Harriet

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Aus der Reihe: Joe & Johanna Trilogie #2
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Kristina Schwartz

Harriet

Verschnürt verführt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Impressum neobooks

Widmung

Für Andi S.

Prolog

Hätte ich damals, als ich bei Sandra eingezogen war, nur ungefähr eine Vorstellung davon gehabt, was mich noch alles erwartet, hätte ich vermutlich auf der Stelle Reißaus genommen, wäre zurück in meine Wiener Wohnung geflüchtet, wäre dort in meine alte Verzweiflung und gewohnte Depression gekippt und alles wäre in bester Ordnung gewesen. Vielleicht hätte ich irgendwann wieder damit begonnen, nach einer neuen Beziehung zu suchen, hätte Ausschau gehalten, welche netten Singlefrauen im Internet nach ihresgleichen suchten. Meine Tage hätte ich mit langweiligem Patientenpalaver, meine Abende einsam aber angenehm im Badewasser unter Zuhilfenahme meiner geschickten Finger verbracht. Es gäbe Schlimmeres. – So dachte ich jedenfalls.

Zu meinem Glück ahnte ich damals aber nichts davon. Ich war zufrieden und unheimlich glücklich, das Haus, das Bett und meine sexuellen Neigungen mit einer Frau zu teilen, die mir – wie ich damals fälschlicherweise annahm – ähnlicher war, als es eine eineiige Zwillingsschwester hätte sein können.

Ich fühlte eine Liebe zu dieser Frau, so intensiv und stark, dass ich überzeugt war, keine Kraft der Welt würde uns je auseinander bringen können. Ich war mir sicher, dass mich ein Mann nie wieder interessieren würde, ich kein Verlangen mehr verspüren würde, einen harten, prallen Schwanz in mir zu spüren, in meinem Geschlecht, meinem Mund, meinem Anus. Dass mich die Vorstellung kalt ließe, wenn er mich mit kräftigen Armen auf eine Tischplatte warf, mich festhielt wie einen räudigen Köter, der noch immer im Wohnzimmer markierte, und mich brutal von hinten nahm, dass mir kaum genug Luft zum Atmen blieb.

All dessen war ich mir absolut sicher.

Doch dann passierte es. Das, was immer geschah, wenn ich mir einer Sache absolut sicher war. Es kam anders.

War es Zufall oder Vorsehung oder Schicksal? Eines Tages, Sandra kümmerte sich gerade rührend um mich, tauchte er auf, und von einer Sekunde auf die andere, warf er mein Leben aus seiner so sicher scheinenden Bahn.

Kapitel 1

Die kaum sichtbaren Härchen richteten sich an ihren Unterarmen auf, als sie versuchte, ihre Erregung im Zaum zu halten. Ein kalter Schauer überlief sie, während tief in ihr das Feuer der Begeisterung aufflammte. Sie ließ die Hand in ihren Schritt gleiten und gleich darauf entwich ihren intensiv geschminkten Lippen ein lustvolles Stöhnen. Dann blätterte sie eine Seite weiter.

Es war kein typisches One-Hand-Read, dieses Buch. Es war nicht einmal ein typisches, soll heißen, gedrucktes Buch. Und genau genommen dürfte sie es nicht einmal lesen, doch bis Joe nach Hause kam, würde sie ...

"Ich hoffe die SM-Praktiken meiner Großmutter langweilen dich nicht", riss eine angenehme Frauenstimme sie aus ihren Gedanken.

"Joe, ich dachte ..." Sandra war so verdutzt, dass sie ganz darauf vergaß, die Hand von ihrer Scham zu nehmen.

Joe drehte den Schreibtischsessel, in dem Sandra saß, zu sich.

"Wie ich sehe, hat meine Oma wohl gerade wieder eine neue Leserin gewonnen. Eine, die so begeistert ist, dass sie es kaum noch aushielt, auf mich zu warten."

Unendlich langsam, als wäre die Bewegung für ihr Gegenüber unsichtbar, zog Sandra ihre Hand zurück. Joe packte sie am Gelenk und steckte Mittel- und Zeigefinger in den Mund.

"Drei Hauben."

"Was?"

"Du schmeckst so gut, Sandra. Drei Hauben wären nicht zuviel."

Sandras Teint färbte sich so dunkel wie das Rot ihrer Lippen. Gleich darauf grinste sie verlegen.

"Hab' ich mir's gedacht, dass dich das Geschreibsel von Großmutter Johanna antörnt. Aber, es versteht sich natürlich von selbst, dass ich dich bestrafen muss."

Sandra ließ ihren Kopf hängen und nickte stumm.

