Der gruppendynamische Prozeß

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Der gruppendynamische Prozeß
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Gruppendynamischer Prozeß

Ein Schlüssel zum besseren Verständnis sozialer Konflikte in Familie, Schule, Betrieb und Politik


© 2020 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8301-1854-1 EPUB

Dem kurdischen Volk gewidmet, das in vier Teile zerrissen unbeirrt um seine Identität kämpft

INHALTSVERZEICHNIS:

EINLEITUNG

I.TEIL:Soziale Institutionen sind gruppendynamische Ereignisfelder

1.1Die Entmachtung des Lehrers (1. Teil: Die Entwicklung des Konflikts)

1.2Die innere Struktur von Gruppen

1.3Wechselwirkung zwischen der Gruppenstruktur einer Schulklasse und dem Schülerverhalten

1.4Wie kann der Gruppendynamiker helfen?

1.5Wie gehen wir mit lange zurückliegenden ungelösten Problemen in Gruppen um?

1.6Die Gruppe im Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher Kräfte

1.7Der Gegensatz zwischen der "formellen" und "informellen" Gruppendynamik

1.8Wie können gruppendynamisch bedingte Katastrophen vermieden werden?

1.9Welche Gruppenstrukturen sind leistungsfähiger, die "formellen (Macht-) Strukturen" oder die "informellen (Beziehungs-)Strukturen"?

1.10Lassen sich die gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten kleiner Gruppen auch auf große bzw. größte Gruppen übertragen?

1.11Warum kommt es zu schweren politischen Krisen?

1.12Die wechselvolle Geschichte des russischen Staates

1.13Warum haben die USA den Vietnamkrieg verloren?

1.14Wohin führt die europäische Einigung?

1.15Überleitung

II.Teil:Der gruppendynamische Prozeß

2.1In zehn Tagen ins Paradies

Die Angst vor den Mitmenschen

Idealisierung und Vergöttlichung

Loslassen, um sich einzulassen

Vertrauensfrage

Erster Kontakt

Gruppendepression als Widerstand

Aggressive Auseinandersetzung mit den Leitern

Entscheidungskampf

Halbzeit

Entstehung einer Kerngruppe

Abgrenzung zur Psychotherapie

Integration der Außenseiter

Schließen der Gruppengrenze

Identität

Explodierende Kreativität

Trennung

2.2Lassen sich "Gott" und das religiöse Verhalten gruppendynamisch interpretieren?

2.3Von der Dynamik der Kleingruppe zur Politik der Völkergemeinschaften

Gründung und Staatsvertrag

"Vergöttlichung" oder Absolutismus

Bildung von ersten Untergruppen

Vertrauensfrage

Depressive Reaktion

Auseinandersetzung mit den Herrschenden

Entscheidungskampf

Integration der Außenseiter

Identität und Integrität

Trennung

2.4Die UNO als Parlament der internationalen Staatengemeinschaft

2.5Relativität ethischer Werte

2.6Die Entmachtung des Lehrers (2. Teil: Die Lösung des Konflikts)

III.Teil:AUFBAU UND VERÄNDERUNG DER PSYCHODYNAMIK (der sog. "Gruppendynamik im Kopf")

3.1Aufbau der "psychischen Strukturen" in der Kindheit

Erleben eines existentiellen Lebensraums

Erlebnis der Akzeptanz der einmaligen und unverwechselbaren Individualität

Erfahrung des Respekts vor der Eigengesetzlichkeit des Wachstumsvorgangs

Aushalten von Risiko und Schmerz

Hautkontakt und Körperwahrnehmung als Motor des Entwicklungsprozesses

Erlaubnis zur guten Symbiose

Ausdruck des Trotzes und Aufbau der Ich-Grenze

Entfaltung der Persönlichkeit

Integration in die Familiengruppe

Auseinandersetzung mit der Geschlechterrolle

Bildung und Ausbildung

Offenheit für intuitive Wahrnehmung und weltanschauliche Orientierung

Ablösung von den Eltern und Trennungsarbeit

3.2Beispiele von "Ich-Strukturen"

