Vor Dem Fall

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Aus der Reihe: Gefallener Engel #3
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VOR DEM FALL
GEFALLENER ENGEL 3
L.G. CASTILLO
Übersetzt von LUISE PAWLING

“Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)”

Copyright © der Originalausgabe 2014 by L.G. Castillo.

Copyright © der deutschsprachigen 2020 by L.G. Castillo.

Alle Rechte vorbehalten.

BÜCHER VON L.G. CASTILLO

Gefallener Engel
Lash (Gefallener Engel 1)
Nach dem Fall (Gefallener Engel 2)
Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)
Jeremy (Gefallener Engel 4)
Der goldene Engel (Gefallener Engel 5)
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Englische Ausgabe
CONTEMPORARY ROMANCE
Stillwater Dusk
Strong & Wilde (Texas Wild Hearts #1)
Secrets & Surrender (Texas Wild Hearts #2)
Your Gravity
PARANORMAL ROMANCE
Lash (Broken Angel #1)
After the Fall (Broken Angel #2)
Before the Fall (Broken Angel #3)
Jeremy (Broken Angel #4)
Golden Angel (Broken Angel #5)
Archangel’s Fire
www.lgcastillo.com

1

Geräuschlos versteckte sich Naomi zwischen den wuchernden Büschen hinterm Haus ihrer Großmutter und achtete darauf, dass sie sich nicht die Arme zerkratzte.

Als sie das Knirschen von Kies hörte, hielt sie den Atem an. Jemand war in der Nähe ihres Verstecks.

Dann zog eine Hand sie an einem ihrer dicken Zöpfe.

»Autsch, Chuy! Verschwinde! Such dir dein eigenes Versteck.«

»Ach komm schon, Naomi«, entgegnete ihr Cousin. »Ich will nicht, dass Lalo mich zuerst findet.« Er streckte seinen dünnen Arm erneut aus, um sie an den Haaren zu ziehen.

Sie schlug seine Hand beiseite. »Das hast du davon, wenn du mit ihm um deine Luke-Skywalker-Puppe wettest.«

»Es ist keine Puppe. Es ist eine Actionfigur.«

»Ja klar.«

»Bitte, Naomi. Du bist kleiner als ich. Du kannst dir ein anderes Versteck suchen.«

Die siebenjährige Naomi musterte ihren Cousin Chuy verächtlich. Es war nicht das erste Mal, dass er versuchte, beim Versteck-Spielen mit seinem besten Freund Lalo Cruz und den anderen Kindern des Viertels zu schummeln. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass sie nett zu ihm sein sollte. Chuy hatte vor einigen Jahren seine Eltern verloren. Er lebte bei ihrer Großmutter, Belita. Jeden Sommer verbrachte Naomi zwei Wochen mit Belita und Chuy. Sie liebte es, obwohl Chuy sie ständig ärgerte.

Sie drehte sich um und spähte durch das Gebüsch.

»Ich weiß nicht.«

Chuy rieb seine Hand gegen Naomis Nacken und murmelte eine Beschwörungsformel: »Ich wünsche mir, dass Naomi verschwindet und sich ein neues Versteck sucht.«

»Lass das Chuy!« Sie schlug seine Hand beiseite. Seitdem er den Fleck Sommersprossen vor zwei Wochen beim Schwimmen entdeckt hatte, hatte er immer wieder daran gerieben und sich Dinge gewünscht. Er behauptete, dass der Fleck aussah wie die Zahl sieben und dass er also Glück bringen musste.

Eine rundliche braune Hand Griff ins Gebüsch und Lalo rief: »Du bist dran!«

»Mensch, Chuy! Jetzt guck, was du angerichtet hast.« Sie stapfte aus dem Gebüsch.

»Chuy, Naomi!«, ertönte Belitas Stimme in der Ferne. »Das Mittagessen ist fertig!«

»Ohhh, was gibt es denn?«, fragte Lalo, als sie alle zur Vorderseite des Hauses stürmten.

»Hühnchen-Mole«, erwiderte Chuy.

»Mein Lieblingsessen.«

»Das sagst du bei allem, was Belita kocht.«

»Weil es stimmt.«

»Du solltest Belita besser fragen, ob Lalo bei uns essen kann«, warf Naomi ein und rang nach Luft.

