Lash (Gefallener Engel 1)

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Lash (Gefallener Engel 1)
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LASH
GEFALLENER ENGEL 1
L.G. CASTILLO
Übersetzt von LUISE PAWLING

“Lash (Gefallener Engel 1)”

Copyright © der Originalausgabe 2013 by L.G. Castillo.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by L.G. Castillo.

Alle Rechte vorbehalten.

BÜCHER VON L.G. CASTILLO

Gefallener Engel
Lash (Gefallener Engel 1)
Nach dem Fall (Gefallener Engel 2)
Vor dem Fall (Gefallener Engel 3)
Jeremy (Gefallener Engel 4)
Der goldene Engel (Gefallener Engel 5)
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Englische Ausgabe
CONTEMPORARY ROMANCE
Stillwater Dusk
Strong & Wilde (Texas Wild Hearts #1)
Secrets & Surrender (Texas Wild Hearts #2)
Your Gravity
PARANORMAL ROMANCE
Lash (Broken Angel #1)
After the Fall (Broken Angel #2)
Before the Fall (Broken Angel #3)
Jeremy (Broken Angel #4)
Golden Angel (Broken Angel #5)
Archangel’s Fire
www.lgcastillo.com

1

Lash betrachtete eingehend die Anzeige mit den ankommenden Flügen. Verwirrt suchten seine haselnussbraunen Augen die Liste der Flüge ab, die in Houston Airport landeten und starteten.

»1742, 1742…«, murmelte er. Die Buchstaben und Zahlen von Flugnummern und Städten blätterten um, als sich die Ankunftsgates änderten. »Verdammt. Wie liest man dieses Ding?«

Er fuhr sich verärgert mit einer Hand über das dunkle Haar. Ein Seraph sollte in der Lage sein, etwas so Simples wie das Ankunftsgate seines Arbeitsauftrages zu finden.

Lash seufzte und warf einen Blick auf die Informationen, die ihm Erzengel Gabrielle, seine direkte Vorgesetzte, gegeben hatte. Wie sein Glück es so wollte, war er dem einen Erzengel unterstellt worden, der seine Misere auskostete. Er traute ihr durchaus zu, ihm absichtlich die falschen Fluginformationen gegeben zu haben, damit er gezwungen war, sich in den letzten Minuten abzuhetzen, um seinen Schützling zu finden.

»Javier Duran, acht Jahre alt. Flug 1724, Ankunft 12.05 Uhr«, las er. Er drehte die Karte um und sah auf das Foto des kleinen Jungen mit heller, kaffeefarbener Haut, Pausbäckchen und großen, braunen Augen.

»Wo ist dein Flugzeug, Kleiner?« Er blickte erneut auf, als die Nummer 1724 auf der Anzeigetafel erschien.

»Endlich.« Er merkte sich die Gatenummer und bahnte sich seinen Weg durch die belebte Menge.

»Was? Ich kann dich nicht hören!« Eine junge Frau schrie in das Münztelefon. »Nein, sein Flugzeug ist noch nicht gelandet. Es sollte in wenigen Minuten hier– «

Die Frau brach mitten im Satz ab und Lash drehte sich nach ihr um, neugierig zu sehen, was geschehen war. Die Frau blinzelte ihn durch ihre pink-getönte Brille direkt an.

Er zuckte überrascht zurück. Es war, als könnte sie ihn sehen. Die meisten Menschen konnten das nicht, wenn er seine Engelsgestalt annahm – abgesehen von kleinen Kindern oder Tieren, aber selbst das war selten. Wenn Erwachsene einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschten, taten sie ihn häufig als ein Gebilde ihrer Fantasie ab.

»Anita, qué pasó?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was ist los?«

»Warte mal kurz, Gloria.« Anita nahm ihre Brille ab und säuberte die Gläser an ihrer geblümten Polyesterbluse.

Lash stand bewegungslos und wartete ab, um zu sehen ob sie etwas über seine Anwesenheit sagen würde. Anita setzte ihre Brille wieder auf und ihre braunen Augen schossen erneut in seine Richtung. Einen Augenblick später schüttelte sie den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Anrufer.

