um meine Schultern, zieht mich näher an sich und für einige wenige Augenblicke kann ich meine Sorgen vergessen.

»Wo willst du als erstes hin, wenn wir in Illington ankommen?«, fragt sie und reißt mich damit aus dem warmen Kokon des Vergessens. Ich stöhne auf und lasse sie los. Sofort fehlt mir die Berührung ihrer Haut, aber sie zu umarmen und gleichzeitig an mein Zuhause zu denken, fühlt sich merkwürdig falsch an. Mein Blick schweift aus dem Fenster, ohne dass ich die vorbeiziehende Landschaft wahrnehme, und ich überlege mir eine Antwort auf ihre Frage. Dabei zieht sich mein Herz immer wieder krampfhaft zusammen.

»In Kürze erreichen wir Hantingen. Der Zug endet hier. Wir bitten alle Gäste auszusteigen. Danke, dass Sie mit der Blomental-Bahn gereist sind!«

Um uns herum macht sich allgemeine Aufbruchsstimmung breit. Taschen werden hastig zusammengepackt, Jacken übergezogen und irgendwo jammert ein Kleinkind. Der Zug wird langsamer, stößt einen langgezogenen Pfiff aus und hinter den Fensterscheiben tauchen die ersten Gebäude des Ortes auf. Die aufgeregte Stimmung der anderen Fahrgäste überträgt sich auf mein ohnehin schon nervöses Gemüt und macht mich reizbar und genervt. Ich spüre eine unglaubliche Last auf mir ruhen, die mich nach unten zieht und erst, als ich als letzte den Zug verlasse und frische Luft in meine Lungen sauge, wird mir klar, wie nah wir Illington bereits sind. Fünfunddreißig Minuten, eine Busfahrt und einige Hügel trennen mich noch von meiner Heimat. Und ich kann voller Überzeugung sagen, dass ich lieber wieder in den Dampfwolken schnaubenden und ächzenden Zug steigen und wegfahren würde, als auch nur noch einen weiteren Schritt zu tun. Da Emma aber zielstrebig auf die Bushaltestelle zusteuert, muss ich einen Fuß vor den anderen setzen. Hantingens Bahnhof ist klein und hat nur zwei Plattformen, liegt aber so weit im Süden, dass die Pflanzen und Gebäude schon dem exotischen Stil des Nachbarlandes ähneln. Ich war erst einmal als Kleinkind hier und damals schon habe ich mich wegen des vielen Glases, der Rot- und Gelbtöne und der hohen Pflanzen wie auf einem anderen Planeten gefühlt.

 

Der Bus, der uns nach Illington bringen wird, steht schon mit laufendem Motor an der Haltestelle. Bereit zur Abfahrt. Beim Einsteigen zeigen wir unsere Tickets.

»So so, nach Illington also«, murmelt der Busfahrer, kratzt sich unter seiner grauen Schiebermütze und mustert uns eindringlich.

»Wieso?«, fragt Emma an meiner Stelle. Mir klebt die Zunge am Gaumen fest und sie weiß das.

»Komischer Ort, sag ich euch. Da stimmt was nicht. Fahr nicht gern da lang. Aber ihr müsst‘s ja wissen.« Sein Blick richtet sich wieder auf die Straße und wir sind vergessen, ehe er um die nächste Kurve fährt und das Blomental verlässt.

Mir schwirrt immer noch der Kopf von seiner Aussage, die das mulmige Gefühl in meinem Magen nur noch verschlimmert und eine böse Vorahnung beschleicht mich, als wir uns auf die Plätze ganz hinten fallen lassen.