»Belita, kann Lalo bei uns Mittag essen?«, bat Chuy, als sie die Veranda an der Vorderseite des Hauses erreichten.

Belita stand auf der obersten Stufe und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Er isst doch jeden Tag bei uns Mittag.«

Sie sah Lalo über ihre pinkgetönten Brillengläser an. »Wundert sich deine Mutter nicht, wo du bleibst?«

»Nein, ich hab ihr gesagt, dass ich hier bin und dass du die beste Köchin in ganz Houston bist. Da hat sie ihre Chancla nach mir geworfen und angefangen, zu schreien. Ich glaube, sie ist wütend.«

Naomi kicherte bei der Vorstellung daran, wie der Flipflop seiner Mutter durch die Luft segelte. Sie wusste, dass es nur eine harmlose Geste gewesen war. Aber eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Die Kochkünste einer Frau beleidigte man nicht ungestraft.

»Ay, Dios mío.« Belita zog ein Geschirrtuch aus der Tasche ihrer Schürze und wischte sich die Stirn ab. »Ich muss nachher mit ihr sprechen und das wiedergutmachen. Keine Sorge, Lalo, ich bieg das schon wieder hin.«

»Danke, Belita«, sagte er und stürmte mit Chuy die Verandastufen hinauf.

»Naomi.« Belita legte ihr eine Hand auf die Schulter, als sie die letzte Stufe erreichte. »Würdest du die Bettwäsche von der Leine nehmen? Ich habe sie heute Morgen aufgehängt. Sie müsste jetzt trocken sein.«

»Aber bis ich fertig bin, haben Chuy und Lalo alles aufgegessen. Die Hälfte ist bestimmt jetzt schon weg.«

»Ich verspreche dir, dein Mittagessen wird auf dich warten, wenn du reinkommst. Es wird ja nicht lange dauern.«

»Na gut.« Naomi sprang von der Veranda und lief in den Hinterhof, wo Belita die Bettwäsche zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie wusste schon, was sie sich dieses Jahr zu Weihnachten von ihren Eltern wünschen würde – einen Trockner für Belita.

Als sie um die Ecke bog, hörte sie, wie Belita rief: »Ay, hört doch auf so zu schlingen. Jetzt muss ich für Naomi und mich mehr machen.«

Naomi wurde langsamer. Es war nicht mehr nötig, sich zu beeilen.

Die weißen Laken flatterten im Wind. Sie legte die Hand an eines. Es war trocken. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und und griff nach den Wäscheklammern.

Als sie das Laken gerade zusammenfalten wollte, sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich hinter dem anderen Laken ein Schatten bewegte.

»Ha ha, Chuy. Du kannst mir keinen Schreck einjagen. Ich weiß, dass du –«

Ihr blieb der Mund offen stehen, als eine Frau auf sie zuschwebte – die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Ihr dunkles Haar fiel ihr in weichen Wellen über die Schultern. Ihre Haut war glatt wie Porzellan. Sie trug ein feines, cremefarbenes Kleid mit einem Spitzenbesatz am Kragen. Das Kleid wallte um sie herum, als sie näher kam.

Sanfte, haselnussbraune Augen sahen sie an. So erschrocken Naomi auch war, es schien, als könnte die Frau nicht glauben, was sie sah. Langsam streckte sie die Hand aus.

»Naomi«, hauchte sie.

»Ahhh…«

»Tut mir leid.« Die Frau ließ ihre Hand sinken. »Ich wollte dir keine Angst machen.«

Naomi holte tief Luft und reckte das Kinn in die Höhe. »Ich hab keine Angst.«

Die Frau klatschte erfreut in die Hände. »Du bist es. Endlich bist du hier. Ich habe so lange auf dich gewartet.«

Naomi sah sich suchend nach Chuy und Lalo um. Sie hatten diese Frau offenbar bezahlt, damit sie hierher kam und ihr einen Streich spielte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, woher sie das Geld haben sollten.