»Nicht so wichtig. Ich dachte, ich hätte was gesehen.«

Er atmete aus – sie hatte ihn doch nicht gesehen; zumindest nicht mehr, als den flüchtigen Schimmer, den andere manchmal zu sehen behaupteten.

»Gib mir die Info nochmal. Ich muss das aufschreiben.« Anita kramte in ihrer Handtasche und zog ein Stück Papier heraus. Süßigkeiten- und Kaugummipapier fiel auf den Teppich, zusammen mit einem schwarzen Stift. »Wo ist mein Stift? Ich finde in dieser Tasche überhaupt nichts mehr.«

»Richte ein Gebet an den heiligen Antonius.«

»Gute Idee.« Anita schloss die Augen. »Sankt Antonius, Sankt Antonius. Bitte komm herab. Etwas ist verlorengegangen und kann nicht wiedergefunden werden. Hilf mir, meinen Stift zu finden, damit ich die Infos aufschreiben kann, die Gloria mir diesen Morgen hätte geben sollen, bevor mein achtjähriger Sohn ganz allein das Flugzeug bestiegen hat. Und wenn du schon mal dabei bist, kannst du den Herrn bitten, Gloria ihre Vergesslichkeit zu vergeben? Sie muss meinen Exmann ertragen, und Gott allein weiß, wie hilflos dieser Mann ist – besonders, wenn es darum geht, seine Unterwäsche zu waschen.«

»Das ist genug gebetet«, fauchte Gloria am anderen Ende der Leitung.

Er lachte leise in sich hinein. Es gab keinen heiligen Antonius – zumindest nicht am Flughafen. Er hob den Stift auf und legte ihn auf die Kante der Ablage am Münztelefon.

Anita schauderte. »Dios mío, mir ist ganz kalt geworden. Sie halten es kühl hier drinnen. Sie sollten –« Ihre Augen weiteten sich, als sie den Stift sah. »Wie ist der denn hier hingekommen?«

Anita drehte sich um und er erstarrte. Sie stand Nasenspitze an Nasenspitze mit ihm – so dicht, dass er ihren Pfefferminz-Atem riechen und einen Lippenstiftfleck auf ihrem Vorderzahn sehen konnte. Sie schloss die Augen und lächelte. »Gracias, Sankt Antonius. Ich bin gesegnet.«

Lash blinzelte verblüfft. Es war lange her, dass er einem Menschen wie ihr begegnet war. Eine Aura des Friedens umgab die winzige, dunkelhaarige Frau, als ob sie wüsste, dass sie über sie wachten.

Er sah zur Uhr und verließ Anita, die sich weiter mit Gloria unterhielt. Das Flugzeug des Jungen sollte bald landen. Während er durch die Halle eilte, fragte er sich, ob Anitas Sohn sein Auftrag war.

Als er das Gate erreichte, sah er aus dem großen Fenster hinaus auf die Landebahn, wo das Flugzeug sich hätte befinden sollen. Stattdessen stand sein bester Freund Jeremy auf dem Rollfeld. Er war tadellos gekleidet, was ihn mehr nach einem Model vom Cover des GQ Magazines aussehen ließ, als nach dem Erzengel des Todes. Sein goldenes Haar, das nach hinten aus dem Gesicht gestrichen war, schimmerte in der texanischen Sonne. Lash fand es ziemlich merkwürdig, dass ihm sein Äußeres so wichtig war, wenn man bedachte, dass er selten in seiner menschlichen Form erschien. Die meisten Menschen kannten ihn nur unter seinem Engelsnamen Jeremiel und wenn er ihnen erschien, lag das daran, dass sie im Sterben lagen. Jeremy hatte, wie Lash, vor einigen Jahren entschieden, seinen Namen moderner zu machen. Zu schade, dass er das nicht auch mit seiner Kleidung getan hatte. Verglichen mit Jeremy sah Lash aus wie der ewige Teenage-Rebell, weil er zerrissene Jeans und enganliegende T-Shirts bevorzugte.