3.3Versuch einer bildhaften Darstellung der Genese schwerer Ich-Krankheiten

3.4Korrektur psychischer Strukturen

SCHLUSSWORT

LITERATUR

EINLEITUNG

Alle Menschen leben in Gruppen, sei es im Freundeskreis, in der Familie, unter Bekannten, mit Kindern, im Urlaub und bei der Arbeit. Die Berufstätigen arbeiten in Teams, die Lehrer unterrichten in Klassen, und die Politiker politisieren in Parteien. Das gilt für Menschen in Ost und West, für Schwarze in Afrika, Rote in Amerika oder weiße, gelbe und dunkle Menschen in der Welt. Überall gelten die gleichen gruppendynamischen Regeln, daß Menschen untereinander Gruppen bilden, miteinander in Beziehung treten, leben und gemeinsam eine Arbeit verrichten. Zwar ist die Kenntnis über Gruppendynamik weit verbreitet, die Theorie entwickelt, und trotzdem wissen die Beteiligten, die von Montag bis Sonntag, von morgens bis abends in Gruppen leben und arbeiten, von vielem viel und von Gruppendynamik wenig.

 

Ist es nicht sonderbar, daß deren Wissen gerade da aufhört, wo sie am stärksten betroffen sind, und ist es nicht fahrlässig, Familien zu gründen, Kinder zu zeugen, Schüler zu unterrichten, Betriebe zu leiten und Politik zu machen, ohne zu wissen, wie sich die Menschen in Gruppen verhalten, ohne gründliche Kenntnis der naturgegebenen gruppendynamischen Gesetzmäßigkeiten?

Mit diesem Buch möchte ich zum Nachdenken anregen. Es soll einen Diskussionsbeitrag leisten und handelt von der Gruppendynamik bzw. deren Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen in großen und kleinen Gruppen. Ich beschreibe sowohl die Dynamik der Gruppen als auch deren Spuren in den Köpfen der Menschen. Kurzum Phänomene, die erfahrbar und benennbar sind, die aus der Erfahrung gesichert sind, für die aber noch kaum naturwissenschaftlich exakte Erfassungsmethoden zur Verfügung stehen (LANGTHALER 1995).

Das Buch richtet sich in erster Linie an Menschen, die sich für die Gruppendynamik allgemein, für gruppendynamische Vorgänge in der Schule, in den Betrieben und in der Politik speziell und für deren Hineinwirken in die menschliche Psyche im besonderen interessieren. Es wendet sich an Lehrer, Psychologen, Betriebsberater, Psychotherapeuten, Ärzte, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Erwachsenenbildner usw. oder allgemein an Personen, die sich mit deren Gesetzmäßigkeiten in einem vertieften Zusammenhang auseinandersetzen wollen. In dieser Hinsicht besteht meine Absicht auch darin, kritische Fragen zu stellen, unorthodoxe Antworten zu geben, die Pädagogik aus einer neuen Perspektive zu beleuchten und dem Denken in gruppendynamischen Kategorien einen Weg zu ebnen. Ich verfolgte die konzeptionelle Idee, das Thema "Gruppendynamik", ausgehend von einer breiten Erfahrungsbasis, im Verlauf des Textes mehr und mehr theoretisch zu vertiefen.

I. TEIL
SOZIALE INSTITUTIONEN SIND GRUPPENDYNAMISCHE EREIGNISFELDER

Das erste Beispiel, das in das "Gruppendynamische Denken" einführen soll, stammt aus dem Bereich "Schule", weil diese im Brennpunkt zahlreicher gesellschaftlicher Wirkfaktoren steht und weil sie selber ein komplexes gruppendynamisches Feld darstellt. Die Schulklasse ist eine Gruppe, die in besonderer Weise nach gruppendynamischen Regeln funktioniert.

Während meiner Tätigkeit am Lehrstuhl für "Pädagogik und pädagogische Soziologie" der Technischen Universität München erzählte mir ein Kollege und Freund, der neben seiner wissenschaftlichen Arbeit am Lehrstuhl an einer ländlichen Berufsaufbauschule (BAS) das Fach Englisch unterrichtete, von den Schwierigkeiten mit seiner Klasse. Hier sein Bericht:

1.1Die Entmachtung des Lehrers
(1. Teil: Die Entwicklung des Konflikts)

"Trotz vieler Schwierigkeiten verlief der Unterricht in der BAS zunächst reibungslos. Auch das persönliche Verhältnis zu den Schülern, die bereits im Erwachsenenalter waren, war gut. Wir unternahmen neben dem regulären Unterricht gemeinsame Ausflüge in die nähere Umgebung, und ich gab an Wochenenden den 'Problemschülern' bei mir zu Hause kostenlos Nachhilfeunterricht.

