Höhenflug und zurück

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Höhenflug und zurück
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Lea Allgaier

HÖHENFLUG

UND ZURÜCK

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Beginn

Höhenflug

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Titelfoto: black and white portrait of a beautiful girl

smoking © aleshin (Fotolia)

www.engelsdorfer-verlag.de

„Human relationships are strange.

I mean, you are with one person a while,

eating and sleeping and living with them,

loving them, talking to them,

going places together, and then it stops.“

Charles Bukowski

Beginn

„Hi, mein Name ist Toni. Ich stelle dein Leben komplett auf den Kopf. Alles ändert sich ab jetzt.“

Das ist der Satz, mit dem sich manche vorstellen sollten. Und nicht: „Kann ich dir einen ausgeben?“

Es bedeutet zwar dasselbe, allerdings ist doch der Moment am interessantesten, ab dem sich alles auf den Kopf stellt. Wir wissen es natürlich noch nicht, denn dieser Moment kann zu diesem Zeitpunkt total unwichtig erscheinen. Welche Kraft die winzigsten Kleinigkeiten ausüben können.

Ich bin davon überzeugt, dass alles Zufall ist. Wir haben keinen Einfluss auf die Entscheidungen anderer. Diese wiederum haben möglicherweise die Macht, unser Leben zu beeinflussen. Letztendlich liegt doch nicht alles in unseren Händen. Ganz einfach, es beginnt schon mit dem ersten Tag unseres Lebens. War das meine Entscheidung? Glück, Schicksal, Zufall, Bestimmung, Fügung. Ist das nicht alles dasselbe?

Ich hatte mich vor ein paar Monaten getrennt. Ihr wisst, wie das ist. Es ist immer hart, ob man verlässt oder verlassen wird. Wochenlanges Heulen, gefolgt von Wutanfällen, gefolgt von einem Kater nach dem anderen. Die Phase der Zerstörung. Man weiß überhaupt nicht, wohin mit sich, man will nur, dass es aufhört. Und danach steht man vor dem riesigen Berg und muss sich erst mal da durchkämpfen. Bis man wieder man selbst ist.

Deshalb steckte ich zurzeit in der Mir-ist-alles-egal-Phase. Das bedeutet: nächtelanges Ausgehen, prinzipielles Feiern von Freitag bis Sonntag mit dem Ziel, den Rest des Wochenendes im Koma auf dem Sofa zu verbringen.

Da ich gerade meinen Höhenflug erreichte, landete ich bei Kumpels, die ich schon ewig kannte und die immer für mich da waren, wenn eine Beziehung zu Ende ging. Und damit meine ich, sie waren in dem Sinne für mich da, indem sie einfach nicht fragten und dafür sorgten, dass ich immer ein volles Glas hatte.

Es war Winter und man spürte schon einen Anflug von vorweihnachtlicher Stimmung. Der Himmel war dunkel und kleine Schneekristalle rieselten hinab. Und an diesem Novemberabend begann alles.

Ich lag rücklings auf dem Boden. Die Augen fest zugekniffen, die Finger gespreizt, die Handflächen an den Teppich gepresst. Hätte ich geblinzelt, hätten alle in meine rot unterlaufenen Augen sehen können. Nicht, dass es unter den gegebenen Umständen besonders aufgefallen wäre. Vermutlich war die Terrassentür geöffnet und die Meute stand zum Rauchen dort, denn in kurzen Abständen zog ein eisiger Luftzug über die nackten Stellen meines Körpers. Es war ein ekliges, heiß-kaltes Schaudern, gefolgt von einer Gänsehaut, gefolgt von Übelkeit durch den rumorenden Alkoholmix in meinem Magen. Auf dem Glastisch klebte alles von dem billigen Wodka und Red Bull, das über die Plastikbecher schwappte. Weiße Ascheflöckchen sanken von der Wasserpfeife auf den Boden.

