Joe & Johanna

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Aus der Reihe: Joe & Johanna Trilogie #1
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Joe & Johanna
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Kristina Schwartz

Joe & Johanna

Fesselndes Erbe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Impressum neobooks

Widmung

Für Erik B.

Prolog

Gefesselt hat mich das Schreiben von Tagebüchern, seit ich denken kann. Heute, wenn ich nach Gründen suche, warum ich es tat und was mich daran so faszinierte, finde ich keine Antworten. Möglicherweise war es ein Bedürfnis tief in mir, das mich veranlasste Dinge niederzuschreiben, die andere weder träumen, schon gar nicht erleben durften. Meine intimsten Begegnungen und Gedanken habe ich meinen Tagebüchern anvertraut, in dem Wissen, dass ich das Geschriebene nie selbst lesen werde. Viele mögen die Art, wie ich meine Zeit hier verbrachte als anstößig, unmoralisch, vielleicht sogar pervers bezeichnen. Ein Albtraum auf Erden. Nur einmal, ich muss Mitte zwanzig gewesen sein, gab es eine Zeit, in der sich mir – das will ich nicht abstreiten – ebenfalls dieser Eindruck aufdrängte.

Damals, das liegt nun schon gut vier Jahrzehnte zurück, war ich, und das hing keineswegs vom Standpunkt eines auch noch so wohlwollenden Betrachters ab, anders als das Gros der Frauen in meinem Alter. Anfangs dachte ich, es handle sich um eine verschleppte Pubertät, eine Geschmacksverirrung, die weit in mein drittes Lebensjahrzehnt hineinreichte und mich dort fest umklammert hielt. Darauf hoffend, dass sich dieser Zustand wieder legen würde, er nur eine vorübergehende Erscheinung war, ähnlich einer Verkühlung oder einer hartnäckigen Grippe, die sich verzweifelt an den zu malträtierenden Körper klammert, lehrte mich die Zeit jedoch etwas anderes. Dieses Gefühl des Andersseins verstärkte sich von Tag zu Tag und bald gab ich es auf, mich ihm entgegenzustellen. Ich fand mich damit ab; damit, auf allen vieren, auf den Holzdielen herumzukriechen, dabei nichts weiter als Strümpfe und hohe Absätze zu tragen, mich erniedrigen, quälen und verschnüren zu lassen und dabei die Lust zwischen meinen Beinen ungehemmt fließen zu lassen.

Ich war eine sadomasochistische, nymphomanische Schlampe, zumindest in den Augen der Menge anders Denkender, die zu allem Überfluss noch die interimistische Leitung der hiesigen Volksschule inne hatte. Es war das Jahr 1956 und ich war gerade mal zweiunddreißig.

Meinen Erinnerungen zufolge muss es irgendwann im Jänner jenes Jahres gewesen sein, als mir der erste jener ominösen Briefe in Haus flatterte, die ich anfangs für einen schlechten Scherz hielt und einfach ignorierte. Hätte ich gewusst, was ich mir damit selbst antat, hätte ich – Masochistin oder nicht – mit Sicherheit anders darauf reagiert. Aber im Nachhinein glaubt man ja stets, es besser zu wissen.

Kapitel 1

„Warum ist denn dein Freund nicht mitgekommen?“ Kalter Regen rieselte über ihren Rücken.

„Derzeit … also … ich habe derzeit keinen.“

Was meine sie damit? Liege die Betonung auf derzeit oder auf keinen? Eine so gutaussehende, junge Frau wie sie. Ärztin obendrein. Gut, so jung sei sie eigentlich auch nicht mehr. Wie alt sei sie eigentlich?

Zweiunddreißig.

Zweiunddreißig? Um Gottes willen! Sie werde noch als alte Jungfer enden, echauffierten sich zwei geriatrische Jungfern mit stockfleckigen Gesichtern.

Und wenn schon.

Hatte sie nicht einmal einen ... wie hieß er noch gleich?

Christoph, aber das sei lange her.

Vermutlich habe sie ihn wieder verkrault mit ihrer unmöglichen emanzipatorischen Art, hatten die verschrumpelten Alten sofort eine einleuchtende Erklärung parat.