Die ersten Unstimmigkeiten kamen nach einem halben Jahr auf. Sie entstanden durch sogenannte Kurzarbeiten, die ich in regelmäßigen Abständen in der Klasse schreiben ließ. Diese Prüfungsform - ein Ersatz für große Schulaufgaben - war vorher mit der Klasse vereinbart worden. Es war zunächst nicht die ganze Klasse, die gegen diese naturgemäß lästigen Kurzarbeiten protestierte. Es ergab sich zunächst nur eine kurze Auseinandersetzung mit dem Schüler Hans Scharfe, dem Klassensprecher der BAS A.

Bevor ich nun diese Auseinandersetzung näher schildere, möchte ich über Hans Scharfe einige Informationen geben. Der Schüler, etwa 1,70 m groß, hager, 23 Jahre alt, mit verkniffenem Gesichtsausdruck, fiel bereits durch sein schulterlanges, schütteres Haar auf. Wenn er sprach, klang seine Stimme gequetscht, und er wirkte auch auf andere Beobachter so, als ob er unter starken Spannungen stünde. Scharfe hatte, bevor er in die BAS A eintrat, seine Gymnasiallaufbahn abgebrochen und eine kaufmännische Lehre absolviert. In seiner Berufsschulzeit war er Schulsprecher. Wie aus seinen Schülerpapieren hervorging, war Scharfe etwa zu der Zeit vom Gymnasium abgegangen, als sein Vater (an Krebs, wie ich später erfuhr) gestorben war. Scharfes Englischkenntnisse waren gut bis sehr gut, und in meinem Unterricht war er einer der besten. Noch vor den im folgenden beschriebenen Auseinandersetzungen war mir aufgefallen, daß Scharfe immer eine Ausgabe der "Allgemeinen Schulordnung" mit sich führte und auch ab und zu während des Unterrichts in dieser blätterte.

Es begann damit, daß Scharfe wieder einmal, wie so häufig, den Unterricht versäumt hatte und bei dieser Gelegenheit auch eine der oben erwähnten Kurzarbeiten nicht mitgeschrieben hatte. Ich teilte ihm mit, daß dieser Leistungsnachweis nachzuholen sei und bat ihn, doch in Zukunft eine Entschuldigung für sein Fehlen vorzulegen. Hans Scharfe begegnete meiner Bitte mit einer grundsätzlichen Diskussion über die Anwesenheitspflicht in der Berufsaufbauschule Form III. Er argumentierte meiner Meinung nach geschickt. Ich gab ihm in vielen Punkten recht. Damit stellte ich mich auf seine Seite und distanzierte mich von den bürokratischen Maßnahmen der Schulleitung. Als ich ihn abschließend bat, dennoch eine Entschuldigung zu schreiben, warf er mir Heuchelei und Unaufrichtigkeit vor. Alle meine Versuche, Scharfe davon zu überzeugen, daß es keine Aufgabe der eigenen Gesinnung sei, wenn man einige Formalitäten erfülle, auch wenn einem diese nicht als sinnvoll erschienen, schlugen fehl. Er ereiferte sich zusehends und schwenkte dann auf ein anderes Thema über. Er stellte die Behauptung auf, ich wolle ihm schaden, indem ich absichtlich den Zeitpunkt, zu dem er die entsprechende Kurzarbeit nachholen sollte, für ihn ungünstig wähle. Außerdem, so behauptete er, sei der zu bearbeitende Text viel schwieriger als die Originalaufgaben. Es war mir nicht möglich, ihn davon zu überzeugen, daß ich für ihn Verständnis hätte und ihm nur helfen wolle. Selbst daß ich seine Kurzarbeit mit dem von ihm ersehnten 'sehr gut' beurteilte, überzeugte ihn nicht. Er meinte vielmehr, ich hätte zwar versucht, ihn 'aufs Kreuz zu legen', es sei mir aber eben nicht gelungen.