"Und wofür werde ich dich bestrafen?" Joes Ton klang scharf. "Antworte!"

"Weil ich ein unanständiges Mädchen war und mit meinen Fingern ..."

Joe lachte laut auf. "Das hättest du wohl gern."

"Warum dann?"

"Weil du das Buch ohne Erlaubnis genommen hast."

"Aber, es lag doch breit auf deinem Nachtkastl."

Joe zog die Augenbrauen hoch, als hätte sie nicht richtig verstanden. "Hör ich da einen Widerspruch?"

Sandra sah sie groß an.

"Bei Dominanz und Unterwerfung gibt es keine demokratischen Entscheidungen."

Sandra erinnerte sich. Das waren ihre eigenen Worte gewesen, als sie Joe damals ... Aber das schien ihr schon so lange her.

"Jawohl, Herrin! Ich meine ... natürlich nein, Herrin."

"Braves Mädchen", sagte Joe und strich mit ihren schlanken Fingern durch Sandras Haar.

Diese schlug die Augen nieder. Der dezente Lidschatten gab ihrem mädchenhaften Gesicht etwas Erwachsenes.

"Großzügig, wie ich nun einmal bin ..."

Sandra dachte das Aufblitzen eines verschmitzten Lächelns in Joes Gesicht gesehen zu haben.

"... überlasse ich dir die Wahl der Bestrafung."

Sandra blinzelte durch die tiefschwarz getuschten Wimpern. Eine Kribbeln lief wie ein Heer von Ameisen über ihre Haut.

"Bis morgen Abend einundzwanzig Uhr wirst du mir mindestens zwei Vorschläge unterbreiten.- Noch Fragen?"

"Darf ich jetzt endlich weiterlesen?, Herrin."

Joe lachte. "Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall, meine Große."

*

Joe fühlte eine Ruhe und Ausgeglichenheit, als sie hinter ihrem Schreibtisch in der Ordination saß, die sie früher nie verspürt hatte. Sie rekelte sich in ihrem ledergepolsterten Sessel und besah sich ihre Beine, die sie zwecks Entspannung auf dem Tisch hochgelagert hatte, als ihr nächster Patient ins Zimmer trat.

Joe war so verdutzt, dass sie kein Wort herausbrachte.

"Guten Tag, Hudl", stellte er sich vor.

"Guten Tag", kam es von der Ärztin wie in Trance. Langsam rollte sie mit dem Sessel zurück und ließ ihre Beine, wie sie es als kleines Mädchen gelernt hatte, sittsam unter dem Tisch verschwinden.

"Hab' ich Sie schon aufgerufen?" Es war eine Mischung aus Vorwurf und Frage.

"Ihre Assistentin hat mich hereingeschickt. Sie sagte, Sie wären schon so weit." Helmut Hudl verzog sein Gesicht, als wollte er fragen, ob die Antwort als Rechtfertigung genüge.

"Soso, meine Assistentin."

"Doch-doch. Übrigens eine ausgesprochen hübsche Person ihre Vorzimmerdame, mit ihren roten Locken und den hochhackigen Stiefeln. Wie alt ist sie eigentlich? Mitte zwanzig?"

Joe war verwirrt. "Frau Schober, meine rechte Hand, ist korpulent, Ende vierzig und trägt wegen ihrer Spreiz-Senk-Füße stets Birkenstock Hausschuhe während der Arbeitszeit."

"Oh, dann hat man mich offensichtlich ..."

"Ja, offensichtlich hat man das, Herr Hudl." Joe straffte ihren Rücken und war nun im Sitzen beinahe so groß wie ihr Gegenüber. "Was kann ich für Sie tun?" Dabei strahlte ihm ihr professionelles Lächeln entgegen.

Sein gerade noch so sympathisches Gesicht verzerrte sich, seine Wangen leuchteten als hätte er Rouge aufgelegt. Er rutschte auf dem Besuchersessel vor und zurück, schlug ein Bein über das andere. "Wie soll ich sagen ..." Fahrig strich er über seine Jeans, als entferne er eine Fussel. "Die Sache ist etwas delikat."

Fragend hob Joe die Augenbrauen. "Da können Sie ja von Glück reden, dass Sie zu mir gekommen sind. Ich bin nämlich Spezialistin für delikate Angelegenheiten", schmunzelte sie. "Sie können mir alles anvertrauen."

Er holte tief Luft. "Ich habe vor einer Woche ein nettes Mädchen kennengelernt ... neunzehn, acht Jahre jünger als ich."

Joe hatte ihre Hände vor der Brust gefaltet und versuchte ihren Patienten durch zustimmendes Nicken zum Weiterreden zu animieren.