Wie so oft war ich der einzige weibliche Anteil des Abends. Zwischen den Jungs kam ich etwas runter, fühlte mich einigermaßen wohl, aufgehoben irgendwie. Das allzu gut bekannte Fünfte-Rad-am-Wagen-Gefühl konnte ich fast schon ausblenden. Fast. Es konnten noch so viele Menschen um mich herum sein, nie waren es genug oder waren sie verschieden genug. Obwohl ich immer wieder irgendwo Anschluss finden konnte, war es nie so richtig. Ich wusste sowieso nie, ob es richtig war. Ich hatte es bis dahin noch nie gefühlt. Es war ein Kreislauf von Kennenlernen, Gefallenfinden, eine gute Zeit haben, bis langsam alles zusammenbrach. Dann kam das große Tief, der Fall, die Depression, darauf der folgende Kampf, sich wieder aufzuraffen, weiterzuziehen, jemanden kennenzulernen.

Kalter Schweiß klebte an meiner Oberlippe, jemand hatte die Terrassentür offen gelassen. Die kalte Nachtluft strömte herein und erinnerte meinen Magen beim Einatmen wieder an den Cocktail, den ich intus hatte. Mein Körper presste sich an den Boden. Ich versuchte mich zu entspannen, atmete tief aus.

Dieses Arschloch.

Jetzt folgt der kleine Teil, der erklärt, warum ich so dämlich auf dem Boden herumliege. Ich kann diese Zeilen nicht auslassen, obwohl sie irgendwie etwas schräg sind.

Kurz bevor ich auf dem Boden zusammensackte wie ein Klappstuhl, war Folgendes geschehen: Ich hatte meine Schachtel Zigaretten im Auto liegen lassen. Allerdings waren wegen des Schnees, auf den ich nicht vorbereitet war, meine Füße nass geworden. Also hatte ich meine Socken schon ausgezogen, bevor ich bemerkt hatte, dass die Schachtel immer noch im Auto lag.

Während Kevin auf dem Weg war, mir trockene Socken zu bringen, wurde mir von Steven eine gedrehte Zigarette angeboten. Ich glaube, er hatte das missverstanden, als ich diese Bewegung mit Daumen und Zeigefinger machte, als würde ich an einer Kippe ziehen. Also setzten wir uns gleich in die Küche an das Fenster.

Wenige Minuten später und meine Birne war matsch. Ich spürte dieses leichte Kribbeln in den Fingerspitzen und das taube Gefühl, das darauf folgt. Mein erster Joint war ein Versehen. Ich war so müde, dass ich auf dem Boden hätte schlafen können. Aber ich schaffte es, aus meiner Tasche mein Handy herauszuziehen und Barti anzurufen. Und mitten in der Nacht kam Barti und holte mich. Im Gegenzug zu meinem Vertrauen, unabhängig davon, dass ich beinahe bewusstlos gewesen war, öffnete er mir seine Welt. Und seit dieser Nacht teilten wir sein kleines Geheimnis.

Höhenflug

Ich hatte die Jungs verloren. In meinen Ohren pochte nicht die unerträglich laute Musik des Clubs, ich hörte nur das dumpfe Schlagen meines Herzens in meinem Brustkorb, als ob es mir meine Richtung vorgeben würde. Jeder einzelne Muskel ließ mich spüren, wie mein Herz das Blut durch meine Adern pumpte.

Es war viel zu laut. Jede Stelle meines Körpers war feucht und mein Kleid klebte auf meiner Haut. Die vielen zusammengedrängten Menschen schürten eine ekelhafte Hitze, es vermischte sich alles mit zu viel Parfum und Alkoholausdünstungen. Ich war mir nicht sicher, ob ich deshalb dieses heißkalte Gefühl unter meiner Haut verspürte oder ob es die andere Sache war.

Meine Augen nahmen nur verschwommene Umrisse wahr, ich konnte nur in der Ferne schärfer sehen. Meine Schuhe rieben an meinen Zehen, aber es machte mir nichts aus.

Die bunten Lichter machten alles schlimmer. An meinen Armen klebte das goldene Konfetti, welches zuvor von der Decke gefallen war.