Die Klasse stand bei dieser Auseinandersetzung ganz auf meiner Seite und versuchte, durch Zwischenrufe wie 'Daß du nicht merkst, daß er dir nichts will!' oder 'Jetzt schreib doch noch die Entschuldigung' Scharfe umzustimmen. Auch bei einem privaten Gespräch, das ich mit dem Schüler suchte und von dem ich erhoffte, daß ich Hintergrundinformationen über sein Verhalten bekommen könnte, blieb Scharfe verschlossen. Er antwortete auf meine Fragen nur kurz und unverbindlich. Er trat dabei nervös von einem Bein aufs andere und steckte seine Hände mal in die Tasche oder hielt sie auf dem Rücken. Am Ende dieses Gespräches mußte ich ihm erklären, daß ich mich außerstande sähe, ihm zu helfen. Ich sagte: 'Sie fühlen sich von aller Welt angegriffen und ungerecht behandelt. Auch von mir. Ich kann Sie nicht erreichen und vom Gegenteil überzeugen. Also kann ich nur hoffen, daß wir den Rest der Zeit, die wir zusammen verbringen müssen, wenigstens halbwegs miteinander auskommen.' Mit einem steifen Kopfnicken gingen wir auseinander."

Wir verlassen an dieser Stelle die Darstellung der Konfliktentwicklung und machen eine erste Analyse:

Der Konflikt beginnt mit dem nicht sanktionierten Fehlen von Hans Scharfe im Unterricht. Schon hier versäumt der Lehrer, den Schüler wegen seines Fernbleibens zur Rechenschaft zu ziehen. In der Auseinandersetzung über die Kurzarbeiten kommt es zur Entscheidung, wer sich durchsetzen kann bzw. wer den Machtkampf um das Recht, "Normen" zu setzen, gewinnt, der Lehrer als Autoritätsperson oder der Schüler. In der Diskussion zu zweit gibt der Lehrer dem Schüler in vielen Punkten recht. Er schreibt in seinem Bericht: "Damit stellte ich mich auf seine Seite und distanzierte mich von den bürokratischen Maßnahmen der Schulleitung." In diesem Augenblick verweigert der Lehrer die Rolle als Repräsentant der gesamten Lehrerschaft. Dazu versucht er, mit dem widerspenstigen Schüler einen kumpelhaften Kompromiß auszuhandeln. Doch dieser will das Angebot nicht annehmen. Der Schüler sieht im Lehrer einen Feind, der ihn "aufs Kreuz legen" will. Er hat Angst, angegriffen und ungerecht behandelt zu werden.

Entsprechend seines Erlebnismusters erscheint die Lage des Schülers verzweifelt. Mit dem Rücken zur Wand versucht er sich zu wehren, indem er zum Angriff übergeht. Überleben scheint für ihn zu heißen: kämpfen, siegen oder untergehen.

Es ist offensichtlich, daß die Wahrnehmung des Schülers Scharfe verzerrt ist. Er nimmt beim Lehrer Wesensmerkmale wahr, die nicht oder nur in Ansätzen vorhanden sind. Selbst die Mitschüler erkennen die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Schülers und dem tatsächlichen Verhalten des Lehrers. Aus der Klasse kommen Zwischenrufe wie: "Daß du nicht merkst, daß er dir nichts will!" Doch die Rückmeldungen aus der Schulklasse überzeugen Scharfe nicht.

Wie kommt es zu dieser Differenz zwischen der Wahrnehmung des Schülers und der Wirklichkeit des Lehrers? Und warum kann der Lehrer nicht adäquat reagieren? Welche Bedeutung hat diese Auseinandersetzung im Rahmen der Gruppendynamik der Schulklasse?

Es wird deutlich, daß der Schüler Scharfe seinen Lehrer mit einer anderen Person verwechselt. Er überträgt unbewußt Charaktermerkmale eines anderen Menschen auf den Lehrer. Sigmund Freud nannte eine solche Verwechslung "Übertragung". Obwohl die Mitschüler diese Übertragung deutlich spüren, ist es unmöglich, diesen Mechanismus dem Schüler Scharfe bewußt zu machen.

Der Lehrer hat als Junglehrer wenig Erfahrung im Umgang mit "schwierigen Schülern". Er kann die Bedeutung des Übertragungsgeschehens weder verstehen noch entsprechend damit umgehen. Er verfängt sich in widersprüchlichen Verhaltensweisen, versucht, sich beim Schüler kumpelhaft anzubiedern, und stellt sich unbewußt gegen die eigene Lehrerschaft. Er will nicht Lehrer der "alten Schule" sein.