"Wir hatten etwas getrunken. Nicht viel. Zwei, drei Aperol-Spritzer vielleicht, ein paar Glas Weißwein, zum Abschluss noch ein paar Wodka - doppelte."

"Wollen Sie mir ein Drehbuch verkaufen?", unterbrach ihn Joe unwirsch.

"Bitte?"

"Kommen Sie auf den Punkt."

"Dann fuhren wir zu mir - mit den Öffis. Wir küssten uns. Dann, ich weiß nicht mehr genau, hatte sie mir plötzlich meine Hose runtergezogen, drängte mich zur Couch und verpasste mir ..." Hudls Gesicht leuchtete mittlerweile dunkelrot. "... einen Blowjob. Ihre Lippen waren so zärtlich, ihre Zunge so ..."

 

Und nun erwarten Sie das gleiche von mir, lag Joe schon auf der Zunge. Doch sie entgegnete nur: "Herzlichen Glückwunsch. Doch warum sind Sie eigentlich hier?"

"Nun ... ich kenne sie noch nicht lange, weiß nichts über sie ..."

"Herr Hudl, bitte. Draußen warten noch andere Patienten."

Er riss die Augen auf. "Könnte ich mir dabei Aids eingefangen haben?"

Dämliche Frage, dachte Joe. Aids durch Blowjob? Was sollte der Schwachsinn! Sie legte die Stirn in Falten, was zwar nicht immer, doch in diesem Fall ein sicheres Indiz dafür war, dass sie ernsthaft nachdachte. Vielleicht war die Frage gar nicht so dämlich. "Hat sie Sie gebissen?"

"Natürlich nicht." Er grinste. "Das hätte ich gemerkt."

"In ihrem Zustand?"

"Bitte?"

"Hatte die Frau Verletzungen im Mund?"

"Wie?"

"Oder Zahnfleischbluten? Eine offene Wunde?, ... etwas in der Art."

"Ich denke nicht. Weiß nicht."

"Schauen Sie, Herr Hudl. Ich würd' mir deswegen jetzt keine grauen Haare wachsen lassen. Wir können natürlich gern einen Test machen, aber ich stufe die Wahrscheinlichkeit so gering ein, dass ich es vorerst nicht für notwendig halte."

Helmut Hudl schien erleichtert.

"Aber ..."

Er war gerade im Aufstehen begriffen und ließ sich nochmals auf die Sitzfläche zurückfallen.

"... ich würde Sie gerne morgen Früh Punkt sieben Uhr zur Blutabnahme sehen."

Unsicherheit war mit einem Mal in seinen Augen zu lesen. "Aber Sie sagten doch gerade ..."

"Ihre Leberwerte, Herr Hudl." Dabei grinste die Ärztin schelmisch.

"In Ordnung", sagte er resigniert und gab Joe zum Abschied die Hand.

"Schicken Sie mir bitte umgehend meine Assistentin herein! - Danke!"

Als es gleich darauf klopfte, war die Anklopfende nicht gewillt auf eine Aufforderung einzutreten zu warten. Einen Augenblick später stand Christine Schober, ihre Sprechstundenhilfe, bereits raumfüllend im Zimmer. "Bitte?", sagte sie knapp.

"Ach sie sind's?"

"`tschuldigung! Wen haben Sie erwartet?"

"Ich dachte nur ..."

"Haben sie draußen eine schlanke große Frau, Mitte zwanzig, mit hochhackigen Stiefeln gesehen."

"Soviel ich mich erinnern kann, haben sie mich für die Anmeldung und Betreuung ihrer Kunden - Verzeihung! - Patienten eingestellt. Ich kann mir wirklich nicht die Klamotten auch noch merken. - Aber, um die Frage zu beantworten, an eine schlanke, junge Frau kann ich mich nicht erinnern."

Joe kratzte sich am Kopf.

"Sie wissen doch. Heut' ist Montag."

Joe hatte das Gefühl, in einem Paralleluniversum festzustecken. "Und?"

"Montags sind immer die Fettleibigen, die Couch-Potatoes und die Alkohol-Hedonisten. Und die Lustigen, die glauben, bei dm und Billa gibt's die Sonnencreme zum Spaß zu kaufen."

"Verstehe. Und Sie glauben ein Mädchen in den Zwanzigern fällt in keine der genannten Kategorien?"

Frau Schober stellte sich breitbeinig hin und verschränkte die Arme vor ihrer ausladenden Brust. "Schwer. Meiner Meinung nach zumindest."

"Danke. Das wär' für den Moment alles. - Schicken Sie mir bitte den nächsten Patienten."

"Sofort." Und noch ehe das Wort verhallte, war die Sprechstundenhilfe wieder verschwunden, ebenso flink, wie sie aufgetaucht war.