Alle Härchen auf meiner Haut stellten sich auf, als ich nach draußen lief. Es war eigentlich nicht kalt, denn es war Hochsommer. Jetzt erst bemerkte ich, wie laut es drinnen gewesen sein musste, meine Ohren kreischten mich an.

Mein Glas war leer und ich hatte diesen widerlichen, trockenen Geschmack von Alkohol und kaltem Rauch im Mund, der einen so durstig macht. Trotzdem zündete ich eine Zigarette an.

Die Leute drängten sich um den Barkeeper und ich überlegte schon, meinen Kopf unter den Wasserhahn auf dem Klo zu hängen. Alles war total aufwendig sommerlich dekoriert, nach dem Motto Hawaii und Beach oder irgendwie so etwas. An der Bar entlang war Bambus gewunden, von oben baumelten bunte Lampions herab und um die Barhocker war Sand gestreut. Überall trugen diese Mädchen mit aufgesetztem Lächeln in Baströcken und Blumenkette Tabletts voller süßem Zeug herum. Es war der mieseste Club weit und breit. Allerdings auch der einzige, der keine unverschämt hohen Preise auf der Getränkekarte hatte. Ein Grund, warum die Zielgruppe überwiegend aus Teenies bestand, die sich somit schnell und effektiv ins Jenseits schlürfen konnten. Jedenfalls stand ich länger als gefühlt dort draußen und mein Hirn war irgendwie ausgeknipst.

„Ich lass dich gerne vor.“

Ein paar Meter von mir entfernt saß ein Typ an der Bar und sah mich an.

„Was?“

Alles war verschwommen. Zuerst dachte ich, es wäre ein Freund von mir.

 

„Du wolltest doch was zu trinken oder sehe ich das falsch?“ Er deutete auf mein leeres Glas, welches halbsicher in meine Fingerspitzen gekrallt war.

„Ja, schon“, sagte ich.

„Ich lad dich ein. Was willst du trinken?“

„Echt?“

Er nickte.

„Dann eine Cola.“

Er lachte. „Okay, aber du weißt, das gibt’s hier auch mit Jacky.“

„Mir ist schlecht.“

„So siehst du auch ein bisschen aus, nimm es mir nicht übel.“

„Dir geht’s heute wohl richtig gut oder was?“

Es sah wahrscheinlich etwas peinlich aus, wie ich mich zu ihm rübergeschoben hatte und nun neben ihm über dem Tresen lehnte. Alles war nass und klebrig von den randvollen Gläsern, die überschwappten, sobald sie die Theke überquerten.

„Kann nicht klagen“, lachte er.

Ich musste grinsen.

„Gibst du mir deine Nummer?“

„Die Cola ist noch nicht mal da“, murmelte ich. Er hatte wohl keine Zeit zu verlieren. Na schön, wir waren in einer lausigen Disko, denkt euch den Rest. Aber das war Rekord!

„Richtig. Dann habe ich noch circa eine Minute Zeit, bis sie kommt und du vielleicht gleich wieder verschwindest.“

Ich sah ihn an. Es ging einfach nicht. Meine Augen waren geöffnet, aber mein Gehirn konnte kein Bild empfangen. „Ich verschwinde doch nicht“, nuschelte ich.

Er zog die Augenbrauen weit hoch, das konnte ich sehen. Also wurde ich weich. Obwohl es nur Cola war. Und weil er mich vorgelassen hatte.

„Bitte tipp sie selber ein, ich schaff das heute nicht mehr.“

„Cool, danke. Dann darf ich dir mal schreiben?“

Ich glaube, das war eine Frage. „Ich heiße Idgie.“

„Ich heiße Toni.“ Er streckte mir in diesem Moment die Hand entgegen.

„Idgie!“ Das war Steven, der mich rief.

„Scheiße, wo wart ihr?! Ich habe euch eine halbe Ewigkeit gesucht!“

Steven und Martin standen wie meine Bodyguards vor mir. „Du warst verschwunden. Hattest Besseres zu tun oder was?“ Martin sagte das mit einem Augenzwinkern, aber ich hasste diese Sticheleien.