Schwierige Schüler gibt es in allen Schulklassen. Diesen fällt in der Regel unbewußt die Rolle zu, den Lehrer in seiner Persönlichkeit herauszufordern. Diese Herausforderung gehört zum gruppendynamischen Prozeß.

Der Schüler Scharfe ist streitsüchtig, unbelehrbar und gleichzeitig intelligent. Er versucht, mit Hilfe des "formellen Normenkatalogs", der "Allgemeinen Schulordnung", seine eigenen Normen bzw. Wertvorstellungen gegenüber den Verhaltenserwartungen des Lehrers durchzusetzen. Es liegt aber am Lehrer, zu diesem Schüler einen persönlichen Weg zu finden und die Situation in der Klasse zu beruhigen. Der Lehrer muß sich mit seinen Normen durchsetzen, indem er als Vermittler des Lehrstoffes überzeugt und indem es ihm mit seinen charakterlichen bzw. persönlichen Fähigkeiten gelingt, die Interessen der Schule und der Schüler zu vertreten. Hier ist es aber der Schüler Scharfe, der, umgekehrt, dem Lehrer das Verhalten aufzwingt.

Doch folgen wir erst noch dem Bericht des Lehrers:

"In der Folgezeit versuchte Scharfe, durch sein Verhalten während des Unterrichts die Klassenkameraden davon zu überzeugen, daß ich eigentlich nicht derjenige sei, für den sie mich hielten. Er versuchte aufzuzeigen, daß ich hinterhältig sei und nur ab und zu so täte, als ob ich nicht zu dem 'Laden' gehöre, womit er die Institution Schule mitsamt der ihr gesetzlich zugeteilten Autorität meinte.

Von jetzt ab verliefen die Englischstunden in dieser Klasse in gespannter Atmosphäre und waren für mich persönlich nicht mehr so erfrischend wie in der Parallelklasse, in der derselbe Unterricht zügig und erfolgreich voranschritt.

Diese Spannung steigerte sich, als nach einem halben Jahr zwei weitere Schüler, nennen wir sie Kühne und Müller, zu dieser Klasse stießen. Es waren Schüler, die die Abschlußprüfung der BAS nicht geschafft hatten und das letzte der eineinhalb Jahre wiederholen wollten. Kühne war ein persönlicher Freund von Hans Scharfe.

Jetzt kam es noch häufiger vor, daß ein Teil der Unterrichtszeit mit Grundsatzdiskussionen verbracht wurde, die ich im wesentlichen mit Scharfe, unterstützt von seinem Freund Kühne, führte. Thema waren in den meisten Fällen die für die gesamte Klasse unangenehmen Kurzarbeiten. Es wurden Gesetzestexte zitiert. Es wurde in Frage gestellt, ob es sinnvoll sei, bestimmtes Vokabelwissen zu überprüfen. Es wurde angeführt, daß die Benotung dieser Kurzarbeiten für einige Schüler deprimierend sei, da sie immer wieder nachgewiesen bekämen, daß ihre Leistungen nicht ausreichten. Es wurde behauptet, daß ich neue psychologische Methoden ausprobieren wolle, die Unsinn seien, und vieles andere mehr. Bei diesen Diskussionen zwang mich Scharfe durch immer extremere Forderungen und Behauptungen, gegen ihn Stellung zu beziehen. Ich versuchte meinerseits, der Klasse deutlich zu machen, daß Scharfes Argumentation für sie sehr gefährlich sei. Er lieferte nämlich in seinen Diskussionen all denen genügend Material zur Rationalisierung, die in meinem Unterrichtsfach schlechte Leistungen erbrachten. Nicht ihre Leistungen waren schlecht, laut Scharfe, sondern meine unzumutbaren Forderungen an die Schüler. Diese seien schuld an ihren schlechten Noten. Die schwachen Schüler, die das Problem hauptsächlich betraf, waren größtenteils nicht in der Lage, sich an dieser Diskussion adäquat zu beteiligen. Und die guten Schüler schienen mir in erster Linie nicht daran interessiert zu sein, eine solche Diskussion zu führen.