Joe warf einen raschen Blick auf ihren Bildschirm. Dr. Bertram war der Nächste. Eine unangenehme Hitze stieg in ihr hoch. Rasch schloss sie auch noch den obersten Knopf ihrer Bluse.

Gleich darauf stand freudestrahlend Dr. Bertram in ihrer Ordination und schleuderte ihr ein gutgelauntes "Guten Tag, Frau Doktor" entgegen.

*

Ihrer Frauenrunde hatte Joe zugesagt, dass sie zuverlässig um halb acht im Santo Spirito sein werde. Da half es auch nichts, dass sie sich nun müde und abgezehrt fühlte und am liebsten gleich ins nächste Bett gefallen wäre. Doch versprochen war versprochen - echtes Frauenehrenwort. Ein Nichterscheinen war nur bei schwerer Krankheit oder Tod tolerierbar.

Als sie zehn Minuten vor der Zeit in das Lokal in der Kumpfgasse kam, war Andi schon da. Klassische Musik plätscherte wie gewohnt aus der Stereo-Anlage.

Andrea, die bereits bei ihrem ersten Spritzer saß, war so mit der Speisekarte beschäftigt, dass sie Joe gar nicht bemerkte. Das lange dunkelbraune Haar, das ihr einseitig über die Schulter fiel, gab ihr, missverständlicherweise, etwas Unschuldiges.

"Ist hier noch frei?"

"Joe! Schön dich zu sehen."

"Schön dich zu sehen", sagte Joe, als spreche sie zu George Clooney. "Was tut sich im Burgenland?"

"Ja, weißt eh, tut sich eh immer was."

"Na dann. Wie geht's Reinhard?"

"Hat jetzt endlich die Meisterprüfung geschafft. Aber die Tischlerei, die ihm versprochen hat ihn einzustellen, ist mittlerweile Pleite gegangen."

"Oh, das ist ja Pech."

"Also, wenn du `ne Tischlerwerkstatt kennst, die noch nicht Pleite ist ... Ich bin dir für jeden Tipp dankbar."

"Klar", sagte Joe und dachte, dass es durchaus denkbar war, Teile der Inneneinrichtung der Mühle von einer Tischlerei anfertigen zu lassen. "Und bei dir?"

Der Kellner kam und sie bestellte einen weißen Spritzer.

"Jobmäßig nichts Neues. Aber ..."

"Aber?" Joe horchte auf.

"Ich glaub', mein Mann hat eine Freundin."

"Ist nicht wahr. Tatsächlich?" Joe fragte sich, woher so ein langweiliger, mürrischer Spießer wie Reinhard wohl eine Freundin gezaubert hatte. Der Mann war ihr ein Rätsel. Nur weil er ganz gut aussah, war das doch noch lange kein Grund, dass er sich gleich ...

"Und, dir geht's gut? Siehst großartig aus."

Joe grinste.

"Hast du endlich deine große Liebe gefunden?"

"Kann man das je mit Bestimmtheit sagen?" Joe legte die Stirn in Falten. "Aber bisher sieht's ganz gut aus."

"Wer ist es denn?" Andis Augen begannen zu leuchten. " Ein Manager, ein Anwalt, ein Zahnarzt?

Joe holte tief Luft.

"Ein Banker, ein Chirurg, ein Architekt?"

"Es ist eine SIE."

Andi lachte laut auf. "Jetzt verschaukelst du mich."

Joe verzog keine Miene. Für einen nicht enden wollenden Augenblick entstand eine peinliche Stille.

Andrea sprang auf, fiel Joe um den Hals und küsste sie. "Ich freu' mich so für dich! Ich hab' mir immer gewünscht, dass du wen findest, den ... äh ... die du lieben kannst."

"Na, da geht's ja schon lustig zu." Es war die Stimme von Karin.

"Darf ich auch?", fragte Renate und warf sich Joe an den Hals, um diese zu begrüßen. "Worum geht's überhaupt?", wollte die große, schlaksige Freundin wissen. Der Schalk brannte in ihren blauen Augen und das brünette Haar schmiegte sich um ihre Schultern wie ein seidener Vorhang.

"Wir feiern Joes große Liebe", antwortete Andi.

"Oh, wie nett. Hat es endlich gefunkt. Freut mich für dich." Karin - böse Zungen behaupteten sie sei Michelin für das gleichnamige Männchen Modell gestanden - gab Joe einen nassen Kuss auf beide Wangen. Ihre Prinz-Eisenherz-Frisur schimmerte diesmal zur Abwechslung in einem dezenten Rotblond.