„Ha, ha.“

„Viel Spaß noch.“ Der Typ stand vom Barhocker auf, ließ sein Handy in der Hosentasche verschwinden, nahm ein Bier mit und tauchte sofort in der Menge unter. Ich sah ihn den ganzen Abend nicht mehr.

„Idgie, du siehst sooo fertig aus.“

Die möglichen Reaktionen darauf waren: Augenrollen, Ignorieren oder ein Konter. Ich entschied mich für Ignorieren.

„Können wir gehen?“ Ich hatte sowieso keine Lust mehr. Mir war kotzübel, ich hatte kein Geld mehr und wollte nur noch ins Bett.

„Klar, ich find’s heute eh nicht so gut.“

Heute. Es war nicht mal bei der Neueröffnung vor 200 Jahren gut.

„Sagst du nur, weil du nicht so dicht bist wie Idgie.“ Steven sah mich an und stieß mich mit der Schulter an. „Komm schon.“ Er legte seinen Arm um mich und führte mich so hinaus.

Dass es noch gar nicht so spät war, bemerkte ich erst, als wir den Club verließen und ich die Treppen hinunterstöckelte. Um das Geländer herum war ein Gelage von Alkohol- und Drogenopfern, heulenden Mädels, die ihren Typen nachschimpften, und einer kleinen Gruppe, die sich gerade mit einer anderen anlegte. Gott sei Dank fuhr ich nach Hause. Oder besser, wurde gefahren.

Ich hatte wohl den ganzen Heimweg im Koma verbracht, denn ich kam erst zu mir, als Steven die Autotür auf meiner Seite öffnete und die Nachtluft eindrang. Dann wankte ich wohl den Rest des Weges alleine in meine Wohnung. Ich fiel auf meine Matratze und wachte nicht mehr auf, bis sich die Sonne durch den Rollladen quetschte.

Am nächsten Morgen hatte ich drei neue Nachrichten. Ich steckte noch in meinem Kleid und es klebte noch mehr als in der vergangenen Nacht. Mein Hals kratzte. Trotzdem zog ich als Erstes eine Schachtel Zigaretten aus meiner Tasche und stolperte in die Küche, um den Wasserkocher anzuschalten.

Zu diesem Zeitpunkt wohnte ich erst seit knapp einem Monat hier – alleine. Es war der Hamsterkäfig im obersten Stock eines Hochhauses, aber ich liebte es. Ich liebte, dass ich auf der bloßen Matratze schlief, ich liebte, dass ich aus dem Fenster ohne Vorhänge rauchen konnte, ich liebte auch den schrecklichen, löslichen Kaffee und ich liebte, dass es meins war. Aber ich hasste die Stille. So ließ ich mich meistens von dem Gequatsche aus dem Radio und dem plärrenden Fernseher gleichzeitig beschallen.

Es gab einige Hochhäuser in diesem Bezirk, die wie dunkle Betonklötze aus der Erde schossen. Daraus ergab sich durch alte, rostige Spielplatzgeräte auf den Wiesen, mit Graffiti beschmierte Mauern und herumlungernde Cliquen ein perfektes klischeegefülltes Bild. Alle möglichen Leute wohnten hier. Von türkischen Großfamilien, Rentner-Pärchen, alleinerziehenden Müttern bis hin zu mir war jede Etage bunt gemischt. Oft war es laut im Gebäude, aber sobald man im obersten Stock war, bekam man nicht mehr allzu viel mit.

Während das Wasser aufkochte, sorgte ich dafür, dass Musik lief. Immer noch in demselben Kleid, mit verknoteten Haaren und verklebten Wimpern, hockte ich mich auf den Fenstersims und las die Nachrichten.

Die erste war von Steven, der mir nur „Gute Nacht, du besoffenes Stück“ schrieb. Ich antwortete vorerst nicht.

Die zweite war von diesem Typen, der mir gestern die Cola spendiert hatte. Oh Gott, mir fiel der Name nicht mehr ein. „Guten Morgen. Na, gut geschlafen?“

Ich antwortete: „Ich glaube, ganz gut. Und wie war dein Abend noch so?“

Und die letzte Nachricht war von Hannah. Hannah war meine beste Freundin. Und auch die einzige. Das stimmte. Obwohl sie meine beste Freundin war und ich ihr alles erzählen konnte, sahen wir uns nicht regelmäßig.