2

Mir steht der Mund offen. Ich weiß das. Auch, dass es ziemlich blöd aussehen muss, aber ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nichts anderes tun, als zu starren und mit offenem Mund die belebten Straßen von Illington anzuschauen. Überall sind Menschen. Sie laufen kreuz und quer und durcheinander. Das erstaunlichste aber ist, dass sie reden. Und lachen. Ja, sie lachen. Miteinander. Keinen von ihnen erkenne ich wieder, sie sind mir alle fremd, dennoch fällt mir ein riesiger Stein vom Herzen. Es tut weh, den Ort neu besiedelt zu sehen und zu wissen, dass andere Leute, Fremde, in den Häusern und Wohnungen leben, die einmal mir vertrauten Menschen gehört haben, gleichzeitig tut es aber auch gut. Ich weiß jetzt, dass es mich zu Boden geschmettert hätte, Illington als Geisterstadt erleben zu müssen.

»Es ist alles in Ordnung, wirklich! Es geht mir gut.« Emma hat mich die letzten Minuten wieder einmal besorgt beobachtet und darauf gewartet, dass ich zusammenbreche. Ich habe nicht gelogen, als ich sagte, es gehe mir gut. Die Menschen hier zu sehen ist befreiend, gleichzeitig aber stellt es uns vor ein neues Problem. Auf der Suche nach Hinweisen könnten sie uns im Weg stehen.

»Wenn wir irgendwo etwas finden, das uns weiterhilft, dann bei Tilly. Ich habe dir doch erzählt, dass sie mir den Hinweis auf die Seelenhexe gegeben hat und ich bin mir immer noch sicher, dass sie ihr Wissen aufgeschrieben hat. Lass es uns zuerst bei ihr versuchen.«

Langsam laufen wir in die Richtung, in der früher einmal ›Breakfast at Tillys‹ lag. In den Fenstern der Häuser spiegelt sich die Sonne wider und es ist ein ungewohntes Gefühl, das Dorf nicht in Regen und Nebel getaucht zu sehen. Der Ort wirkt wie frisch geputzt. Alles glänzt, von den weißen Hauswänden bis zu den blühenden Bäumen und selbst die Menschen sehen fein rausgeputzt aus. Vielleicht bilde ich mir das aber nur ein, nach den Tagen, in denen hier alles grau und düster war.

»Wie einfallsreich«, murmle ich und betrachte das Schild über Tillys altem Café skeptisch. Auf dem neuen Hängeschild steht in geraden Lettern ›Frühstückscafé‹ und ein Blick durch die großen Glasscheiben zeigt mir, dass das Innere noch fast genauso aussieht wie vorher. Lediglich die Bilder an den Wänden sind andere. Die früher dort hängende esoterische Mandala-Kunst ist Bildern mit flauschigen Tiermotiven gewichen. Emma und ich wechseln einen stummen Blick bevor wir das Café betreten. Eine Glocke ertönt beim Eintreten. An den Tischen sitzen vereinzelt Menschen und es riecht nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen und Milch.

»Hallo, ihr zwei Süßen. Wollt ihr etwas trinken?« Eine stämmige, in rosa Tweet gehüllte, Frau steht hinter der Theke und lächelt uns breit an. Um nicht unhöflich zu sein, setzen wir uns auf zwei Barhocker direkt an der Theke und bestellen je eine Tasse Tee.

Ich beschließe in die Vollen zu gehen, als sie uns die Getränke serviert. »Danke. Entschuldigen Sie die Frage, aber gehört Ihnen dieses hübsche Café?«

»Danke, Herzchen. Ich bin die Inhaberin, aber noch nicht lange. Habt ihr nicht davon gehört?«, fragt sie mit einem verschwörerischen Blick und synchron schütteln wir die Köpfe. Sie seufzt theatralisch und ich weiß, dass sie es genießt, uns diese Auskunft zu geben. »Vor wenigen Wochen war hier noch alles anders. Die Stadt war ausgestorben und niemand war hier, um sich um alles zu kümmern.«

Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter und frage: »Was ist hier denn passiert?«

»Das weiß keiner so genau, meine Liebe. Es wird noch ermittelt, aber momentan geht man davon aus, dass eine Seuche für das Verschwinden der Einwohner gesorgt hat.«

Erneut wechseln Emma und ich einen Blick, dieses Mal ist er besorgt und ich weiß, dass sie genau dasselbe denkt wie ich. Hier wird ermittelt.