»Wer sind Sie? Woher kennen Sie mich?«

»Wir kannten einander vor langer Zeit. Ich heiße Rebecca.«

Naomi verzog nachdenklich das Gesicht. »Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«

»Natürlich nicht. Aber ich hoffe, eines Tages wirst du es.« Sie blickte sich um, als ob sie noch jemanden erwartete. »Es gibt da etwas, dass ich dir sagen muss.«

»Okay.«

»Aber ich bin nicht sicher, dass du mir glauben wirst. Du bist noch jung, deshalb wirst du es vielleicht.«

»Was ist es?«

Die Frau ließ sich auf die Knie sinken und sah ihr in die Augen. »Ich bin ein Engel.«

Naomi sah sie misstrauisch an. »Das sind Sie?«

Sie nickte. »Ich will dir etwas zeigen. Hab keine Angst.«

Rebecca legte ihr eine Hand auf die Stirn. »Hizahri.«

Naomi fragte sich, was das merkwürdige Wort bedeutete. Es klang nicht wie Englisch oder Spanisch. In ihren Schläfen breitete sich ein Gefühl der Taubheit aus, als ob sie Kopfschmerzen bekäme. Sie hatte eine Vision von einer jungen Frau mit langem dunklen Haar und hellblauen Augen. Es verschlug ihr den Atem. Sie sah aus, wie sie aussehen würde, wenn sie erwachsen wäre. Es war, als zeigte Rebecca ihr die Zukunft. Aber das konnte nicht sein. Die junge Frau sah aus, als sei sie eben aus dem Film Die zehn Gebote herausgetreten. Das waren die längsten vier Stunden gewesen, die sie jemals mit Belita bei einem Film hatte zubringen müssen.

 

Die Vision veränderte sich und wurde zu einem jungen Mann, der Rebecca ähnlich sah. Der Mann sah umwerfend gut aus – und stark. Als er sich der jungen Frau näherte, lächelte sie und nannte ihn »Lahash«.

Rebecca nahm die Hände weg und die Vision verschwand.

»Hey, ich will noch mehr sehen.« Der Mann, der Lahash hieß, kam ihr bekannt vor. Vielleicht hatte sie ihn in einem der Krippenspiele gesehen, zu denen Belita sie in den Feiertagen um Weihnachten gern schleppte. Das war der einzige Anlass, bei dem sie sich daran erinnern konnte, Männer in Roben gesehen zu haben, die lange Stäbe bei sich trugen.

»Tut mir leid. Mehr kann ich dir nicht zeigen.«

»Wieso nicht?«

»Sagen wir einfach, ich könnte bei meinem Boss in Schwierigkeiten geraten für das, was ich dir gezeigt habe.« Sie erhob sich und trat auf das Laken auf der Wäscheleine zu.

»Warte! Wann werde ich Sie wiedersehen?« Naomi strich sich den Pony aus der verschwitzten Stirn.

»Für eine ganze Weile nicht«, antwortete Rebecca und drehte sich um, um sie anzusehen. »Und ich fürchte, wenn ich zurückkehre, wirst du mich nicht sehen.«

»Wieso nicht?«

Sie rieb sich die Augen, als Rebeccas Körper vor ihr verblasste. »Weil die Menschen aufhören zu glauben, wenn sie erwachsen werden.«

»Das werde ich nicht. Bitte komm zurück und zeig mir mehr. Ich werde nicht aufhören zu glauben.«

Rebecca lächelte sie sanft an. »Und genau deshalb bist du etwas Besonderes, Naomi.«

Dann war sie verschwunden.


Naomi starrte Rebecca mit offenem Mund an. Ein sanftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie aufhörte zu sprechen. Jeder der Anwesenden im Zimmer – Jeremy, Lash, Uri, Rachel, Raphael, sogar Gabrielle – sahen Rebecca voll gespannter Erwartung an.

Als Rebecca begonnen hatte, zu erzählen, wie sie Raphael kennengelernt hatte, hatte Naomi nicht damit gerechnet, dass sie damit beginnen würde, wie sie mit Chuy und Lalo Verstecken gespielt hatte.

»Ich glaube…«, begann Naomi und durchbrach das Schweigen. »Ich erinnere mich daran. Ich dachte nicht, dass es wirklich passiert ist. Ich dachte, es sei ein Traum gewesen. Wie damals, als ich träumte, dass die Figuren aus der Sesamstraße bei uns im Viertel eine Parade abhielten.«

»Du hast von Bibo geträumt?« Lash grinste schief.