Als wir uns vor einigen Jahren kennengelernt hatten und wir beide noch Singles waren, zogen wir andauernd um die Häuser. Es war perfekt. So war das, wenn ich etwas hatte, das gerade meine oberste Priorität war, ging es mir hervorragend. Und es reichte auch schon, dass nächtelanges Feiern auf Platz eins stand.

Bis zu dem Zeitpunkt, als sie mit ihrem Freund zusammenkam. Ihre Prioritäten hatten sich verschoben, meine hingegen nicht. Es war okay. Sie würden einen Bauplatz auf dem Land kaufen, ein schönes Häuschen darauf setzen, heiraten, ein paar Kinder machen. Nicht unbedingt in der Reihenfolge. Aber es würde so kommen.

Während ich Hannahs Nachricht noch überflog, kam schon die Antwort von – scheiße, ich erinnerte mich immer noch nicht an seinen Namen.

„Ganz okay. Ich war allerdings ziemlich lange da. Bist du früh gegangen?“

Ich stand kurz auf, kippte das heiße Wasser in eine Tasse und schüttete das Kaffeepulver dazu. Dann versuchte ich diesen Typen irgendwie abzuwürgen, denn ich hatte gar keine Lust auf dieses Gespräch.

Genau zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Kopf ziemlich frei. Ich fühlte mich gut. Mein Leben war einigermaßen in der Spur. Na gut, ich hasste meinen Job, aber wer tut das nicht? Wir stehen um sechs Uhr auf, quälen uns durch eine 40-Stunden-Woche, tacken Schilder an unsere Pinnwände im Büro mit der Aufschrift „Ist schon Freitag?“ und versuchen den Tag rumzukriegen.

Immerhin hatte ich keinen festen Freund, der mich belasten könnte oder wegen dem ich unruhige, schlaflose Nächte erdulden müsste. Ich lebte nicht in der Angst, verlassen oder verletzt zu werden. Ich lebte nur für mich. Und das war gut so. Und es hätte so gut bleiben sollen.

Meine Beziehungen wechselten von jährlich zu halbjährlich zu vierteljährlich zu bitte nicht. Gerade kam mein Herz wieder aus der Reha zurück. Das trifft es.

Es ist womöglich schwer zu verstehen und daher noch schwerer zu erklären. Ich war nie imstande, eine normale Beziehung zu führen. Auf irgendeine verschobene Weise rutschte ich in die merkwürdigsten Situationen und das Ganze entlud sich in einem charakterbildenden Moment, der meistens das Ende und somit auch einen Neuanfang prophezeite. Alle um mich herum machten den Anschein, als ob sie so ganz einfach und unbeschwert mit jemandem zusammen sein konnten. Ich hingegen, so tough ich auch war, drehte komplett durch.

Die ersten Wochen, im Anfangsstadium der rosaroten Brille, alles ist super, toll, juhu und so weiter, konnte ich es tatsächlich genießen. Wenn ich dann irgendwann in der Realität aufprallte, traf es mich wie ein Kugelhagel und ich hatte nur noch Panik. Ich konnte nicht mal mehr atmen, essen oder rennen. Es war verrückt, ich weiß.

Mein Magen knurrte. Und umso mehr, als ich vor dem mageren Inhalt meines Kühlschranks stand. Ich gab der Tür einen Ruck und sie fiel zu. Einer dieser Kalender, von dem man die Tage abreißen konnte, hing daran. Ich musste zwanzig Stück von den Zetteln abreißen, bis mich der Sonntag in roter Schrift ansah. Gott, es blieben nur noch wenige Stunden bis zum Montag.

Erst jetzt bemerkte ich, dass es schon Mittag sein musste, denn die Sonne knallte durch das Fenster auf mein schwarzes Kleid. Überall in der Wohnung ließ ich die Rollläden hinab. Dann ging ich erst einmal kalt duschen.