Sie sei keineswegs emanzipatorisch, höchstens unmöglich, wollte Johanna schon antworten. Doch hätte es einen Sinn gehabt? Die Alten würden sie deshalb keinen Deut besser verstehen, würden nicht von unverschämten Meldungen Abstand nehmen, würden nicht aufhören, sich in ihre Angelegenheiten und ihr Leben einzumischen. Mit vorgetäuschter Gelassenheit versuchte sie auf das Voranschreiten der Zeit zu setzen. Hoffte, der Sekundenzeiger möge doch ihr zuliebe seinen gewohnten Rhythmus verlassen und zur Abwechslung etwas größere Sätze machen. Sollte sie nicht ohnehin relativ sein, die Zeit? Gewöhnlich betrachtete Johanna sie als Antagonistin, die hinter ihr herjagte wie das Finanzamt hinter den Steuersündern, und sich doch fortwährend ihrem Zugriff entzog. Die Feindin, die sich allein durch ihre Taten sichtbar machte, durch zarte Fältchen um die Augen und beginnende Fettansammlungen an den Oberschenkeln. Nun war sie zu ihrer Verbündeten geworden. Sie würde sich auf sie verlassen können. So wie immer. Nur dass es in diesem Fall zu ihrem Vorteil wäre.

„Sie hat eben zuviel von ihrem Vater, meine Kleine“, mischte sich ihre Mutter plötzlich in die Diskussion.

Johanna trommelte mit ihren Fingern gegen die Tischplatte. Es geschieht dir nichts, es geschieht dir nichts, murmelte sie wie ein Mantra vor sich hin.

Die Alten spitzten die Ohren und richteten ihre Hörgeräte in Richtung der Sprecherin aus.

„Inklusive ihrer Sturheit. Glaubt nicht, sie hätte einmal etwas Positives angenommen?“

Mit leeren Augen starrte sie auf ihre Mutter, die spielend zwei Plätze an der Tafel einnahm. Von wem?, lag Johanna schon auf der Zunge, doch sie brachte keinen Ton heraus.

Süffisantes Lächeln zeigte sich in dem flächigen Gesicht. „Sie wird nie einen Partner finden, der es mit ihr aushält. Dazu ist sie viel zu selbstsüchtig. – Hab’ ich nicht recht, meine Kleine?“

Dein Partner hat es auch nicht sehr lange mit dir ausgehalten, fiel Johanna spontan ein, doch sie wollte nicht mit gleicher Waffe gegen ihre Mutter kämpfen. Das Blut pochte in ihrem Kopf, dass sie fürchtete, es könnte ihr jeden Moment aus Nase und Ohren laufen. Ihr Körper zitterte, als wäre sie gerade in arktisches Eiswasser geworfen worden. Ihre Augen, die bereits knietief unter Wasser standen, drohten jeden Augenblick überzulaufen. Ohne an eine gesellschaftlich korrekte Verabschiedung zu denken, die von einer missratenen Tochter wie ihr wohl ohnehin niemand erwartete, rannte sie aus dem Lokal.

„Das Schwarz steht ihr gut“, hörte sie eine Frauenstimme sagen, während sie die kalten Fliesen durch die dünne Sohle ihrer Schuhe spürte.

„Damit sieht sie zumindest flotter aus, als mit den Sachen, mit denen sie sonst unter die Leute geht.“ Das konnte nur die Stimme ihrer Mutter sein. So ein Arschloch!

Sie sprang in ihren Wagen und raste zurück nach Wien.

War es ihre Schuld, dass die Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, auf üppigere Frauen standen. Frauen, deren Brust zumindest Wäsche der Größe 75B zu füllen vermochte, Frauen, die zumindest die unterste Grenze für Zwergpygmäen von einem Meter siebzig übertrafen? Joe!, lass den Quatsch! Du weißt genau, dass das nur Ausreden sind. Die Welt ist voll von pygmäenhaften Frauen mit Knabenbrüsten. Und über achtzig Prozent von ihnen haben, in der einen oder anderen Form, eine Beziehung. Also woran wird es wohl liegen, wenn es nicht an der Körpergröße und den winzigen Titten liegt? An den unintelligenten Männern, die viel lieber Frauen ficken, deren IQ nur geringfügig über der Raumtemperatur eines unbeheizten Iglus liegt? Oder daran, dass du in vielen Situationen darauf beharrst recht zu behalten? Dass du immer dagegenreden musst, nie mit deiner Meinung zurückstehen kannst, immer das letzte Wort haben musst.

Joe, deine Mutter hatte nicht ganz unrecht.

Die blöde Kuh hätte es nicht vor allen ausbreiten müssen!

Solltest sie mittlerweile schon kennen.

 

Und wer hat jetzt das letzte Wort?

Außerdem, aber das wollte sie den Verwandten nicht unbedingt auf die Nase binden, hatte sie erst vor drei Wochen einen sehr netten Robert im Fitnessstudio kennen gelernt.