»Jenny. Machst du mir noch einen?« Hinter uns verlangt ein Gast nach ihrer Aufmerksamkeit und sie wuselt davon.

»Seuche?«, frage ich Emma ungläubig. Sie zuckt mit den Schultern und schaut Jenny, der Besitzerin und Kellnerin, hinterher.

»Mir machen eher die Ermittlungen Sorgen. Heart, du weißt, dass man auf uns aufmerksam werden könnte, wenn wir zu viele Fragen stellen. Ich habe nicht wirklich Lust mit der Polizei zu sprechen.«

»Ich auch nicht«, gebe ich zu. »Wir werden vorsichtig sein, okay?«

3

»Findest du es nicht auch seltsam, wie schnell wieder alles zur Normalität zurückgekehrt ist?«

»Irgendwie schon«, meint Emma.

»Ich finde es ja schon komisch. Sie gehen von einer Seuche aus, lassen aber zu, dass sich wieder Bewohner im Dorf ansiedeln.«

Wir stehen unschlüssig vor Tillys altem Café und beobachten die Menschen, die an uns vorbei gehen. Obwohl es mir vorhin so vorgekommen ist, als sei Illington von Menschen überrannt, sind es jetzt, da sich die erste Überraschung gelegt hat, doch viel weniger als gewöhnlich. Zudem fallen mir nun die vielen geschlossenen Läden auf, die sich unter die geöffneten mischen und deren Zu Vermieten - Schilder in der nachmittäglichen Sonne glänzen.

»Ich nehme mal an, dass es wenig wirtschaftlich ist, ein Dorf unbewohnt zu lassen. Möchtest du eigentlich zu eurem alten Haus?«

Der abrupte Themenwechsel überrascht mich und ich sage viel hitziger als nötig: »Ganz sicher nicht!«

Köpfe drehen sich nach uns um und neugierige Blicke mustern Emma und mich. Verlegen wippe ich auf den Fersen vor und zurück und versuche die Leute unschuldig anzulächeln. Emma verschränkt ihre Finger mit meinen. »Dann lass uns doch einfach ein Stück gehen und überlegen, wie wir diese Jenny ausfragen können. Ich hoffe, dass sie Tillys Sachen noch nicht weggeschmissen hat.«

Da bin ich ganz bei ihr. Warum aber sollte jemand die Habseligkeiten einer verstorbenen und noch dazu fremden Person aufheben? Ich mache mir keine großen Hoffnungen.

Illington hat sich nicht wirklich verändert, eigentlich hat sich überhaupt nichts verändert. Das ist schön und erschreckend zugleich. Ich verbinde so vieles mit allen möglichen Orten. Die alte Turnhalle, hinter der Lion und ich zum ersten Mal rumgeknutscht haben. Der Spielplatz, auf dem Elena so gerne geschaukelt hat und auf dem wir uns das erste Mal richtig betrunken haben. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht bei der Erinnerung. Elena war so betrunken gewesen, dass sie auf das Dach der Sandkastenhütte stieg und ein Ständchen zum Besten gab, bis sie hemmungslos lachend das Gleichgewicht verlor und im Sand landete. Auf der Bank am Dorfbrunnen habe ich mit Lion Schluss gemacht. Damals war mir noch nicht bewusst, dass ich auf Mädchen stehe. Und die blühenden Büsche erinnern mich schmerzlich an meine Eltern.