Später entdeckte ich, dass das kleine Schmuckkästchen, welches ich immer im Ofen versteckte, nur noch kleine Krümelchen beinhaltete.

Eigentlich wollte ich nicht rausgehen, mir war es viel zu heiß. Allerdings war es erst Mittag und ich hatte noch den halben Tag vor mir. Nach ein paar Minuten des Auf- und Abwanderns in der Wohnung ging ich doch. Meine Haare waren noch nass, das kühlte etwas, als ich zu meinem Auto lief.

Die geballte Hitze im Auto hüllte sich um mich. Ich ließ alle Fenster hinab und langsam wurde der Fahrtwind ganz angenehm. Die Straßen waren ziemlich leer, nicht weil es Sonntag war, sondern weil alle im Freibad oder am Baggersee waren. Nur einer außer mir war nicht an einem dieser Orte. Und zu ihm wollte ich.

Es war eine knapp viertelstündige Autofahrt und mein Weg führte hauptsächlich über die Landstraße. Sobald die erdrückende Unruhe der Stadt zu viel wurde, konnte man relativ schnell aus meinem Bezirk ins Grüne fliehen. Mir gab es das Gefühl, weit weg zu sein. Ich liebte die Stadt. Eigentlich nur, wenn es Nacht war. Am Tag war es unruhig, hektisch, grob. Wie Ameisen auf einem Ameisenhaufen. Wem konnte das denn wirklich gefallen?

Und dann diese Seite meiner Welt. Leere Straßen, für die einmal quer durch die Felder die Erde platt gemacht worden war. Der Geruch von Heu und frischer Luft. Man konnte einfach irgendwo anhalten, durch die Felder rennen und laut schreien. Außerdem gab es viele Wälder und Wanderwege hier in der Gegend. Es gab einen Trampelpfad, eine Art Geheimtipp, der tief durch den Wald führte und an einer Quelle endete. Wenn es einen Platz auf der Welt gab, an dem alles friedlich war, dann musste es dieser sein.

Es gab zwei Möglichkeiten: Folgte man dem Fluss, der aus der Quelle entsprang, gelangte man irgendwann zu einer Lichtung. Die andere Möglichkeit war, mit dem Auto den ganzen Weg außen herum zu fahren und die Lichtung über einen Feldweg zu erreichen.

Für mein Auto war es nicht gerade gut, wenn es sich jedes Mal über die hubbeligen Grashügel quälen musste. Als ich endlich ankam, war ich ganz durchgerüttelt. Meine Haare waren inzwischen trocken und ich steckte sie einfach irgendwie mit ein paar Nadeln auf meinem Kopf zusammen. Wenigstens war es hier nicht so brennend heiß.

So einfach konnte man sich das Gefühl verschaffen, auf einem anderen Planeten zu sein. Mitten auf der sonnendurchfluteten Lichtung stand ein Wohnmobil. Es war nicht mehr das neuste Modell und das Auto, welches es einmal hierhergezogen hatte, parkte einfach ein paar Meter entfernt davon im Graben. Irgendwann würde es überwuchert von Efeu.

Es sah aus wie auf einem Hippie-Campingplatz, obwohl hier nur eine Person lebte. Keine Ahnung, wie ein einziger Mensch so ein Chaos errichten konnte. Ich meine damit, dass einfach alles kreuz und quer in der Landschaft verstreut war. Egal was es war. Nichts hatte seinen Platz, alles flog einfach durch die Gegend oder wanderte über die Wiese. Alles wurde eben dort aufbewahrt, wo es fallen gelassen wurde. Es war wie unter der Kuppel einer Schneekugel, in die eine kleine Nische hineinführte und schon war man in eine seifenblasenartige Welt geschlüpft.

Ich bemerkte ihn erst, als mir sein Arm auffiel, der aus der Hängematte baumelte, und darunter der Kater Mo, wie er sich zusammengerollt hatte. Mo war steinalt, aber das machte ihn ja so liebenswert. Ich mochte Katzen nie besonders, aber Mo war kein gewöhnliches Haustier. Für einen Kater war er zu verschmust. Das musste das Hippie-Leben hier aus ihm gemacht haben, als Barti vor einigen Jahren seinen Job aufgegeben hatte und seither in diesem Wohnwagen hauste.