"Danke", sagte Joe. "Ihr seid wahre Freundinnen."

"Sag schon, wie ist er, wer ist er, was ist er? Hat er Geld?"

Andi sah verstohlen zu Joe, die drohte, gleich von zwei Augenpaaren verschlungen zu werden.

"Er ist eine Sie und heißt Sandra."

Wieder dieses betretene Schweigen. Renates Augen waren weit aufgerissen, ebenso ihr Mund.

Nach einer Ewigkeit durchbrach Karins selbst für eine Frau zu hoch geratene Stimme die peinliche Stille. "Habt ihr auch solchen Durst? Ich brauch' jetzt unbedingt was Alkoholisches." Sie rief den Kellner, um ein Krügel zu bestellen.

Renate bestellte einen Kaiser-Spritzer.

"Wie ist sie denn?", wollte Renate wissen, nachdem der Ober die Getränke gebracht und die vier sich zugeprostet hatten.

Joes Augen verrieten eine gewisse Unsicherheit. "Nett, einfühlsam, die zweite Hälfte von mir, die ich so lange vermisst habe."

Karins Bauch, der ohne Probleme als der einer Schwangeren im achten Monat durchgehen konnte, drängte energisch gegen den Tisch. Sie verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf, ehe sie schulmeisterte: "Wie soll denn das gehen. Eine Frau die zweite Hälfte einer Frau?"

"Ich ... keine Ahnung. Ich kann es dir auch nicht sagen."

Karin zog eine verächtliche Grimasse.

"Vor zwei Monaten hätte ich es mir auch noch nicht vorstellen können", meinte Joe nicht ganz wahrheitsgemäß.

"Es gibt also kein Yin & Yang mehr, sondern nur noch Yin & Yin", ätzte die füllige Prinzessin Eisenherz.

Joe saß da, ohne ein Wort zu sagen. War das Intoleranz, Unsicherheit oder schlicht und profan Gehässigkeit? Möglicherweise Neid? Karin, Mutter zweier Kinder, war seit Jahren nur noch auf dem Papier verheiratet. Ihre Ehe war gleich nach der Geburt des zweiten Kindes brüchig, ihr Mann Alfons abtrünnig geworden. Aus dem stets wortkargen Alfons war sie nie schlau geworden.

"Das verstehst du nicht", platzte Andi mit einem Mal heraus. "Warum soll sie nicht eine Frau lieben?"

"Das sagst gerade du, die du mit einer abgespeckten Mischung aus David Beckham und Josh Holloway verheiratet bist. "Würdest du deinen Mann gegen eine Frau tauschen?"

Andi lächelte das Lächeln der Wissenden, die über den Dingen stand. "Wie ich gerade sagte, Karin, das verstehst du nicht."

Renate saß noch immer, wie von einem plötzlichen Wintereinbruch überrascht und tiefgefroren, mit sperrangelweit geöffnetem Mund in der Runde.

Andi legte ihre Hand auf Joes Schulter und lächelte sie an. "Ich finde es ganz großartig, dass du auf deine innere Stimme und deine Gefühle hörst und dich nicht von anderen in blöde Klischees drängen lässt."

Ha! Siehst du, Joe, ich hab's ja immer schon gewusst, dass ich für was gut bin, hörte sie ihre innere Stimme sagen.

Renate brachte nun doch ein zustimmendes Nicken hervor.

*

Aufgrund der späten Stunde hatte Joe es vorgezogen, die Nacht in ihrer Wiener Wohnung zu verbringen. Bevor sie zu Bett ging, checkte sie noch einmal die Textnachrichten auf ihrem Smartphone. Es gab nur eine, mit dem schelmischen Konterfei Sandras.

"Hab dich lieb. Dickes Bussi. S."

Joe kam sich mit einem Mal einsam und verloren in dem viel zu großen Bett vor. Sie schickte eine knappe Liebeserklärung zurück: "Vermisse die Wärme deiner Haut!!!! J."

Mit sanften Händen strich sie über ihre Brüste, ihren Leib bis hinunter zu ihren Schenkeln, als ein Piepsen den Eingang einer neuen Nachricht anzeigte.

Ein lachendes Emoticon erschien auf dem Display gefolgt von: "Der Polier war heut da und wollt dich sprechen. Sagt es wär wichtig."