 

Nur in einem Fall hatte Scharfe offensichtlich Erfolg: Der nach meiner Meinung recht intelligente Schüler Franz Keller schwenkte auf die Seite von Hans Scharfe ein. Das tat mir besonders leid, da ich mich mit Keller im ersten Halbjahr sehr gut verstanden hatte. Keller, so kann man verallgemeinernd sagen, hatte wegen zunehmender Probleme in Mathematik für das Fach Englisch nichts mehr gearbeitet, was natürlich dazu führte, daß seine Leistungen im Laufe der Zeit immer schlechter wurden. Als er zur Zeit der Zwischenzeugnisse zwischen 'befriedigend' und 'ausreichend' stand, gab ich ihm die Note 'ausreichend', um ihm zu signalisieren, daß es ohne Einsatz nicht mehr gehe. Das war, wie ich später erfuhr, der Anlaß für Keller, auf Scharfes Argumentation zu hören und ihm zu folgen.

Damit bildete sich nach und nach in der Klasse eine Gruppe von vier Schülern (Scharfe, Keller, Kühne und Müller), die entschlossen versuchten, den Unterricht zu zersetzen. Auch die Sitzordnung spiegelte die Situation wider. Die vier saßen am Fenster in der hinteren rechten Ecke des Schulzimmers."

Der weitere Verlauf der Fallstudie zeitigt für den Lehrer eine verheerende Entwicklung. Tatsächlich gelingt es Scharfe, weitere Mitschüler um sich zu scharen und eine gegen den Lehrer eingestellte Kerngruppe zu bilden. Gegen diesen Block kann sich der Lehrer nicht mehr durchsetzen. Zwar ist er Träger einer Amtsmacht, die ihm aufgrund von Gesetzen, Regeln, Qualifizierung und Ausführungsbestimmungen zuwächst. Macht ist aber keine Eigenschaft von Systemen oder Strukturen (KÖNIG, 1996). Sie bleibt immer an ein Netz sozialer Beziehungen gebunden und muß sich in diesem Netz manifestieren. Nachdem der Lehrer anfangs noch versuchte, durch Argumente zu überzeugen, mußte er schließlich kapitulieren. Der Lehrer hat den Kampf verloren. Scharfe hat sich zum "gruppendynamischen Leiter" aufgeschwungen und bestimmt, ob der Unterricht geordnet verläuft oder nicht. Von seinem Widerstand bzw. von seiner Zustimmung hängt es jetzt ab, welche Unterrichtsmethoden der Lehrer erfolgreich einsetzen kann.

Da der Schüler im Rahmen der formalen Schulorganisation immer der Schwächere ist, muß Scharfe nun versuchen, seine Macht von Zeit zu Zeit zu testen und zu demonstrieren. Mit Hilfe seiner Kenntnisse über das Schulgesetz fordert er den Lehrer immer neu heraus. Dieses Ränkespiel kann auf Dauer nicht gutgehen, denn schließlich ist es der Lehrer, der die Noten verteilt, die Zeugnisse schreibt und über den weiteren Werdegang mitentscheidet.

Aus diesen Gründen pflegen, wie die Fallstudie weiter zeigen wird, solche Konflikte zu eskalieren:

"Der Unterricht in dieser Klasse wurde immer unerfreulicher. Ich registrierte, daß ich mich massiv bedroht fühlte, wenn ich diese Klasse betrat, daß ich unsicher war, wenn ich Anweisungen gab, speziell an einen der vier Schüler. Als ich darüber hinaus feststellen mußte, daß ich mit meinem Unterrichtsstoff in dieser Klasse immer schlechter vorankam als in der Parallelklasse, brach ich eines Tages eine Diskussion mit Scharfe ab und erklärte, daß ich nicht mehr bereit sei, mich in der Klasse mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn er etwas mit mir diskutieren wolle, soll er in der Pause zu mir kommen.

Das geschah nicht! Dafür geschah allerdings etwas, was den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung markierte:

Ich wurde, einen Tag nachdem ich mir jede Diskussion verbeten hatte, zum Direktor der Schule gerufen. Dieser eröffnete mir, daß vom Klassensprecher der BAS A Beschwerde über den Englischunterricht eingegangen sei. Insbesondere sei beanstandet worden, daß man im Stoff zu langsam vorwärtskomme und daß im Unterricht Dinge behandelt würden, die nicht im Lehrbuch stünden, so z.B. englische Gedichte, Lieder oder ähnliches.