Lash fragte sich, warum Jeremy beim Pokern letzte Nacht keinen Auftrag in Houston erwähnt hatte. Zum ersten Mal, seit sie vor Jahrzehnten angefangen hatten zu spielen, hatte Lash gewonnen und sie hatten sich prächtig amüsiert – Zigarren rauchend und Whisky trinkend. Erst, als Gabrielle aufgetaucht war und Lash den Auftrag übergeben hatte, war Jeremy ungewöhnlich still geworden. Er schien außergewöhnlich aufgebracht, als er Lash darum bat, einen Schuldschein als Gewinn zu akzeptieren – obwohl Lash sich nicht vorstellen konnte, dass er jemals einen Grund haben sollte, ihn einzulösen. Gabrielle schien ebenfalls in schlechter Stimmung zu sein. Vielleicht hätte er noch einmal darüber nachdenken sollen, ihr Rauch direkt ins Gesicht zu blasen. Das hatte ihr wahrscheinlich nicht gefallen.

Er wollte Jeremy gerade auf der Landebahn Gesellschaft leisten, als Gabrielle in sein Sichtfeld glitt. Sie flüsterte Jeremy etwas ins Ohr und dessen ewig präsentes Lächeln gefrohr. Was auch immer sie ihm erzählt hatte, es konnte nichts Gutes gewesen sein.

Er folgte Jeremys Blick und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf. Weit entfernt sah er einen winzigen Fleck und wusste instinktiv, dass es Flug 1724 war. Er schaute hinüber zu Jeremy und fragte sich, ob dessen Auftrag jemanden auf dem gleichen Flug betraf.

Jeremy nickte Gabrielle zu und verschwand im selben Moment. Angst grub sich wie eine Faust in Lashs Magen, als Gabrielle ihre Arme in die Luft hob und ihre schlanken Hände in Kreisen herumwirbeln ließ. Die Bäume am Rand des Flughafens schwankten, als der Wind zunahm und sich dunkle Wolken zu formen begannen.

 

Lash presste seine Handflächen gegen die Glasscheibe. Was tat sie da? Er biss die Zähne zusammen und fragte sich, ob sie ihm seinen Job absichtlich erschwerte. Ihm war aufgetragen worden, über Javier zu wachen und sicherzustellen, dass er heil zu seiner Mutter zurückkam. Gabrielle hatte bequemerweise vergessen, ihm zu sagen, dass Javier in echter Gefahr schweben würde – oder die Gefahr von Gabrielle selbst ausgehen würde.

Lash sah zu, während sie fortfuhr, Wind und Wolken zu manipulieren.

»Sieht aus, als ob ein Sturm aufzieht«, sagte eine Frau, die in der Sitzreihe hinter ihm saß.

»Da sieht man mal wieder das texanische Wetter«, sagte der Mann neben ihr. »Im einen Moment der schönste Sonnenschein; man blinzelt, und auf einmal ist die Hölle los.«

Ein lautes Donnergrollen ließ das Glas unter Lashs Händen vibrieren. Er trat zurück, als ein Schauer von Eiskörnern auf den Boden trommelte.

»Gott sei uns gnädig.«, sagte die Frau, während sie eine Hand an ihre Brust presste. »Das war laut.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich hoffe, es ist bald vorbei. Ich würde nicht gern da oben von diesem Sturm erwischt werden.«

Da wusste Lash, weshalb Gabrielle und Jeremy anwesend waren und weshalb er diesen Auftrag erhalten hatte. Nicht alle Passagiere vom Flug 1724 würden Houston lebend erreichen.

Er schloss die Augen und projizierte sich selbst ins Flugzeug. Als er sie öffnete, stand er im Gang neben einem hübschen Mädchen. Ihr blassblondes Haar war hinter ihre Ohren zurückgestrichen und betonte die lebhaften blauen Augen. Sie konnte nicht älter als zwölf sein, aber etwas an ihr ließ sie für ihr Alter weise erscheinen.

Lash blickte zum Fenster hinaus in den Nebel aus Dunkelheit, der das Flugzeug umgab. Um ihn herum murmelten die Passagiere besorgt, als sie hinaussahen. Sie hatten Angst.

Ein schluchzendes Geräusch vom Sitz hinter dem Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit und er trat näher heran. Auf dem Sitz saß ein kleiner Junge, dessen Füße kaum den Boden berührten. Javier.