Wie ein in Endlosschleife laufendes youtube-Video spulte ihre Erinnerung ständig dasselbe Verhör ab. Dabei lag die Beerdigung ihrer Großmutter mittlerweile schon sechs Wochen zurück.

Müde und ausgelaugt schälte sie sich aus der Konservendose auf Rädern, nachdem sie diese auf dem viel zu großen Stellplatz in der Tiefgarage geparkt hatte. Es bedurfte einer nicht geringen Menge an weiblicher Überzeugungsarbeit, der ihr innewohnenden Bequemlichkeitstussi klarzumachen, die Finger vom Rufknopf des Aufzugs zu lassen, und die Treppe in den vierten Stock zu nehmen. Im Erdgeschoß legte sie eine Pause ein, um den Inhalt ihres Postkastens zu durchsuchen. Tatsächlich fand sich an diesem Tag ein persönlich adressiertes Kuvert. Absender Dr. Hans Lutz, öffentlicher Notar. Etwas außer Atem schloss sie ihre Wohnungstür auf, ließ Rucksack und Handtasche fallen und ging in die Küche. Während der Herd damit beschäftigt war, das Teewasser zum Kochen zu bringen, öffnete sie den Brief. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, um die Hinterlassenschaft ihrer Großmutter.

Sowohl die Tatsache ihres Ablebens als auch das widerliche Geplänkel seitens ihrer Verwandten, das nach der Beisetzung wie ein unangekündigter Tornado über sie hinweggefegt war, hatte sie seither versucht zu verdrängen. Doch wie ihr schien, nicht sehr erfolgreich.

Das Pfeifen des Teekessels schnitt unmotiviert in ihre Gedanken. Sie goss das siedende Wasser über den Teebeutel und hoffte, dass der „Gute-Laune-Tee“ auch wusste, was er ihr schuldig war.

Die Langeweile, die sie üblicherweise beim Lesen formeller Schreiben empfand, musste jedoch sofort einem Gefühl der Überraschung weichen, als sich ihre dunklen Augen an den Worten „hat Sie als Universalerbin eingesetzt“ festklammerten und diese nicht mehr loslassen wollten. Sie ließ den Tee stehen und schenkte sich stattdessen ein Glas Rotwein ein. Damit schlurfte sie zu ihrer Couch im Wohnzimmer und nahm einen kräftigen Schluck. Erneut las sie den Brief. Sein Inhalt blieb jedoch, sehr zu ihrer Freude, derselbe.

Ihr Schlaf war unruhig und nicht wirklich erholsam gewesen. Erschreckt fuhr sie hoch, als der Wecker rappelte. Noch bevor sie in die Ordination fuhr, rief sie den Notar an. Dieser war freundlich, doch wenig gesprächig. Ja, selbstverständlich, meinte er, beinhalte das Erbe auch die alte Mühle, in der ihre Großmutter bis zu ihrem Ableben gewohnt hatte. Es gäbe da auch noch ... Aber das interessierte Joe nicht mehr. Die Mühle, die Mühle. Sie würde tatsächlich die Mühle bekommen, in die sie sich 1986 als Sechsjährige verliebt hatte und in der sie als Mädchen die Sommerferien fern der Großstadt verbracht hatte. Es war mit Abstand die längste Liebesbeziehung und über weite Spannen ihres Lebens auch ihre einzige gewesen. Leider hatte sie auch diese Beziehung in den letzten zehn Jahren vernachlässigt. Nein, es handle sich nicht um einen Irrtum, und nein, das Testament könne nicht von irgendwelchen Nichten, Neffen, Tanten, Onkeln oder sonstigen Verwandtschaften beeinsprucht werden, insistierte der Notar. Nein, auch nicht von ihrer Mutter. Es sei so rechtskräftig wie in einem Staat wie Österreich nur möglich. In konkretem Fall gäbe es auch noch keine EU-Verordnung, die die lokalen Gesetze außer Kraft setze.