Direkt nach dieser Unterredung mit dem Direktor hatte ich in der BAS A meine Unterrichtsstunde. Ich stürmte zutiefst entrüstet und wutschnaubend in die Klasse, knallte meine Tasche auf das Pult und fauchte etwas atemlos in die Klasse, daß hier der Spaß ja wohl aufhöre, 'das ist nicht der Stil, in dem ich mit Ihnen geredet habe, und jetzt möchte ich wissen, wer hinter diesen Vorwürfen steht.'

Ich merkte an der Reaktion der Klasse, daß der größte Teil der Schüler gar nicht wußte, warum ich so aufgeregt war. Wie sich herausstellte, war Scharfe zwar als Klassensprecher zur Schulleitung gegangen, er hatte aber versäumt, darauf hinzuweisen, daß er nicht im Namen der Klasse spreche. Aus einzelnen halblauten Bemerkungen war zu spüren, daß die Klasse dieses Vorgehen nicht billigte. Es fand sich jedoch niemand, der sich als Sprecher gegen Scharfe hervortat.

Ich verlangte nach der anschließenden Diskussion, bei der ich Scharfe und seine drei Mitstreiter ausschloß, daß die Klasse bis zur nächsten Stunde schriftlich niederlege, wer an diesem Unterricht etwas auszusetzen habe und wer speziell die Kurzarbeiten nicht mehr schreiben wolle. Das Ergebnis zeigte, daß etwa die Hälfte, durchwegs die besseren Schüler, die Arbeiten weiter schreiben wollte, während die andere Hälfte die Kurzarbeiten abgesetzt haben wollte. Später kam es diesbezüglich zu einer Einigung: Die Kurzarbeiten sollten in größeren Abständen nach vorheriger Ankündigung durchgeführt werden.

Obwohl ich die Klasse mit diesem Vorschlag gezwungen hatte, gegen Scharfe Stellung zu nehmen, änderte sich an der gesamten Situation nichts. Scharfe versuchte noch mehrmals, mit mir eine Diskussion zu beginnen. Dies schnitt ich von vornherein ab. Scharfe beteiligte sich daraufhin nicht mehr am Unterricht, obwohl es ihn offensichtlich stark reizte, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Die Störungen nahmen jetzt eine andere Form an. Die vier redeten oft laut und ungeniert miteinander, verließen das Klassenzimmer mehrfach während des Unterrichts. Keller arbeitete demonstrativ nicht mehr mit, beschäftigte sich mit Unterlagen anderer Fächer oder begann ausführlich und langatmig zu frühstücken. Besonders Scharfe und Kühne standen häufig auf und starrten aus dem Fenster hinaus. Scharfe fehlte immer häufiger in der Schule."

Nun hatte es Scharfe beinahe geschafft, die Klassengemeinschaft zu zerstören. Nachdem er drei aktive Mitstreiter um sich zu scharen vermochte, brachte er anhand der Kurzaufgabenfrage fast die Hälfte der Schüler auf seine Seite. Selbst vor der offiziellen Beschwerde scheute er nicht zurück. Erst diese provozierte den Lehrer zu einer empörten Reaktion, was diesem Luft und gewisse Anerkennung brachte. Schließlich war die Situation fürs erste nicht zu retten. Die "Viererbande" genoß Narrenfreiheit. Niemand mehr setzte ihnen Grenzen, niemand konnte die Außenseiter integrieren, der Lehrer reagierte hilflos und ließ die Zügel schleifen.

Es erstaunt nun wenig, daß die verfahrene Situation auch auf andere Unterrichtsfächer abfärbte. Da die Schulklasse gruppendynamisch vollends entgleist war, übertrug sich der Klassenkonflikt auf die ganze Schulsituation:

"Auch andere Kollegen, die in dieser Klasse unterrichteten und mit denen ich diesen Fall diskutierte, beklagten sich über diese Klasse. Die Arbeitshaltung sei miserabel. Scharfe arbeitete z.B. in Mathematik, seinem 'Horrorfach', wie er mir später erklärte, auch nicht mehr mit. Bei all diesen Provokationen blieb es auf meiner Seite bei harmlosen Ermahnungen, die nur kurzzeitig Erfolg hatten oder auf Reaktionen stießen wie: 'Was haben Sie denn, andere Lehrer haben überhaupt nichts dagegen, wenn wir das machen!'