»Wer ist Bibo?«, fragte Uri im Flüsterton.

»Zeig ich dir später«, flüsterte Rachel zurück.

»Oh, hört sich ziemlich pervers an.«

Bei Uris Antwort verdrehte Naomi die Augen. »Das tut jetzt nichts zur Sache«, wandte sie sich an Lash. »Als ich klein war, fühlten sich meine Träume so echt an, dass ich dachte, sie wären wirklich. Als ich älter wurde, wusste ich es besser. Wie zum Beispiel, dass es unmöglich war, dass Bibo und Schnuffi mitten in der Nach vor meinem Haus standen. Ich habe immer angenommen, dass es ein Traum war.«

»Also dachtest du, als du Rebecca begegnet bist, das sei auch ein Traum gewesen«, sagte Gabrielle.

»Danke, ja. Ich meine, ich war noch ein Kind und dann… bin ich erwachsen geworden.« Sie sah wieder zu Rebecca und schluckte schwer. »Und ich habe mein Versprechen gebrochen. Ich habe aufgehört zu glauben.«

Wann ist das passiert? Ist das wirklich, was passiert, wenn man erwachsen wird? Naomi war nachdenklich.

»Oh nein.« Sie wandte sich an Lash. »Was, wenn ich nie aufgehört hätte, zu glauben? Was, wenn ich daran festgehalten hätte? Vielleicht hätte ich mich an dich erinnert. Ich meine, kurz nachdem ich dich getroffen hatte, gab es Momente, in denen ich das Gefühl hatte, dich zu kennen. Da waren Bruchstücke von Erinnerungen, die in meinem Kopf aufgetaucht sind. Das war ganz merkwürdig. Ich wusste nicht, wo sie herkamen. Jedes Mal, wenn ich mit dir zusammen war, hatte ich ein Déjà-vu und habe es einfach immer verdrängt.«

»Du hast es nicht gewusst«, antwortete er und ergriff ihre Hand. »Hey, das habe ich auch nicht.«

»Naomi.« Rebecca kam durch das Zimmer auf sie zu. Lash rückte beiseite, um ihr Platz zu machen und sie setzte sich zwischen sie. »Ich habe diese Begebenheit nicht mit dir geteilt, damit du dich schlecht fühlst. Ich wollte, dass du verstehst, dass ich immer da war, gewartet und nach dir Ausschau gehalten habe.«

»Warum?«

»Das ist Teil unserer Familiengeschichte.«

»Unsere Geschichte ist nicht leicht zu erzählen«, warf Raphael ein. »Wir alle« – er machte eine Handbewegung, die alle im Raum miteinbezog – »haben das, was sich vor langer Zeit ereignet hat, unterschiedlich erlebt. Wenn wir alle teilen, woran wir uns erinnern, können wir leichter verstehen, was damals geschehen ist. Soll ich anfangen?«

»Okay«, antwortete Naomi und die anderen nickten.

»Alles begann, als Raguel – Verzeihung, ich meine Rachel – und ich zu einer Mission in die Stadt Ai geschickt wurden.«

»Grundgütiger«, sagte Rachel. »Das ist so lange her. An diese Zeit habe ich schon Ewigkeiten nicht mehr zurückgedacht. Das war damals, als ich für Obadiah meinen Namen geändert habe.«

»Ich dachte, du hättest deinen Namen geändert, weil Jeremy anfing, dich Ragout-Spaghettisoße zu nennen«, warf Lash ein.

»So habe ich sie nicht genannt«, wehrte Jeremy ab. »Moment mal – hab ich doch.«

»Ein Klassiker.« Uri grinste und sie schlugen die Fäuste aneinander.

Rachel funkelte Uri an und er würgte ein Lachen hinunter, das er schnell in ein Hüsteln umwandelte.

»Tut mir leid, mein Schatz. Ich versuche nur, die Stimmung etwas aufzulockern. Ich denke nicht gern daran zurück, wie ich damals war… wie ich dich vor all diesen Jahren behandelt habe.«

»Ich weiß. Für mich ist das auch schwer, aber wir haben es überlebt.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange, bevor sie sich wieder an Naomi wandte. »Also, wo war ich stehen geblieben?«

»Du hast von einem Mann gesprochen, der Obadiah hieß«, half Naomi ihr.