Joe wusste um dieses sich schon seit Menschengedenken hartnäckig haltende Gerücht, dass Geduld eine Tugend war. Doch, wie die Dinge lagen, war es ihr im konkreten Fall nicht möglich, darauf Rücksicht zu nehmen. Vielleicht ein andermal. Noch am selben Tag suchte sie Dr. Lutz in seiner Kanzlei auf, um den Schlüssel für die Mühle – ihre Mühle – abzuholen. Ihr Herz schlug rascher, ihre Wangen waren von einem Hauch von Rot getönt, als sie dem Notar ihre Handflächen entgegenstreckte. Es war ein großer, klobiger Schlüssel, den er ihr gab. Einen ähnlichen hatte sie einmal auf der Rosenburg gesehen und er hatte nicht nur das Tor zum inneren Burghof, sondern auch jenes in eine andere Zeit geöffnet. Schlüssel wie dieser werden wohl schon seit gut hundert Jahren nicht mehr hergestellt, dachte Joe, als das Metall ein angenehmes Prickeln auf ihrer Haut hinterließ. Daneben war noch ein moderner 3KS Schlüssel, sowie ein winziger für den Briefkasten.

Dichter Nebel schnitt die Hochhäuser, die sich, hässlichen Wachtürmen gleich, entlang der Donau postiert hatten, an der siebten Etage ab, als sie am darauffolgenden Samstag aus der Stadt Richtung Weinviertel fuhr. In Stockerau verließ sie die Autobahn und folgte der gut ausgebauten Bundesstraße nach Hollabrunn. Von dort nahm sie die Abzweigung Richtung Eggenburg, um zu dem winzigen Fleckchen an der Schmida zu gelangen, das ab nun ihr gehören sollte. Reste des letzten Schnees, der vor einer Woche gefallen war, bedeckten die Wiesen wie ein mottenzerfressenes Leintuch. Verträumt und idyllisch, märchenhaft und unwirklich waren die Adjektive, die Joe in den Sinn kamen, als das alte Gemäuer plötzlich vor ihr auftauchte. Eine zaghafte Frühlingssonne breitete skelettartig die Schatten der Kastanienbäume über die Mühle. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal hier gewesen war? War es vor drei Jahren zu Weihnachten gewesen, als sie ihre Großmutter besuchte, um ihr etwas Bäckerei zu bringen? Oder waren es gar schon vier? Seitdem hatte sie nur noch telefonischen Kontakt mit ihr gehabt, hatte sie an ihrem Geburtstag und an den Feiertagen angerufen. Mehr nicht.

Mit einem Mal fühlte sich Joe schuldig, fühlte, wie das schlechte Gewissen tief aus ihrem Inneren emporkroch. Sie fragte sich, womit sie es verdient hatte, dies kleine Paradies am Ende von Nirgendwo zu erben, wo sie doch nicht wirklich etwas dafür getan hatte. Dieses mittlerweile mehrfach umgebaute und renovierte Gebäude, dessen Fundamente aus dem 11. Jahrhundert stammten und in dem noch bis 1950 Getreide gemahlen wurde. Erst sperrte sie das Sicherheitsschloss auf. Dann steckte sie mit einer Ehrfurcht, die beim Schlüsselmeister im Tower of London kaum größer sein konnte, den mittelalterlich anmutenden Schlüssel in das massive Schloss. Noch ein metallenes Knacken und die Tür sprang auf.

Feucht staute sich die Luft in den Räumen, die schon lange nicht mehr geatmet hatten. Die Temperatur kaum über der im Freien. Es roch nach Moder und klammen Mauern, nach gebeizten Holzdielen und altersfleckigen Menschen. Langsam, um die Seele der Verstorbenen nicht zu verschrecken, schlich Joe vom Vorraum in die Wohnküche, die ihre Oma immer nur „die Stube“ genannt hatte. Der alte Bretterboden knarzte unter ihren Schritten, als beschwerte er sich über den unangekündigten Eindringling, der ihn mit seinen Stiefeln malträtierte. Ihre Finger strichen über den Tisch und die Anrichte, ihr Blick fiel auf die spinnwebenverhangenen Fenster. Dann ging sie nach oben.

Ein kalter Schauer überlief sie und ließ, trotz Jacke, Pullover und Bluse stehende Härchen an ihren Unterarmen zurück, als sie vor jener Tür stand, die zu ihrem ehemaligen Zimmer führte. Sie sah das kleine Mädchen mit lustigen Augen und geflochtenem Pferdeschwanz, das nie berechnete und kalkulierte, nie an Morgen dachte, nur im Augenblick lebte, das herumtobte, die Stufen hinunterpolterte, um dann mit zerschundenen Knien zu ihrer Großmutter zu laufen. Nie fand diese auch nur ein lautes Wort für ihre Enkelin, immer nur Worte des Trostes und Pflaster, um sie auf die abgeschürfte Haut zu kleben. Tausend Jahre schienen seit damals vergangen zu sein. Mittlerweile hatte sich diese kleine, zappelige Schönheit in eine junge Frau verwandelt. Joe öffnete die Tür, erwartete ihr Bett, das Schaffell und die Kiste mit ihren Spielsachen zu finden, doch alles was sich in ihrem ehemaligen Zimmer verbarg, war staubiges Gerümpel. Sentimentale Tränen liefen über ihre Wangen. Wie gelähmt starrte sie in jenes Durcheinander, als gelte es, darin den Weg in ihre Vergangenheit zu finden. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie dort gestanden hatte. Waren es Stunden oder bloß Minuten gewesen? Irgendwann schloss sie die Tür und ging nach unten.