Ich ziehe sanft an Emmas Hand, die ich immer noch halte, und sage: »Ich glaube, ich möchte meinen Eltern die letzte Ehre erweisen.«

Emma ist anzusehen, dass sie verwirrt ist. »Auf dem Friedhof?«

»Nein.« Ich schlucke. »Das wäre nicht der richtige Ort.«

»Aber, wo … Oh!« Ihre Augen werden groß, als sie begreift, und ihre Unterlippe bebt. »Im Wald?«

»Schaffst du das?«

»Oh Gott, keine Ahnung.« Sie verbirgt ihr schönes Gesicht in ihren Händen. »Aber wenn du in deinen Heimatort zurückkehren kannst, werde ich ja wohl in den blöden Wald gehen können.« Jetzt zittert auch ihre Stimme. Ich schlinge die Arme um sie und so stehen wir einen Moment einfach nur da.

»Du musst nicht. Ich kann auch …«

»Doch. Doch, ich muss«, unterbricht sie mich unwirsch und wischt sich eine vereinzelte Träne von der Wange, bevor ich es tun kann. Sie löst sich von mir, schnieft, seufzt und schüttelt dann heftig den Kopf. »Sie ist ja nicht mehr dort. Uns kann nichts mehr passieren.«

Obwohl sie keine Frage gestellt hat, nicke ich.

»Genau. Dort ist jetzt alles sicher.« Damit versuche ich nicht nur meine Freundin zu beruhigen.

Ich lasse es mir vielleicht nicht anmerken und obwohl ich den Ort ausgewählt habe, um meinen Eltern die letzte Ehre zu erweisen, ist es auch mir nicht ganz geheuer, zurück in den Düsterwald zu gehen.

»Wenn man vom Pferd fällt, muss man sofort wieder aufsteigen«, murmle ich.

»Der Vergleich hinkt ganz schön.«

4

Ich trage bunt blühende Zweige in den Armen. Der Wald empfängt uns so viel freundlicher als damals. Er ist voller Leben und Geräuschen, die Luft ist warm und riecht nach Harz und Tannen und dennoch läuft mir ein eisiger Schauer über den ganzen Körper. Emma geht es nicht besser. Bei jedem Geräusch zuckt sie zusammen und schaut sich um, als erwarte sie jeden Augenblick Nebelschwaden. Wir haben uns nicht dazu durchringen können, tiefer in den Wald zu gehen, der uns noch immer in unseren Albträumen heimsucht. Stattdessen habe ich mir den Stamm einer riesigen, alten Schwarztanne ausgesucht, um meine Eltern zu begraben. Symbolisch für ihre beiden Körper haben Emma und ich Sonnenblumen und Lavendel abgeschnitten, die wir vorsichtig vor den dicken Stamm legen. Mir wären Flieder oder Blutjohannisbeere lieber gewesen, doch ihre Zeit ist, wie die meiner Eltern, längst verstrichen. Die Farben der Blüten stechen aus dem Braun des Waldbodens hervor und sehen so fröhlich aus, dass sie schwer zu einer Beerdigung passen. Doch so ist es mir lieber. Ich möchte nicht in Schwarz um meine Eltern trauern. Sie waren lebensfrohe und manchmal auch verrückte Menschen. Dieser Abschied passt viel besser zu ihnen und ist ihnen würdiger. Ich lege eine Hand auf die Stelle wo mein Herz unter der Brust schlägt und schlucke. Emma beginnt zu weinen. Ihr Schluchzen erfüllt den kleinen Platz um den Baum herum und in diesem Moment schrumpft die Welt um uns zusammen. Mir ist, als bekäme ich plötzlich keine Luft mehr und noch während ich um Fassung ringe, füllen sich meine Augen mit den ersten Tränen. Ich weiß nicht, wer von uns als erste auf die Knie gesunken ist, doch irgendwann sitzen wir beide auf dem Waldboden und weinen bitterlich. Mein Herz blutet vor Trauer und fühlt sich kalt und leer an. Die Leere, die der Verlust meiner Eltern hinterlässt, ist so dunkel und schmerzhaft, dass ich zusammenbreche, daran zerbreche. Ich frage mich, ob es stimmt, hoffe, dass es so ist, kann aber in diesem Moment nicht daran glauben, dass Zeit alle Wunden heilt. Ich habe keine Familie mehr! Wie soll ich darüber je hinwegkommen? Wie sollte Zeit dabei helfen? Aber Emma ist noch da. Meine liebe, fantastische Emma. Ohne sie fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst. Sie versteht mich. Wir müssen einander nicht glauben, wir wissen, was die andere durchgemacht hat, ohne dass wir einander für seltsam halten. Wir sind gemeinsam durch die Hölle gegangen und finden jetzt langsam den Weg zurück in die Helligkeit. Und auch das wieder vor allem gemeinsam. Sie und ich gegen den Rest der Welt. Sehr schnell waren aus zwei Fremden Freundinnen geworden - eine Einheit. Gute, wie schlimme Erlebnisse schweißen einfach zusammen.