»Ach, richtig. Obadiah. Ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen berührte.«

2

1400 V. CHR

»Bist du sicher, Raphael?«, fragte Raguel.

Der Erzengel Raphael musterte die Ansammlung von Zelten am Fuße des Hügels. Tränen schimmerten in seinen Augen, als sein Blick über die Menschen glitt, die sich draußen vor den Toren der Stadt häuslich niedergelassen hatten. Sie waren Ausgestoßene, die von allen wegen einer Krankheit gemieden wurden, für die sie nichts konnten. Ob jung oder alt, Mann oder Frau, arm oder reich – das war für die Menschen in Ai unwichtig. Sobald die Geschwüre am Körper auftauchten, wurde der betroffene Mensch aus dem Schutz der Stadt verstoßen. In ihren Augen hatte sich Gott von den von Krankheit Geplagten abgewandt, also sollten sie es auch tun.

Er wandte sich seiner zierlichen Begleiterin zu. »Ja. Ich bin sicher. Wir wurden ausgesandt, um ihnen Trost zu spenden. Wie sollen sie ohne eine Berührung Trost finden?«

Ihre braunen Augen weiteten sich bei seinen Worten. »Michael wäre böse, wenn er es herausfände.«

Raphael lächelte. »Dann werden wir es ihm nicht erzählen, einverstanden? Sie wurden aus ihren Häusern verbannt und von ihren Familien verstoßen. Sie haben genug gelitten.«

»Sie haben Angst. Diese Leute haben alle Anzeichen von Lepra und wurden für unrein erklärt.«

Raphael runzelte die Stirn. »Sie sind immer noch Seine Kinder. Sie verdienen allen Trost, den wir ihnen spenden können.« Er blickte auf sie herab. »Es mag uns nicht erlaubt sein, ihre Körper zu heilen, aber wir können ihre Seelen heilen. Schon die Berührung einer liebenden Hand kann ein gebrochenes Herz heilen.«

Sie sah auf ihre Hände hinab. »Ich habe noch nie einen Menschen berührt. Wie fühlt es sich an?«

»Warm, lebendig. Es ist anders als jedes andere Gefühl, das ich erlebt habe. Der Höchste hat ein wundervolles Wesen geschaffen.«

»Das Gefühl kenne ich.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne und an ihrem Gesichtsausdruck konnte Raphael ablesen, dass sie an Uriel dachte, den himmlischen Erzengel des Todes. Wenn Gabrielle ihm nicht von Raguels wachsenden Gefühlen für Uriel erzählt hätte, hätte er es nie erraten. Er war nicht jemand, dem solche Kleinigkeiten auffielen. Dankenswerterweise hatte Gabrielle Raguel mit ihm auf seine irdische Mission geschickt in der Hoffnung, dass sie so etwas Abstand zu Uriel bekäme. Obwohl Gutes tief im Herzen Uriels schlummerte, hatte er in letzter Zeit einen feinen Grat zwischen dem Guten und dem Unmoralischen beschritten, ähnlich wie Luzifer.

Luzifer war sein guter Freund und wurde von allen im Himmel geachtet. Allerdings hatte sich Raphael in letzter Zeit unwohl gefühlt angesichts einiger Vorschläge, die Luzifer ihm gegenüber geäußert hatte. Über die Jahre hatte sich Luzifer mit einigen Gefolgsleuten umringt – oder Freunden, wie er es vorzog sie zu nennen. Er sprach davon, dass Gott die Menschen mehr liebte als seine Engel. Er behauptete, dass die Engel über die Menschen herrschen sollten, anstatt ihnen zu dienen. Einmal hatte er sogar vorgeschlagen, dass die Engel die Menschen durch Vermehrung verdrängen sollten, indem sie sich menschliche Frauen nehmen sollten, um eine Masterrasse zu erschaffen, die besser wäre, als die von Gott geschaffene.