»Mutter, er hat Angst«, sagte das kleine Mädchen. »Darf ich mich neben ihn setzen?«

Die Frau, eine ältere Version des hübschen Mädchens, nahm nervös einen Schluck von ihrem Cocktail.»Nein, es ist jetzt nicht sicher.« Ein Ruck ging durch das Flugzeug und sie ließ ihr Getränk zu Boden fallen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte auf ihren weißen Leinenanzug. Ihr wich alle Farbe aus dem Gesicht, als sie die Armlehne umklammerte. »Oh, mein Gott.«

Das Mädchen lehnte sich in den Gang und sah nach hinten zu dem kleinen Jungen, der hinter ihr saß. »Aber er ist ganz allein.«

»Tu, was ich sage, oder ich werde es deinem Vater erzählen müssen, wenn wir nach Hause kommen!«, fuhr die Frau sie an, während sie ihre Hose mit einer Serviette abtupfte. »Die Stewardess wird sich um ihn kümmern.«

Lash sah das Mädchen heftig blinzeln und fühlte ein Ziehen in der Brust, als sie ihre Tränen wegwischte. Sie setzte einen entschlossenen Blick auf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen richtete.

»Ist ja okay. Schhhhhh, nicht weinen. Wir werden bald landen«, sagte sie. »Wie heißt du?«

Der kleine Junge sah auf. Braune Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden, begegneten ihrem Blick. Tränen zogen Spuren über seine Pausbacken. »Ja– Javier.« Er schniefte und wischte sich die Nase an der Rückseite seines Hemdsärmels ab.

»Hi, Javier. Ich bin Jane.«

Das Flugzeug machte einen Satz nach unten und Javier hob es für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Sitz, bevor er wieder auf seinen Platz zurückfiel. Er schluchzte..

Lash kniete sich neben ihn und sandte eine Welle aus Gelassenheit aus in der Hoffnung, dass der Junge seine Anwesenheit spüren konnte.

Javier schnaufte, als ob er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Eine blasse Hand streckte sich ihm entgegen.

»Alles wird gut, Javier. Mach dir keine Sorgen. Ich werde deine Hand halten, bis wir landen. Okay?«

Javier sah Jane an. Seine schwarzen Locken wippten, als er nickte.

Lash zerriss es das Herz, als Javier seine Hand ausstreckte und sie in Janes legte. Es war lange her, dass er jemanden so selbstlos hatte handeln sehen. Er sah sich im Flugzeug um in der Erwartung, Jeremy zu sehen. Da er nicht anwesend war, gab es vielleicht noch Hoffnung für das kleine Mädchen und die anderen.

Das Flugzeug bebte heftig und die Stewardessen liefen die Gänge hinunter, um die Fluggäste aufzufordern, ihre Sicherheitsgurte anzulegen. Dann eilten sie zu ihren eigenen Sitzen und schnallten sich selbst an.

Es gab einen lauten Knall, gefolgt vom Kreischen zerreißenden Metalls. Schreie erfüllten die Kabine und gelbe Sauerstoffmasken fielen von der Decke.

Jane ließ Javiers Hand einen Moment lang los, um ihre Maske aufzusetzen und er begann zu weinen. Lash lehnte sich vor und flüsterte: »Hab keine Angst. Ich bin für dich da.«

Javier weinte immer noch laut, als Lash sich über ihn beugte. Er sah hinüber zu Jane, deren zitternde Hände die gelbe Maske über ihr Gesicht zogen. Als sie fertig war, beugte sie sich nach hinten und streckte ihre Hand nach Javier aus. »Setz deine Maske auf!«, rief sie.

Javier ergriff ihre Hand und sah sie mit verständnislosem Gesichtsausdruck an.

Jane blickte ihm direkt in die Augen und zeigte auf das schwebende gelbe Stück Plastik. »Setz sie auf.«

Javier nickte und zog sich die Maske panisch übers Gesicht. Ein lautes Krachen ertönte.

Die Schreie erstarben im Ansatz. Javiers Augen weiteten sich und Jane drehte sich um, um zu sehen, was er anstarrte. Sie gab einen hohen Schrei von sich. Rotes und oranges Flackern wurde von Javiers Maske reflektiert und Lash versteifte sich. Hitze prallte auf seinen Körper. Er drehte sich um, bereit, abzuwehren, was auch immer den Jungen in Gefahr brachte. Sein Magen verkrampfte sich, als eine Woge von Flammen durch den Gang auf sie zurollte.