Hand in Hand laufen wir langsam zurück ins Dorf. Ich fühle mich leer und kraftlos. Und ich friere. Selbst in der sengend heißen Augustsonne zittere ich wie Espenlaub. Emma und ich haben ein paar Worte gesprochen und versucht, uns zu verabschieden. Unsere kleine Beerdigung war ein schöner, wenn auch schmerzhafter Moment, doch ob sie mir hilft, mit dem Tod abzuschließen oder nur ein Schritt in diese Richtung war, weiß ich nicht.

 

Eine Beerdigung ist nicht nur ein Abschied, ein Ende von etwas, sondern auch ein Anfang. Sie trennt das Davor vom Danach. Deshalb, und weil ich mir einen Neustart wünsche, habe ich geglaubt, dieser Akt der Beisetzung würde mir helfen. Helfen, darüber hinwegzukommen, damit zurechtzukommen. Aber es hat nicht geholfen, jedenfalls nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte. Dieser Moment unter der mächtigen Schwarztanne bestätigt mir, was ich ohnehin schon wusste, aber nicht wahrhaben wollte - meine Eltern sind tot!

Ob ich die Hoffnung hatte, sie hier in Illington, verwirrt, aber am Leben, wieder zu treffen? Natürlich! Aber die Hoffnung ist ein ganz mieser Wegbegleiter. Einer von der Sorte, der dir etwas vorgaukelt und dann am Ende laut über dich lacht.

Meine Eltern sind tot. Sie werden nie mehr zurückkommen.

Obgleich ich das weiß, fehlen sie mir überall. Manchmal sehe ich Dinge, von denen ich ihnen erzählen möchte, oder ich glaube Mamas Stimme zu hören. Wenn ich mich dann umdrehe, ist dort niemand. Nur Leere und oft Einsamkeit. Meine Finger umschließen Emmas Hand fester und ich laufe ein bisschen näher neben ihr her, bis sich unsere Oberarme leicht berühren. Die Einsamkeit lässt sich zusammen besser ertragen. Denn es ist keine physische Einsamkeit, die uns beide plagt. Im Laufen habe ich auf den Boden geschaut, weil es mir gerade schwer fällt all diese neuen Menschen in meiner alten Heimat zu sehen. Ich würde sofort weglaufen, wenn wir uns nicht etwas von diesem Besuch erhoffen würden. Es überrascht mich wenig, als wir kurze Zeit später wieder vor Tillys Café stehen, das jetzt Frühstückscafé heißt, und wir durch die Tür ins Innere treten. Der Laden ist leer.

»Na hallo. Ihr zwei schon wieder.« Jenny steht an einem Tisch und sammelt leere Gläser ein. Ihre Augen blitzen amüsiert. »Kann ich euch etwas anbieten?«

»Gerade nicht, danke. Es tut mir leid. Wir waren vorhin nicht ganz ehrlich zu Ihnen.«

»So?«, fragt sie und mustert uns abwechselnd.

»Wir, besser gesagt ich kannte die frühere Besitzerin dieses Ladens und ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht noch ein paar ihrer Sachen haben.«

»Heart«, zischt Emma.