Das Haus war tot, so tot wie ihre Großmutter. Im Wohnraum öffnete sie ein Fenster.

Als Kind war sie so gerne auf dem Land gewesen. Warum hatte sie irgendwann aufgehört, hierher zu kommen? Weil es nicht mehr so einfach wie früher war, mit ihrer Großmutter auszukommen? Weil es in Wien als Teenager so viel mehr zu entdecken gab? Weil irgendwann einmal der Zeitpunkt gekommen war, ab dem es „uncool“ war, seine Ferien bei Oma auf dem Land zu verbringen? Weil das Leben unaufhaltsam voranschritt, keine Beständigkeit kannte? Ein eisiger Schauer durchlief sie, schüttelte trotz der dicken Winterjacke ihren Körper, als sie durch die verwaisten Räume ging. Doch etwas war hier, das ihr vertraut erschien, so vertraut, als wäre sie erst gestern hier gewesen. Begierig sog sie die Luft durch die Nase. Richtig, es war der Geruch. Der Duft, von dem niemand sagen konnte woher er kam, woraus er sich zusammensetzte. Er war einfach da. Und er war beruhigend. Was Joe allerdings am meisten faszinierte, war das Empfinden, dass dieser Geruch für sie etwas Unvergängliches hatte. Er vermittelte ihr Geborgenheit. Ein wohliges Kribbeln breitete sich bis in ihre Fingerspitzen aus. Ja, ihre Liebe – war das überhaupt die richtige Bezeichnung? – zu diesem alten Haus existierte nach wie vor.

Ihr Gehirn begann bereits erste Ideen zu fabrizieren, wie sie die Mühle – dass sie sie behalten wollte, stand für Joe außer Frage – renovieren und ihren Bedürfnissen anpassen könnte. All die Dinge, die sie als unbrauchbar einstufte, wollte sie erstmal entsorgen. Nur ein paar Möbelstücke, die nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch von antiquarischem Wert waren, gedachte sie zu behalten. Vielleicht sollte sie diese einem Wiener Restaurator übergeben, damit ...

„Hallo?“, durchbrach eine Stimme die Barriere, die Joes Gedanken von der Realität so sicher abgeschottet hatte. Eine Stimme, deren Gekrächze darauf hindeutete, dass sie ihrem Besitzer schon seit unzähligen Jahrzehnten zu Diensten stand. „Johanna? Bist du wieder da?“ Joe erschrak, als sie ihren Namen hörte, und lief zur Tür. Vor der schweren Holztür stand ein Mann um die achtzig, mit grobporiger Nase und dunkelgrüner Pudelhaube.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Joe stellte sich breitbeinig hin, als gelte es, mit ihrer zarten Gestalt auch optisch ihre Besitzansprüche zu demonstrieren.

„Johanna? Bist du zurück?“ Der Alte sah Joe an, als spräche er zu einem Geist. Dann sagte er: „Du bist ja gar nicht Johanna.“

„Johanna Steinmayr war meine Großmutter“, sagte Joe und streckte dem Fremden ihre mittlerweile eiskalte Hand entgegen. „Ich bin Joe … Johanna Binder, ihre Enkelin.“

Der alte Mann kniff die Augen zusammen, doch alles was er sah, war Joes ungeschminktes Gesicht, eine weiße Fassade vorgetäuschter Distanziertheit. „Schade“, kratzte seine Stimme wie Schleifpapier über Metall, dann wandte er sich ab.

Joe, die wie festgefroren auf dem unebenen Steinboden stand, konnte noch hören, wie er im Weggehen vor sich hinbrabbelte: „Karl, sie ist es nicht, sie ist nicht zurückgekommen“, sagte er in einem fort. „Du hast dich geirrt, Karl. Sie ist es nicht ... ist es nicht.“ Sie sah ihm nach, bis er hinter den Kastanienbäumen auf die Hauptstraße eingebogen war und diese gemächlich und schon etwas klapprig entlang wackelte.