Lashs Schritte hallten im Saal der Gaben wieder, einem riesigen Raum, in dem die Erzengel die Opfergaben ausstellten, die die Menschen dem Himmel über Jahrhunderte hinweg dargebracht hatten. Gemälde und Skulpturen säumten die Wände. Er hielt vor einem Mahagonischrein an und starrte durch das Glas auf eine winzige Figurine, die eine Abbildung von Gabrielle darstellte. Seine hellen Augen verdüsterten sich, während er sie herausnahm und mit den Händen über den glatten Stein strich. Er brach den Kopf ab und zerbröckelte ihn zwischen seinen Fingern, zermahlte ihn zu Staub. Er stellte den Figurinenkörper zurück auf das Bord und grinste bei der Vorstellung, dass Gabrielle vor Wut aus der Haut fahren würde, wenn sie das sah.

Er drehte sich um, als das große Eichenportal sich quietschend öffnete. Der Erzengel Raphael trat in den Raum und seine ernsten, blauen Augen blieben auf Lash gerichtet, als er näher kam.

»Lahash.« Seine Stimme war schwer vor Enttäuschung.

Es war nicht das erste Mal, dass Raphael Lash in die Halle des Gerichts begleitete, dem Ort, wo Engel für ihre Vergehen bestraft wurden und wo darüber befunden wurde, ob sie würdig oder unwürdig waren im Himmel zu verbleiben. Lash machte sich nie Sorgen, dass er für unwürdig befunden werden könnte – Raphael kümmerte sich immer darum.

Nach einem Seitenblick auf die kopflose Figurine schürzte Raphael die Lippen, gab aber keinen Kommentar dazu ab. »Michael wird dich empfangen, sobald er damit fertig ist, Gabrielle zu befragen.«

»Ich heiße Lash«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hasste es, mit seinem himmlischen Namen angesprochen zu werden, aber Raphael, der altmodisch in seiner Art war und daran festhielt, Traditionen aufrecht zu erhalten, bestand darauf.

Raphael fuhr sich verärgert mit einer Hand durch die blonden Wellen seines Haars. Er nahm die Bemerkung nicht zur Kenntnis, aber Lash wusste, dass er sie genau gehört hatte. Einige der besonderen Vorzüge des Engeldaseins waren ein verbessertes Seh- und Hörvermögen und Stärke – das Fliegen war ein zusätzlicher Pluspunkt.

»Warum hast du es nicht getan, Lash? Gabrielle hat dir genaue Instruktionen erteilt. Alles, was du tun musstest, war, sie zu befolgen.«

Was für eine Antwort konnte er seinem Mentor geben, demjenigen, der ihn immer verteidigte, wenn er beschloss, seiner eigenen Wege zu gehen? Er wünschte, er könnte Raphael die Wahrheit sagen. Als Gabrielle ihn beauftragt hatte, den Jungen zu retten, war er froh darüber gewesen. Jahrelang hatte er Menschen geholfen, die ihr Leben leichtfertig wegwarfen; er hatte gedacht, dass zumindest bei einem Kind immer Hoffnung bestand. Es gab da etwas an Kindern mit ihrer Offenheit und ihren unbefleckten Herzen, das so ganz anders war als die abgebrühten, selbstsüchtigen Erwachsenen, denen er begegnet war. Den Jungen zu retten, war leicht gewesen; das blondhaarige Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen war es nicht.

»Gabrielle hat einen Fehler gemacht. Sie muss übersehen haben, das noch ein anderes Kleines im Flugzeug war, daher dachte ich mir, was könnte verkehrt daran sein, sie beide zu retten?«

»Es gab keinen Fehler«, sagte Raphael.

»Das Mädchen hatte es verdient zu leben.«

»Es ist nicht an dir, das zu entscheiden. Das weißt du.«

»Ja, ja, der Boss trifft die Entscheidungen.« Er machte eine abwehrende Handbewegung und setzte sich auf eines der Ledersofas in der Mitte des Saals. Er versuchte, seine Aufträge auszuführen, aber in letzter Zeit war es schwerer geworden, sie zu akzeptieren – obwohl er wusste, dass Michael und Gabrielle ihre Anweisungen von Gott erhielten.