Einmal entdeckte Scharfe, daß ich ihn ca. drei Monate zuvor als fehlend ins Klassenbuch eingetragen hatte. 'Haben Sie das etwa eingetragen? Die eine Stunde, in der sowieso nichts los war! Den Ton von dem vergammelten Film hat sowieso keiner verstanden. Jetzt stinkt's mir, ich geh' ein Weißbier trinken!' Er verließ die Klasse. Als er ging, war ich unsicher. Ich vermerkte sein Verlassen des Unterrichts lediglich im Klassenbuch.

Die Spannungen in der Klasse wuchsen zusehends. Ich fühlte mich unwohl, unsicher und sehr häufig provoziert, zumal ich solche Differenzen mit Schülern seit meiner Ausbildungszeit nicht erlebt hatte. Die Auseinandersetzungen eskalierten, ich wollte den Störenfrieden mit dem Rausschmiß drohen. Aber das, was dabei herauskam, hörte sich etwa so an: 'Wenn Sie am Unterricht nicht interessiert sind, dann verlassen Sie doch die Klasse. Es gibt hier Leute, die was lernen möchten und die sich gestört fühlen!' Scharfes Reaktion auf dieses Angebot: 'Tragen Sie's dann wieder ein, damit wir Schwierigkeiten bekommen? Wenn nicht, dann is' o.k., dann gehen wir!' Ich war wiederum unsicher und sagte, daß ich es mir überlegen würde. Scharfe zu Kühne: 'Also, gehen wir.' Er und Kühne verließen die Klasse …

Ich hatte mich in dieser Zeit sehr genau beobachtet und dabei festgestellt, daß ich beim Unterricht in der BAS A sehr verkrampft war und permanent das Verhalten der vier Störenden im Auge hatte, obwohl diese am Unterricht nicht teilnahmen. Meine Gereiztheit und Unsicherheit nahm ich auch mit in den Unterricht in die anderen Klassen. Auch dort fühlte ich mich jetzt schneller provoziert und bedroht als früher."

Es ist interessant, festzustellen, daß sich nicht nur ein Transfer des destruktiven Verhaltens der vier Schüler bzw. der ganzen Klasse auf Schulstunden bei anderen Lehrern vollzieht, sondern daß sich die Unsicherheit des Lehrers auf seine ganze Unterrichtstätigkeit ausbreitet. Er fühlt sich auch gegenüber anderen Schulklassen, gegenüber den Kollegen und letztlich in seiner ganzen Lebenssituation unsicher, bedroht und provoziert.

Doch kehren wir zurück zur Kernfrage: Warum konnte der Lehrer nicht konfliktadäquat reagieren? Der Schüler Scharfe hat ihn zunehmend aggressiv provoziert, erst durch das Zuspätkommen, dann durch die Diskussionen über die Kurzarbeiten und schließlich durch die Beschwerde beim Direktor. Welche Gründe hatten den Lehrer daran gehindert, sich als Leiter der Klasse durchzusetzen? Der Lehrer nimmt zu dieser Frage wie folgt Stellung:

"Meine Ausbildung für die Lehrbefähigung im Fach Englisch hatte ich während meines Studiums an der Universität erhalten. Sie war weder umfangreich und gründlich noch auf die Praxis ausgerichtet. Außerdem lag die Zeit der Ausbildung bereits fünf Jahre zurück. Das bedeutete, daß meine Kenntnisse in diesem Fach kaum ausreichend waren. In den meisten Fällen war ich meinen Schülern nur um ein bis zwei Kapitel des Lehrbuchs voraus.

Die zweite Schwierigkeit bestand darin, daß ich keinerlei Erfahrungen im Unterricht mit Erwachsenen hatte. Meine Schüler waren 20 bis 26 Jahre alt und stellten verständlicherweise den Anspruch, in der Schule wie Erwachsene behandelt zu werden. Sie sollten selber entscheiden, wieviel Kraft sie in den Unterricht investieren wollten. Auch der Schulbesuch war bei vielen unregelmäßig. Andererseits wurde an mich von seiten der Schulleitung die Forderung gestellt, auf Ordnung und regelmäßigen Schulbesuch zu achten. Der Schulleiter: 'Wir haben hier keinen Unibetrieb!'