Joes Bereitschaft zum Abenteuer war mit dieser ihr unheimlichen Begegnung nach Weinviertler Art bereits mehr als ausgereizt, und sie beschloss, ihre erste Expedition in die Provinz damit zu beenden. Neil Armstrong hatte während seiner Mondlandung auch nicht gleich das gesamte Mare Tranquillitatis erkundet.

Sie ging zurück in den Wohnraum, um das offenstehende Fenster zu schließen.

Als müsse sie einen Verfolger, der ihr bereits dicht auf den Fersen war, abschütteln, krallte sie sich ihre Handtasche. Sie fand ihren Führerschein, ihre Kreditkarte, ihre Schminkutensilien, eine originalverpackte „Nur Die“-Strumpfhose, ein unbenutztes Kondom, eine Batterie … Wo waren die verdammten Hausschlüssel. Klar, dass sie diese nicht finden konnte, wenn sie sich in ihrer Jackentasche versteckten. Als auf einmal eine schmale, gutaussehende Frau mit blondem Bob in der Zufahrt auftauchte, dachte sie schon, ihr Herz würde nun jeden Moment aussetzen.

Was ist denn auf einmal los? Joe war sich nicht sicher, ob sie es nicht vielleicht doch laut ausgesprochen hatte.

„Was machen Sie hier!?“, fuhr die Blonde sie an. Sie war sicher einen Kopf größer als Joe.

„Ich …“

„Dachte ich mir. Erst brechen Sie in das Haus ein, und dann haben sie nicht einmal eine passende Ausrede.“

 

„Das ist mein Haus!“

„Wenn Sie herumschreien macht das die Sache nicht glaubwürdiger.“

„Aber es ist mein …“

„Dieses Haus gehört Johanna Steinmayr. Also was suchen sie hier?“

„Ich …“

„Soweit waren wir schon!“

„Ich habe das Haus geerbt“, brachte Joe endlich heraus.

„Johanna Steinmayr hat mich ersucht ab und zu nach dem Haus zu sehen.“

„Aber sie ist tot!“

„Leider.“

„Ich bin ihre Enkelin.“

„Sie sind die Enkelin aus Wien?“

Joe war wie paralysiert.

Die Blonde starrte sie an, als versuchte sie die Wahrheit hinter Joes neutraler Fassade zu finden. „War der alte Karl gerade hier?“ Die Stimme klang nun weniger aggressiv.

„Ein alter Mann war gerade da. Er schien verwirrt, suchte immer nach der früheren Besitzerin der Mühle. Sagte immer, Karl, sie ist nicht hier, sie ist nicht hier.“

„Er hat Sie doch nicht erschreckt?“ Die Großgewachsene lächelte.

„Um ehrlich zu sein ...“, Joe räusperte sich und hoffte, dass es nicht zu sehr nach Verlegenheit klang, „... ja.“

„Den dürfen Sie nicht ernst nehmen, das ist ein armer Spinner. Er läuft ständig durch den Ort, sucht Freunde und Bekannte von sich, die schon lange nicht mehr leben. Der ist harmlos. Könnte nicht einmal eine Ameise verletzen – zumindest nicht absichtlich.“

Joe betrachtete ihr Gegenüber skeptisch.

„Ich bin Sandra“, sagte die junge Frau.

„Joe“, sagte Joe und streckte ihr ihre schmale Hand entgegen. „Ich denke, ich habe für heute genug gesehen.“ Sie versperrte die Tür und ließ den Schlüsselbund in ihrer Handtasche verschwinden.

„Was jetzt?“, fragte Sandra neugierig.

Joe schätzte sie auf Mitte bis Ende zwanzig, höchstens dreißig. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie unter ihrer Sportjacke einen kurzen Rock trug, dessen Schüchternheit es ihm nicht gestattete, mehr als zwei Fingerbreit unter dieser hervorzulugen. Die blickdichten Strümpfe und die Stiefeletten mit den halsbrecherischen Absätzen ließen ihre Beine noch länger erscheinen.

„Ich weiß nicht. Ich würde jetzt gerne etwas essen und vielleicht, auf die ...“ Aufregung wollte sie schon beinahe sagen, „... neuen Eindrücke hin, ein kleines Bier trinken. Gibt es noch das Beisl, die Schenke – oder wie sagt man hier dazu – an der Dorfstraße?“ Es war wohl die Wienerin in ihr, die fürchtete, dass, sobald sie die Grenzen der Großstadt hinter sich gelassen hatte, sie in der Provinz den elementarsten Kräften der Natur ausgeliefert war und auf jegliche Art von Infrastruktur verzichten musste.