Jenny stemmt die Hände in die Hüften. Ihre Miene verrät nicht, was sie denkt, und ich befürchte schon, mit meiner forschen Art zu weit gegangen zu sein. Dann wirft sie sich das Geschirrtuch über die Schulter, nimmt das volle Tablett hoch und nickt uns zu.

»Setzt euch doch erstmal und dann erzählt ihr mir, woher ihr Tilly Dawson kennt.«

Kurz durchzuckt mich Schmerz bei der Art wie sie ihren Namen ausspricht. Es fühlt sich an wie eine halbe Ewigkeit, dass jemand anderes als Emma oder ich diesen Namen ausgesprochen hat. Ein klein wenig fühlt sich dieser vertraute Name an, wie heimkommen und dadurch tut es umso mehr weh, da ich weiß, dass er nur ein Echo ist. Die verrückte, lebensfrohe und entschlossene Tilly wird nie wieder sein. Mir kein einziges Mal mehr Tee kochen oder Bonbons zustecken.

Erneut nehmen wir auf den hohen Stühlen vor dem Tresen Platz. Ich kann mir nicht helfen, muss mich einfach umsehen, in diesem Laden, der mir einst so vertraut war, wie mein eigenes Zimmer. Ich bemerke all die kleinen Veränderungen, die mich jedes Mal zusammenzucken lassen und auch das, was sich nicht verändert hat. Verhalten blinzle ich eine Träne weg, die sich in meinen Augenwinkel gestohlen hat. Jenny marschiert in ihrem rosa Tweet durch den Laden, verriegelt die Tür und dreht das Geöffnet-Schild auf ›Geschlossen‹. Emma und ich wechseln einen nervösen Blick. Ihrer sagt Ich hoffe, du weißt was du tust. Aber ich bin mir da nicht sicher. Obwohl ich Elena früher für die Impulsivere und Sprunghaftere von uns beiden gehalten habe, scheine ich jetzt diese Rolle eingenommen zu haben.

Jenny stellt zwei Gläser Limonade vor uns ab.

»Geht auf‘s Haus. Und jetzt raus mit der Sprache. Wer seid ihr?«

Emma zwickt mir leicht in den Oberschenkel und warnt mich, nicht zu überstürzt an die Sache ranzugehen. Also wölbe ich die Hände um mein Glas, um Zeit zu schinden, und halte den Blick gesenkt. Nach kurzem Zögern sage ich: »Vor einer Weile habe ich mal hier gewohnt und bin mit Tilly Dawsons Nichte zur Schule gegangen. Wir waren ganz gut befreundet und auch ihre Tante mochte ich sehr gerne.« Ich habe mal gelesen, dass man beim Lügen so nahe wie möglich an der Wahrheit bleiben soll.

»Als ich gehört habe, was hier passiert ist, da …« Ich breche ab. Dieses Mal ist mein Zögern nicht gekünstelt, es tut wirklich weh. Wieder brennen meine Augen.

»Da musstest du einfach herkommen. Liebes, ich verstehe dich.«

Ich bin so überrascht von ihrer Reaktion, dass ich den Kopf hebe und ihrem mitfühlenden Blick begegne. Fast bekomme ich ein schlechtes Gewissen, doch da ich so gut wie die Wahrheit gesagt habe, gibt es dafür eigentlich keinen Grund.

»Aber wieso willst du ihre Sachen sehen?«

Das ist eine gute Frage. Und leider habe ich keine Antwort darauf.

»Ach, einfach so«, murmle ich.

»Du hast doch gesagt, dass Tilly ein paar wertvolle Bücher besessen hat, an denen dein Vater interessiert ist.« Emma kneift mir wieder in den Oberschenkel und ich bemühe mich, ein nicht allzu fassungsloses Gesicht zu machen.