 

Warum?

Warum gibt jemand seinen Job, seine Wohnung in der Stadt auf? Hugo Boss-Anzüge, eine Fossil-Uhr, ein fabrikneuer Mercedes, teure Gardinen, das Entertainment-Paket zum Flatscreen, den Status bei Facebook, die Mitgliedschaft im Fitnessstudio, VIP-Lounge im Club, „Freunde“. Es gibt mehr Menschen, die beschlossen haben, sich nicht aufzugeben, als man glaubt. Natürlich leben sie nicht alle im Wald oder unter der Brücke. Es sind auch die Leute, die wissen, wie wichtig es ist, dass eine Bank vor dem Haus steht, wo jeder Platz nehmen darf.

Barti war mein Onkel. Für mich klingt das etwas merkwürdig, denn er war absolut kein gewöhnlicher Onkel wie einer, dem man auf einer Familienfeier die Hand gibt und etwas Smalltalk macht. Er war derjenige, den ich bei einer Familienfeier high unterm Apfelbaum im Garten fand, als ich mich zum Rauchen rausschlich. Ich war mir nie sicher, wie er sich dieses Leben hier finanziert hatte, aber es funktionierte irgendwie und es störte auch niemanden, dass er hier lebte.

Er hatte diesen Ort gut ausgesucht, denn er war perfekt, um einen kleinen Garten anzubauen. Die Sonne schien durch die grüne Blätterdecke, an manchen Stellen mehr, an anderen weniger. So kam das angenehme Klima zustande. Es war, ja, es war perfekt.

Ich ließ meine Schuhe im Auto und schlich langsam zu der Hängematte. Jetzt hörte ich auch das leise Rauschen des Radios, das auf der kleinen Treppe des Wohnwagens stand. Die Antenne war bis zum Anschlag ausgezogen, der Empfang war trotzdem furchtbar.

„Barti!“

Nicht mal ein Grunzen kam zurück.

„BARTI!“

Immerhin hatte Mo mich bemerkt und verzog sich schimpfend zum nächsten Schattenplatz, unter das Auto.

Ich gab der Hängematte mit meinem Fuß einen Schwung. Oben ohne und nur in Boxershorts hing er so in den Seilen. Barti war einer von den Typen, die mühelos gut aussahen. Auch drei Tage ungeduscht und unrasiert in ausgebeulten Hosen und T-Shirts. Seine Haare waren ziemlich verfilzt, aber es sah echt nicht schmuddelig aus. An jeder Körperstelle, um die man etwas wickeln oder schlingen konnte, baumelten diese uralten Surferketten und Lederbänder. Ohne den Behang und nur in seinen zerfetzten Jesus-Sandalen wäre er der zweite Big Lebowski gewesen. Nur, wie gesagt, gut aussehend.

„Ja, hallo, ich hab dich gar nicht kommen hören.“ Es war ein Wunder, dass er die Augen aufbekam.

„Deinen Zustand hätte ich jetzt auch gern“, sagte ich zur Begrüßung.

Barti lachte und erhob sich hustend und in Zeitlupe aus der Matte. „Das können wir ändern.“

Ich umarmte ihn. Ich umarme nicht viele Leute.

Wie gewohnt hingen wir dann auf diesen billigen weißen Plastikstühlen aus dem Baumarkt vor dem Wohnwagen herum. Hier konnte man es aushalten. Ich hatte ihn von Anfang an verstanden, als er beschlossen hatte, das normale Leben gegen dieses hier zu tauschen. Alle waren fassungslos und schockiert. Wie konnte er nur?! Wie konnte er nur was? Glücklich und zufrieden werden? Es war traumhaft hier. Zwar etwas einsam, aber ruhig und idyllisch. Er konnte tun und lassen, was immer er wollte. Wahrscheinlich kannte nicht mal Google Earth diesen Platz.

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