Sandra sah sie erstaunt an, als wäre sie gerade von einem Südafrikaner nach dem Weg zum Nordpol gefragt worden. „Ja, wir haben einen Wirten direkt an der Hauptstraße. Bei dem kann man sogar ganz anständig essen, wenn man nicht einen durch eine Drei-Hauben-Küche verdorbenen Geschmackssinn hat.“

Joe, vielleicht solltest du einmal etwas an deinen Vorurteilen gegenüber den hinterwäldlerischen Ureinwohnern hier arbeiten. „Hätten Sie Lust, mich zu begleiten?“ Die wird sich jetzt sicher denken, die feine Stadt-Tussi traut sich nicht alleine ins Dorfwirtshaus zu gehen.

Traut sie sich auch nicht, hörte sie eine Stimme tief in ihr.

„Glauben Sie mir. Die Gastronomie hier ist wirklich sicher. Wir verprügeln keine Großstädter – nicht einmal Wiener. Okay, ich will nicht übertreiben“, dabei fuhr sie mit schlanken Fingern durch ihr schulterlanges Haar, „sagen wir sehr selten, wenn grad keine Grazer oder Salzburger verfügbar sind. Die letzte Vergewaltigung …“

Joes Pupillen waren starr und angstgeweitet, als sie das Wort vernahm. Woher wusste diese Frau ...

„… liegt, wenn ich die Russen, die während des Kriegs hier gewütet haben, einmal ausnehme, schon eine Weile zurück.“ Sandras Miene war todernst. Erst Sekunden später zeigte sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht.

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Joe kämpfte dagegen an, sich ihre Erleichterung anmerken zu lassen. „Ich würde mich trotzdem freuen, wenn Sie mich begleiten, Sandra. Vielleicht können Sie mir auch erzählen, was sich in den letzten zehn, zwölf Jahren hier getan hat.“ Sie standen mittlerweile bei Joes Smart, der unter den riesigen Bäumen wie ein Matchbox-Auto aussah. Joe kramte in ihrer Tasche. Ein Lippenstift, eine Packung Papiertaschentücher, ein Ziehharmonika-Faltkalender, ein unscheinbares Fläschchen … Sie wandte Sandra den Rücken zu, warf den Kopf in den Nacken und träufelte fünf Tropfen auf ihre Zunge. Doch selbst das Elixier brachte den Wagenschlüssel nicht zum Vorschein.

„Den brauchen Sie nicht. Wir können die paar Schritte auch zu Fuß gehen. Der Wirt ist ja nicht weit.“

Müde und doch aufgekratzt ließ sie sich an jenem Abend auf ihr Sofa fallen. Zuvor hatte sie sich noch ein Glas Chardonnay eingeschenkt, das sie angenehm kühl an ihre pulsierende Schläfe hielt. Was Sandra ihr alles erzählt hatte, war sie nicht in der Lage gewesen in der kurzen Zeit aufzunehmen, geschweige denn zu verarbeiten. Ihr Schädel drohte zu platzen. Sie nahm einen Schluck und verteilte die Flüssigkeit in der Mundhöhle. Gedanken wirbelten wie bunt durcheinandergeworfene Wäsche im hochtourigen Schleudergang durch ihren Kopf. Wäre es für sie vorstellbar, ihr bisheriges Leben aufzugeben? Aus der Stadt, der sicheren Großstadt, wegzuziehen? Zu den Wilden, die vermutlich noch vor zwanzig Jahren mit Großstädtern ihre Nahrungsmittelvorräte ergänzt hatten. Joe!, ermahnte sie sich, lass den Quatsch! Das Heimatbuch war auch nicht allwissend. Sollte sie in diesem winzigen Nest jeden ersparten Cent in die Renovierung der alten Mühle stecken? Was, wenn es ihr dann dort draußen nicht gefiel? Was, wenn das Pendeln vier Mal die Woche nach Jedlersdorf, in ihre Ordination, ihr das Leben zur Qual machte? Was, wenn ... Joe! Schluss jetzt! Verdammt noch mal! Sie lief zum Kühlschrank, um aus dem Kellerfach noch Wein nachzuschenken. Auf dem Weg zum Sofa durchwühlte sie ihre Handtasche und entnahm dieser, nach längerem Suchen, einen haselnussgroßen Stein. Sich in die Polster kuschelnd, streckte sie ihre Beine und legte den Stein auf die Innenseite ihres linken Handgelenks. Dort wo sie den Puls fühlen konnte. Sie ergab sich ihren Gedanken, während sie in immer kürzer werdenden Abständen von ihrem Wein nippte.