»Mein Vater?«

»Ja, dein Vater. Wissen Sie«, Emma wendet sich Jenny zu, »der Vater meiner Freundin ist Antiquitätenhändler und hat früher schon versucht, Tilly ein gutes Angebot für ein paar besondere Ausgaben zu machen. Er möchte nicht taktlos sein, aber er hat wirklich großes Interesse. Deshalb hat er uns hergeschickt, in der Hoffnung, dass die Bücher vielleicht noch da sind.«

»Mein Vater ist Antiquitätenhändler«, wiederhole ich wie ein Papagei. Glücklicherweise fragt Jenny im gleichen Moment: »Kommst du auch von hier?«

»Ich? Nein, nein. Aber ich bin schon lange mit ihr befreundet.«

Emmas plötzliche Courage überrascht mich ziemlich und ich starre sie an, bis sie mich zum dritten Mal kneift. Heute Abend wird mein Oberschenkel voller kleiner Flecken sein, wenn das so weiter geht.

»Und jetzt sind wir hier.« Emma lacht verlegen und hebt die Hände. Ihr neu entdeckter Enthusiasmus scheint sich wieder zu verabschieden und für eine Weile herrscht Stille.

Ich bin unsicher, ob es klug ist, noch etwas zu sagen oder ob ich nicht besser den Mund halten soll. Emma hat ein so wackeliges Gerüst aus Unwahrheiten gebaut, dass ich Angst habe, es zum Einsturz zu bringen. Ein falsches Wort und wir fliegen schneller aus dem Laden, als ich ›Geheimnis‹ sagen kann. Der Moment zieht sich quälend langsam in die Länge. Vorsichtig lächle ich Jenny an, doch es fühlt sich so unecht an, dass ich es schnell wieder bleiben lasse.

»Ihr habt Glück. Vor lauter Stress, das Café zu eröffnen, bin ich noch nicht dazu gekommen Tilly Dawsons Habseligkeiten wegzuschmeißen. All ihre Sachen sind im Keller. Ihr könnt euch gerne umschauen.«

Heute scheint das Glück ausnahmsweise einmal auf unserer Seite zu sein, denke ich, als ich Jenny, mit Emma auf den Fersen, in den kalten Keller folge.

»Wieso sind Sie denn eigentlich nach Illington gezogen?«, frage ich. Tatsächlich kann ich mir nicht im Entferntesten vorstellen, an einen Ort zu ziehen, der vor wenigen Wochen noch eine Geisterstadt war. Vor allem dann nicht, wenn eine Seuche für das plötzliche Aussterben verantwortlich gemacht wird.

»Neugierig bist du ja schon. Nicht wahr? Aber ich schätze, es ist nichts dabei, wenn ich es euch erzähle. Schließlich wart ihr ja auch ehrlich zu mir.«

Auf halbem Weg die Treppe hinab bleibt sie stehen und mustert uns nachdenklich.

»Ich habe vor Kurzem ein hübsches Sümmchen geerbt und die Preise hier waren sehr günstig. Obwohl ich mir schon ein paar Gedanken gemacht habe, konnte ich nicht widerstehen, hier einen Neuanfang zu wagen.«

Aha, denke ich.

Jenny fängt meinen Blick auf und gibt ein kurzes Lachen von sich. »Nein, Schätzchen. Nicht so wie du denkst. Blackville, mein Heimatort, ist winzig klein. Er liegt an den Ausläufern der Jonny-Jigger-Hills in einer Senke, über der sich fast permanent Wolken verfangen, und ist so verschlafen, dass dort schon um fünf Uhr nachmittags die Bürgersteige hochgeklappt werden. Der einzige Pub in der Nähe ist nur mit dem Auto zu erreichen und entweder wird man Hausfrau oder kümmert sich um die Tiere auf den umliegenden Höfen. Das war kein Leben für mich und nachdem meine Mutter, Gott hab sie selig, verstorben ist, hat mich dort nichts mehr gehalten.«

So einfach diese Erklärung auch ist, sie hat mich überzeugt und ich brumme zustimmend.

Jenny zieht an einer Schnur und helles Licht flackert auf. Der Keller ist vollgestopft mit Kartons, Tüten und am Boden herumliegendem Krimskrams.