Raphael schauderte bei diesem Gedanken. Wenn Luzifer seine neidische Seite zeigte, sah Raphael, wie das Böse in seinem Freund Wurzeln schlug.

Er sah zu Raguel und bemerkte den sanften Ausdruck auf ihrem Gesicht. Besorgt runzelte er die Stirn. Ihre Liebe zu Uriel würde sie auf die Probe stellen, wenn er den Pfad des Unmoralischen wählte. Wie die Menschen hatten auch alle Engel den freien Willen erhalten. Er sorgte sich um sie. Ihre einzige Rettung war die Tatsache, dass der eigennützige Uriel ihre Gefühle nicht zu erwidern schien – er war zu sehr von sich selbst eingenommen.

»Weißt du, wie man die Gestalt wechselt?«

Er ergriff ihre Hand, um ihr helfen zu können, wenn das nötig sein sollte. Es kam selten vor, dass Engel auf die Erde geschickt wurden. Meist war ihre Arbeit darauf begrenzt, vom Himmel aus über Menschen zu wachen. Wenn Engel ausgeschickt wurden, nahmen sie fast nie menschliche Gestalt an. Er selbst hatte das erst einmal getan… mit der Erlaubnis des Erzengels Michael.

»Nein. Ist es schwer?«

»Überhaupt nicht. Zuerst musst du deine Flügel in deinen Körper klappen.«

»Das geht?«

»Es gibt vieles, was wir tun können. Dir ist nicht bewusst, welche Gaben wir im Vergleich zu den Menschen haben.«

»Na ja, ich habe nie wirklich mit ihnen zu tun gehabt – es ist mein erster Auftrag auf der Erde«, erklärte sie, während sie ihre Schultern vor- und zurückbewegte. Ihre Stirn war gerunzelt, als sie versuchte, zu erspüren, wie sie ihre Flügel zusammenfalten konnte.

Er seufzte. »Leider ist es möglich, dass es nur eines von vielen weiteren Malen ist, die noch kommen. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, in der Engel vielleicht ein- oder zweimal in hundert Jahren zur Erde geschickt wurden. Das ist jetzt häufiger der Fall und ich fürchte, in der Zukunft wird man uns noch öfter brauchen.«

Aus irgendeinem Grund musste er an Luzifer denken, als er das sagte. Er schüttelte den Gedanken ab.

Raguel hörte auf, mit den Flügeln zu schlagen.

»Was ist los?«

»Nichts«, sagte sie.

Er ging um sie herum und legte ihr von hinten die Hände auf die Schultern. »Es ist leichter, wenn du stillstehst. Jetzt streck deine Schultern durch und dreh die Schulterblätter nach innen, so, als ob du wolltest, dass sie einander berühren.«

»So?« Ihre kleiner Busen schob sich vor, als sie die Schultern nach hinten zog.

»Ja. Sehr gut. Spann deinen Rücken ein wenig an und deine Flügel sollten – «

Mit einem lauten Rauschen stolperte sie nach vorn. Ihre Flügel klappten in ihren Körper.

»Autsch! Tut das immer so weh?«

Er lachte leise und streckte die Hand aus, um ihr auf die Beine zu helfen. »Du hast dich ein bisschen zu sehr verspannt. Mit ein wenig Übung wirst du dich daran gewöhnen.«

»Du sagst das, als wäre das hier nicht das letzte Mal, dass ich menschliche Gestalt annehmen muss.«

Vielleicht müssen wir das öfter, als wir denken, dachte er.

»Was kommt als nächstes?«

»Konzentriere dich auf den Kern deines Wesens. Genau hier.« Er legte zwei Finger auf die Mitte ihres Unterbauchs. »Jetzt drück nach außen, als ob du versuchen wolltest, meine Finger von deinem Körper wegzustoßen.«

»So… whoa! Da ist was Matschiges unter meinen Füßen.« Sie hob einen Fuß und starrte auf den Boden.

»Das ist Sand.«

 

»Fühlt sich alles Land so an?«, fragte sie, stellte ihren Fuß wieder auf den Boden und wackelte mit den Zehen.

»Nein, nur der Sand«, antwortete er und ging in Richtung der Zelte. »Komm. Dein erster Kontakt mit Menschen ist etwas, das du nie vergessen wirst.«