Joe fragte sich, was denn so wichtig sei, da sie doch mit Baumeister Kaefer alle relevanten Punkte, was die Sanierung der Mühle betraf, bereits besprochen und eventuelle Unklarheiten abgeklärt hatte. Vermutlich weiß er jetzt schon, ging es ihr durch den Kopf, dass er den Kostenvoranschlag nicht einhalten wird können. Allgemeines Krankenhaus Wien, Phyrnautobahn, Semmeringbasistunnel, Skylinkterminal Flughafen Wien. War in Österreich jemals ein Kostenvoranschlag eingehalten worden? Oder ein Zeitplan? Nun schien das Schicksal einer Nation auch auf die ländliche Idylle ihrer Mühle überzuschwappen. Dabei hatte er so einen seriösen und kompetenten Eindruck gemacht, der Baumeister.

Entspannt saß Joe hinter dem Schreibtisch. Ihre Entspannung währte allerdings nur kurz, bis Dr. Bertram - dem ein chronisches Leiden anzuhaften schien - die Ordination betrat.

An diesem Tag hatte sie den schwer zu widerlegenden Verdacht, dass er nur gekommen war, um sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Wie stets machte er einen seriösen und äußerst kompetenten Eindruck, was sie nicht zuletzt seinem akribisch gebügelten Anzug und dem perfekt sitzenden Windsorknoten zuschrieb. Mit den grauen Schläfen und den aufgeweckten Augen, die aus seinem runden Gesicht strahlten, sah er aus wie ein zu bürgerlich geratener Adeliger. Joe versuchte den Gedanken an seinen vorletzten Besuch weit wegzuschieben, bei dem sie ihm nicht ganz freiwillig in die Arme gefallen war und ihm dabei großzügige Einblicke in ihr Dekolleté gewährt hatte. Peinlich, das war ausgesprochen peinlich. Unprofessionell noch dazu. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.

 

"Haben Sie sich erkältet?", wollte Dr. Bertram wissen.

Sie versuchte einen möglichst herablassenden Blick aufzusetzen.

"Vielleicht sollten Sie sich selbst etwas ..."

Joe hob fragend die Brauen.

"... verschreiben. Ich meine, Sie sitzen doch quasi an der Quelle. Ein Schrank voll mit Ärztemustern ..."

Sie verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen, aus denen sie nur zu bereitwillig ein paar Laserstrahlen auf ihren Patienten abgefeuert hätte.

"Ich meine, Sie sollten Ihre Gesundheit nicht auf's Spiel setzen ... Selbst im Sommer, wenn es ..."

"Dr. Bertram, was kann ich für Sie tun", setzte Joe endlich dem Geschwafel ihres Patienten ein Ende. "Wie gestern? Wieder der Blutdruck?"

Er nickte.

Als sie zu ihm ging, um ihm die Manschette anzulegen, bemerkte sie seinen neugierigen Blick an ihrem Kleid. Eine innere Befriedigung überkam sie, weil sie wusste, dass der hautfarbene BH eine großartige Idee für die Ordi gewesen war. Da gab es nichts, was ihre Patienten weiß oder schwarz oder womöglich gar spitz durchschimmern sehen konnten.

"Glauben Sie nicht, dass ein BH für diese Jahreszeit ... zu warm ... sein könnte?"

Die Ärztin lächelte ihn sicher an, während sie Luft in die Manschette pumpte. Wie die Kopfhörer eines iPods stöpselte sie sich die Enden des Stethoskops in die Ohren, und lauschte, was ihr Dr. Bertrams Blut gleich sagen würde.

Besorgt sah er zu ihr auf.

"Es ist alles Bestens, mein lieber Doktor. Leicht erhöht, aber keineswegs bedenklich."

Der Patient nickte.

Als sie sich von ihm verabschiedete, sah sie noch, wie sein Blick ihre Beine hinauf bis zum Saum des Kleids wanderte, um schließlich von ihr abzulassen. "Danke und auf Wiederschauen. - Der Nächste bitte!"

Um vierzehn Uhr, nachdem sie auch den letzten Patienten, wie sie hoffte, zu seiner Zufriedenheit behandelt und ihrer Sprechstundenhilfe noch einen angenehmen restlichen Dienstag gewünscht hatte, schloss sie die Praxis ab, um mit der Schnellbahn nach Wien Mitte zu fahren. Von dort mit der U3 bis Stubentor. Baumeister hin, Polier her, sie hatte noch eine dringende Besorgung zu machen, die keinen Aufschub duldete.

Zügigen Schrittes klapperte sie mit ihren Pumps das Kopfsteinpflaster der Bäckerstraße entlang. Wie eine Unsichtbare schlängelte sie sich durch die Zeitschriftenabteilung der Buchhandlung Morawa bis zum Schalter, wo sie ihre bestellten Bücher abholen wollte.