Die einschläfernde Melodie des Klingeltons ihres Mobiltelefons wurde ständig lauter. Sie hatte schon die maximal mögliche Lautstärke erreicht, als Joe realisierte, dass sie gemeint sein könnte.

„Ja, bitte?“

„Was heißt da, ja bitte? – Ich bin es, Robert“, krächzte der Lautsprecher, darum bemüht, eine männliche Stimme zu imitieren.

„Wer? – Ach Robert, du bist’s.“ Sie fühlte ein Kribbeln in den Eingeweiden und presste ihre Beine fest aneinander.

„Ich habe schon den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Wo warst du denn?“ Seine Stimme klang frustriert und irgendwie langweilig.

„Ist eine lange Geschichte. Ich erzähl sie dir ein andermal. Hast du heute Abend noch Lust auf einen Schlummertrunk vorbeizukommen?“ Also wirklich! Sie war entsetzt, mit welchem Ernst sie etwas sagen konnte, das sie nicht einmal ansatzweise ernst meinte. Natürlich wollte sie, dass er vorbeikäme, aber doch nicht wegen eines Drinks. Hättest du Lust heute Abend auf schnellen Sex vorbeizukommen, würde auch blöd klingen, oder? Joe, lass den Mist!

„Irgendwie … es geht sich heute nicht mehr aus“, klang die Stimme aus dem Telefon. „Vielleicht ein andermal.“

Sie beendete das Gespräch nach ein paar Floskeln, die so leer waren wie ihr Sexleben. Warum musste sie mit Männern immer Pech haben? Dieser Robert schien ihr auch nicht die Spitze der Nahrungskette zu sein. Sie hatte zwar schon mit ihm geschlafen, doch damit hatte es sich auch schon. Als Ärztin würde sie sagen, sie hatten Sex. Sein großer, wunderbarer Schwanz war in ihr gewesen und hatte sich sogar in ihr bewegt. Irgendwann hatte er dann auch noch seinen Samen in sie entleert, ohne dass sie auch nur das Geringste gefühlt hatte. Orgasmus? – dieses große Wort. Wie schon so oft meinte ihr Körper, leider nein. Sie wusste sehr wohl, wie es sich anfühlte, wenn er sich aufbaute, heranwuchs, bis sie sich seiner nicht mehr erwehren konnte. Sie hatte schon unzählige gehabt. Doch Erfolge dieser Art waren ausschließlich ihrer geschickten Handarbeit zu verdanken.

Das in die Wanne laufende Wasser hüllte das Bad in dichten Nebel. Zumindest vorübergehend sollte ihr die Wärme ersetzen, was ihr eigentlich fehlte: die Nähe eines Partners, die Geborgenheit seiner Arme, die Berührungen seiner Lippen. Es wäre höchst an der Zeit, ihr Leben auf Kurs zu bringen, selbst bei widriger Witterung, und nicht gleich einer besoffenen Piratin, der obendrein noch der Sextant abhanden gekommen war, durch die aufgewühlte See zu schlingern. Langsam kroch die Hitze des Badewassers in ihren Körper.

Plötzlich waren die Hände an ihren Brustwarzen. Als besäßen sie ein Eigenleben, glitten sie ihren Bauch hinab, erforschten den Krater ihres Nabels. Ihr kurz geschorenes Haar streifend, tasteten sie nach den Schamlippen. Zwei Finger drangen in die Enge ihrer Vagina ein, stießen tief in ihr Inneres, bis ihre Hand jedes weitere Vorankommen unmöglich machte. Aphrodisierend war das Spiel, das die tanzenden Finger mit ihrem Geschlecht trieben. Unmissverständlich pulsierte ihre Klitoris gegen spielende Finger. Joe keuchte und stöhnte, schrie orgastische Laute an die Decke ihres Badezimmers. Sie peitschte ihre Gedanken in jene obszöne Vorstellung, dass sie kniend, auf allen vieren, brutal von hinten genommen werden wollte. Schlangengleich wand sie sich in dem verzweifelten Versuch, ihren Höhepunkt weiter hinauszuzögern. Wilde Muskeln zuckten um entfesselte Finger. Ihr Rücken versteifte, ihre Schenkel verkrampften sich, die Brüste fest zwischen ihren Oberarmen aneinandergepresst. Mit einem schrillen Aufschrei, die Faust gegen die Wanne schlagend, kam sie.