Raphael setzte sich ihm gegenüber und beugte sich vor. »Lahash, die Menschen liegen dir sehr am Herzen und das macht dich zu einem großartigen Seraph. Aber du musst Kontrolle erlernen. Du kannst nicht Entscheidungen treffen, ohne sie zu durchdenken.«

»Ich weiß, was ich tue.« Lash ließ sich in das weiße Leder sinken und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Ich bin nicht einverstanden mit einigen der Entscheidungen, die hier so getroffen werden.«

»Du bist jung. Du wirst noch lernen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, auf viel mehr beruhen, als wir sehen können.« Raphaels Stimme wurde streng. »Jede Handlung hat Konsequenzen, die berücksichtigt werden müssen.«

»Komm schon. Sie ist ein kleines Mädchen.« Er hob die Hände. »Ich habe ihr eine Chance gegeben, erwachsen zu werden und ihr Leben zu leben. Was kann daran falsch sein?«

»Mehr, als du ahnst.«

Lashs Gesicht wurde ernst. »Du hättest sie sehen sollen, Raphael. Da war eine Güte in ihrem Herzen, die ich schon lange in niemandem mehr gesehen habe.«

»Ich bin sicher, dass es so war. Aber du hast kein Wissen darüber, was einmal aus ihr wird.«

Raphael lehnte sich zurück, ein abwesender Blick lag in seinen Augen. »Es gab eine Zeit, in der ich meinem Herzen gefolgt bin. Ich habe es gewagt, Michael und die anderen herauszufordern.« Seine Augen senkten sich und ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Das habe ich zu einem hohen Preis getan.«

Lash hatte diesen Ausdruck schon von Zeit zu Zeit wahrgenommen und sich gefragt, was Raphael erlebt hatte, das ihm einen derart offensichtlichen Kummer bereitete. Er wünschte, er könnte sich an das erste Mal erinnern, als er ihm begegnet war. Aus irgendeinem Grund gab es da eine Lücke in seiner Erinnerung. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er eines Morgens aufgewacht war und Raphael an seiner Seite saß.

Als Raphael aufstand und zur Tür schritt, folgte Lash ihm und schlug ihm spielerisch auf die Schulter. »Hey, mach dir keine Sorgen. Ich werde einen Klaps auf die Finger bekommen wie beim letzten Mal.«

Raphael schüttelte den Kopf. »Eines Tages wird sich deine Aufsässigkeit rächen.«

Er grinste. »Nicht heute. Da bin ich mir sicher.«

Als sie den Korridor entlanggingen, kam ein hochgewachsener, schlanker Engel auf sie zu. Wellen blonden Haars umrahmten ein finsteres Gesicht. »Michael ist bereit, dich zu empfangen.«

Lash grinste. »Bestens, dir auch einen guten Morgen, Gabrielle.«

Gabrielle verengte ihre grünen, katzenartigen Augen. »Verstehst du die Auswirkungen deines Tuns nicht? Oder sind sie dir einfach egal?«

Er wollte gerade antworten, als Raphael sich vor ihn stellte. »Antworte nicht darauf. Gabrielle, ich denke es ist das Beste, dieses Gespräch mit Michael zu führen. Meinst du nicht?«

Ihre Augen wurden sanfter, als sie Raphael ansah. Dann wurden sie kalt. »Diesmal kannst du ihn nicht schützen.« Sie wandte sich an Lash und ihre Augen musterten ihn voller Verachtung.

 

»Wozu versuchst du es überhaupt?« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung der Halle des Gerichts.

An der Tür trat sie beiseite und stellte sich neben Raphael. Als Lash eintrat, zwinkerte er ihm zu und versuchte, seine wachsende Angst zu verbergen. Merkwürdig. All die Male, die er zuvor in Schwierigkeiten geraten war, war er nie beunruhigt gewesen. Etwas war anders.

»Mach dir keine Sorgen, Raphael.« sagte Lash. »Ich hab das hier im Griff.«

Was war schon das Schlimmste, das sie tun konnten?