"Ich habe zwei Bücher bei Ihnen bestellt", meinte Joe und versuchte dabei mit fester Stimme zu sprechen. Sie hoffte ihr Make-up, das sie in der Ordi noch einmal aufgefrischt hatte, sei dick genug, um eine etwaige Röte ihrer Wangen nicht durchscheinen zu lassen. Sie überreichte der Frau mit dem blonden Wuschelkopf eine Zettel mit den Buchtiteln. Diese setzt ihre Lesebrille auf.

"Englisch, nicht wahr?" Dann sah sie auf und musterte Joes Physiognomie.

Ich bin ganz ruhig, ich bin ganz ruhig, ich bin ganz ruhig, schienen alle Zellen in Joes Körper zu rufen.

"Auf welchen Namen?"

"Bitte?" Joe war auf ein Verhör in einer so heiklen Angelegenheit nun wirklich nicht gefasst gewesen. "Dr. B... haha." Joe brach in dieses gekünstelte Lachen aus, mit dem Frauen ihrem Gegenüber zu verstehen gaben, dass ihnen diese Situation nun mehr als peinlich war. "Was red' ich denn da? - Kienzl, Sandra Kienzl, natürlich."

"Ja, Frau Kienzl ...", sagte die Verkäuferin und blinzelte verächtlich zwischen ihren Locken hervor, als wolle sie Joe sagen, sie wisse genau, dass das nicht ihr richtiger Name sei. "... Ihre Bestellung ist eingetroffen." Sie verschwand für einen Moment, um gleich darauf mit zwei Büchern, die sie wie ein Heiligtum mit beiden Händen vor ihrer Brust hielt, zurückzukehren. "Hier, bitte."

Joe schnappte die Bücher, um sich damit unverzüglich zur Kassa zu verdrücken, ehe die Angestellte noch auf die Idee kam, die Buchtitel vor allen Anwesenden laut auszusprechen.

"Viel Spaß damit", hörte sie die Verkäuferin in ihrem Rücken noch sagen. An der Kassa zahlte sie bar. Sie hatte zuvor extra noch beim Bankomat Geld behoben, da sie weder mit der Kredit- noch mit der Maestrokarte elektronische Spuren ihrer zweifelhaften Einkäufe hinterlassen wollte. Nachdem sie auch diese Hürde, zwar nicht mit Bravour, aber doch gemeistert hatte, packte sie ihre Schätze in den Rucksack.

Trotz des luftigen Sommerkleids, das ihre Knie umspielte, war sie schweißgebadet, als sie wieder auf die Straße trat.

Joe, du bist wirklich zu dämlich. Jetzt hast du heute die Ordi so stressfrei rübergebracht und nun in deiner Freizeit machst du dir Stress pur. Warum bestellst du das Zeug nicht das nächste Mal beim Bookdepository oder Amazon? Bevor du dich nochmal in der Buchhandlung zum Affen machst!

Die Idee war schon verführerisch, auch wenn Joe für Internetshops nicht allzuviel übrig hatte.

"Du kommst spät", raunzte Sandra, die in ihrem winzigen Garten in der Hängematte lag.

"Geschäfte", nuschelte Joe, ohne auf deren Art näher einzugehen.

"Der Polier war schon wieder da. Warum hat der eigentlich nicht deine Nummer?"

"Der Baumeister hat sie. Warum hat er sie nicht weitergegeben?"

Sandra legte die Stirn in Falten. "Datenschutz?"

"Haha, der war nicht schlecht." Joe musste tatsächlich lachen. "Datenschutz in Österreich, in der EU? In welcher Galaxis, glaubst du eigentlich, leben wir?"

"Okay, war `ne blöde Idee von mir. - Wie war dein Treffen gestern?"

Joe streckte ihren rechten Arm aus und wackelte mir ihrer Hand wie ein in Turbulenzen geratenes Flugzeug. "So lala. War schon mal netter."

Ihre Freundin sah sie an, sagte aber nichts.

Joe streifte ihr Kleid ab und stellte sich nur in Unterwäsche in die Sonne.

"Vornehm, wirklich vornehm, deine Blässe."

"Wer hat, der hat", entgegnete Joe.

Sandra, deren Haut bereits von einer ansprechenden, hellen Bräune überzogen war, schmunzelte. "Könntest ja noch zur Mühle schauen. Vielleicht sind die noch da."

Joe sah auf die Uhr. "Jetzt um halb sechs. Glaub' ich kaum." Sie ging zur Hängematte, beugte sich weit über und küsste Sandra, die ohne ihren Körper mit einem Fleckchen Stoff zu verschandeln drinnen lag, küsste sie auf das kurzgeschorene blonde Dreieck und die Brüste, bevor sie mit ihrer Zunge ungestüm in deren Mund eindrang.

Sandra verdrehte ihre Augen in süßer Verzückung. Als der Kuss doch irgendwann geendet hatte, hauchte sie mit der Stimme der Verführerin: "Magst du spielen?"

"Immer", kam wie aus der Pistole geschossen die Antwort.

"Immer, Herrin", heißt das, setzte Sandra sofort nach. Damit waren die Rollen für den weiteren Abend verteilt.

Splitterfasernackt lag Joe auf dem Bett. Ihre Arme und Beine hatte Sandra mit Handschellen am Kopf- und Fußteil fixiert. "Moment mal. Solltest du dir nicht überlegen, wie ich dich für das unerlaubte Lesen von Omas Tagebüchern bestrafe?"

Sandra grinste breit. "Zu spät, zu spät!"

Plötzlich durchbrach das Schrillen der Türglocke die prickelnde Zweisamkeit.

"Scheiße", kam es von Joe und Sandra, als hätten sie nur auf ihr Stichwort gewartet.

"Wer kann denn das noch sein?"

Sandra, die außer hochhackigen Stiefeletten genauso viel am Leib trug wie Joe, warf sich rasch den Morgenmantel über und lief zur Tür. "Ah, Sie sind's schon wieder", ließ Sandra ihre nicht gerade freundliche Begrüßung vom Stapel, während sie die Tür mit einem Ruck aufriss.

"Ja, tut mir leid. Ich schon ..." Der Polier, der sie irgendwie an Sawyer aus der Serie Lost erinnerte, hielt inne. Er betrachtete die Schuhe mit den Wahnsinnsabsätzen, den seidenen Mantel und ihr wirres Haar. "Ich störe grad, nehm' ich an ..."

"Sie nehmen richtig an."

"Sagen Sie bitte der Frau Doktor Binder, dass sie mich unbedingt kontaktieren soll."

Joe horchte auf. Diese Stimme, diese angenehme Stimme. Sie wand ihre Gelenke in den Handschellen und wusste, dass das morgen wieder böse Abschürfungen geben würde. Hätte sie nur eine Hand freibekommen, ...

"Ich hab's ihr schon gesagt."

"Bitte richten Sie es ihr nochmals aus." Sein Bizeps zeichnete sich durch sein T-Shirt ab und seine Bartstoppeln verliehen ihm eher die Aura eines Abenteurers als die eines Bauarbeiters. "Wir können nicht weitermachen ohne ihre Anweisungen. Ich bin aber erst übermorgen ab sieben wieder auf der Baustelle. Vielleicht kann sie vorbeischauen."

"Übermorgen. Ab sieben. Ich werd' mein Möglichstes tun", lächelte Sandra, ehe sie die Tür schloss.

Wie akustisches Aphrodisiakum war die angenehme Stimme des Poliers über Joes Körper gefegt und hatte nicht nur ihre Härchen im Nacken und auf den Armen zum Stehen gebracht.

Sandra warf ihren Mantel auf den Boden, kniete sich auf die Matratze und langte zwischen Joes Beine. "Du leckst wie ein Sieb, Frau Doktor." Sie kontrollierte die Handschellen, die eng Joes Gelenke umschlossen.

Joe verdrehte die Augen in peinlicher Verlegenheit.

"Freut mich, dass es dich so antörnt, wenn ich zwischen Tür und Angel mit deinem Polier rede."

"Tut mir leid. Ich wollte nicht, aber ..." Joes Stimme war kaum noch zu hören.

*

Ihre Vision war verschwommen, unklar. Unsicher tastete sie sich durch ein Labyrinth von Gängen, möglicherweise war es auch nur ein einziger. In ihrem Zustand, irgendwo zwischen vom Alkohol betäubt und von Amphetaminen aufgestachelt, vermeinte sie in weiter Ferne einen hellen Punkt zu sehen. Tollpatschig und doch zielstrebig wankte sie ihm entgegen. Als sie näherkam, sah sie, dass es sich um einen in krankenhausweiß ausgemalten, verschwenderisch beleuchteten Raum handelte. Doch es gab keine Tür zu dem Raum, lediglich einen Durchgang, einen wundervoll mit alten rotbraunen Ziegeln gemauerten Rundbogen. Unsicher, als wäre sie gerade im Begriff etwas Verbotenes zu tun, betrat sie den Raum. Plötzlich erstarrten ihre Glieder mitten in der Bewegung. Wo kam die Frau mit einem Mal her, die sich gleich einer Statue von Rhodin mitten im Raum erhob? War sie einen Augenblick zuvor auch schon da gewesen? Sie rieb ihre Augen, sah erneut hin. Kein Zweifel. Es war eine Frau, die durch ihre unnatürliche Haltung etwas Beängstigendes ausstrahlte.