Gwendoline

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Aus der Reihe: Joe & Johanna-Trilogie #3
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Kristina Schwartz

Gwendoline

Opfer süßer Lust

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Impressum neobooks

Widmung

Für John A.

Kapitel 1

»Lass mich deine Sklavin sein«, sagte sie, und ihre grünen Augen glühten vor Begeisterung. Sie rannte ins Schlafzimmer und kam mit ein paar Handschellen zurück.

Sandra verdrehte die Augen.

Die Großgewachsene schnappte sich ein Geschirrtuch, stopfte es sich in den Mund, lehnte sich auf dem Boden sitzend gegen ein Bein vom Küchentisch, das sie mit beiden Armen umfasste, und ließ die Handschellen demonstrativ laut einschnappen.

Amüsiert betrachtete Sandra sie. »So geht das aber nicht, Anika!«, dabei legte sie den Kopf zur Seite, als würde sie nachdenken.

»Warum nicht?«, schienen Anikas weit aufgerissene Augen, die aus einem mittlerweile wieder makellosen Gesicht, ohne hässlicher Hautverfärbungen, strahlten, zu fragen.

»So einfach ist es nicht.«

Sie versuchte den Knebel auszuspucken, was ihr beim dritten Anlauf auch gelang. »Aber es könnte so einfach sein.«

Genervt stieß Sandra die Luft aus.

»Du könntest mich erziehen«, sagte sie mit dem Enthusiasmus einer Zehnjährigen und dabei rüttelte sie demonstrativ heftig an ihren Handfesseln, um zu verdeutlichen, wie sie sich ihre Erziehung im Detail vorstellte. »Mir meine Flausen austreiben!« Ihr Lachen klang unschuldig und naiv. Sie wandte den Kopf und betrachtete Sandras Scham, die durch das zarte Gewebe der Strumpfhose gut zu sehen war. Provozierend spreizte diese ihre Beine noch weiter.

»Was schaust du so?«

»Deine Frühherbstgarderobe?«

»Bitte?«

»Minirock, Strumpfhose, kein Höschen?«

»Ich bin wirklich nicht gewillt, mich zu Tode zu schwitzen, bei fünfundzwanzig Grad Anfang Oktober«, entgegnete Sandra ernst. »Sind außerdem nur zwanzig Den.«

»Da spricht die Expertin. Oder bist du mittlerweile schon Fetischistin?«

Sandra schien die Frage nicht gehört zu haben. »Wie stellst du dir das vor, Anika, nach allem, was geschehen ist? Einfach zur Tagesordnung übergehen?«

Anika sah sie groß an.

»Es hat mich eine Menge Zeit gekostet, Joe davon zu überzeugen, ihr Kidnapping nicht einem Anwalt zur weiteren Verfolgung des Rechtsweges zu übergeben.«

Ein breites Schmunzeln legte sich über Anikas Gesicht. »Weil du mich immer noch liebst.«

»...«

»Ich wollt’ dich damals nicht mit Absicht provozieren.«

»Das hat Chruschtschow zweiundsechzig zu Kennedy auch gesagt«, entgegnete Sandra lapidar.

»Wärst du etwas relaxter gewesen, hättest du mich auch nicht gleich aus deinem Haus geworfen.«

»Hat dir das dein Seelenklempner eingeredet? Wie heißt der Quacksalber?«

»Ist mir ganz von allein eingefallen, wenn du’s genau wissen willst.«

»Fichtner? Birker?«

»Tanner.« Anika rollte die Augen.

»Wusste, es war ein Baum.« Sandra verzog das Gesicht. »Und die Sache mit deinem Bruder?«

»Sandra, ich war verzweifelt.« Sie versuchte, ihren Rücken zu straffen, was ihr angesichts ihrer Fesselung aber nicht wirklich gelang. »Ich war fertig, am Ende. Ich hätte alles getan, um deine Aufmerksamkeit zu erregen ...«

»Das hast du ja auch bravourös hingekriegt. – Keine Frage.«

»... um dich – deine Liebe – zurückzugewinnen.«

Sandra schloss ihre Beine, legte die Stirn in Falten und verschränkte die Arme vor der Brust. »Vielleicht ist das mit deiner Erziehung gar keine so dumme Idee.«

Anika strahlte. »Wirklich?«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Die Frauen sahen sich überrascht an.

»Ach, du bist’s«, sagte sie, als sie Joe einließ.

»Wen hast du erwartet?«

Sandra zuckte mit den Schultern. »Nach oben ist die Skala immer offen. Nur die Sterne sind das Limit.«

Joe folgte Sandra ins Vorhaus. »Könntest du mir einen Gefallen tun, meine ...« Erschrocken starrte sie durch die offenstehende Küchentür auf endlos lange Beine, die unter dem Küchentisch hervorlugten. »... Große?«

»Worum geht’s?«

Joe deutete mit ihrem Kopf in Richtung der Frau auf dem Küchenboden.

»Nicht so wichtig. - Was gibt’s?«

»Michael hat mir geholfen, ein paar meiner Kartons zu übersiedeln. Hättest du wohl Zeit, mir beim Ausräumen und schlichten zu helfen?« Erneut wanderte Joes Blick zu der Frau in der Küche.

»Kann warten. Erziehung braucht nun mal seine Zeit.«

»Wer ist ...« Joe schlich zum Küchentisch. »Anika!«, rief sie aus und ihre Stimme überschlug sich. Ein süffisantes Grinsen legte sich über ihr Gesicht. »Und da soll noch mal einer sagen, dass es keine Gerechtigkeit gibt. - Hätte nicht gedacht, dich jemals wieder zu sehen. Schon gar nicht so schnell. Und dann noch hier!« Breitbeinig baute sie sich vor Anika auf, die die Augen niederschlug. »Hast du nicht noch etwas gut bei mir?«

Anika hätte am liebsten ihren Kopf zwischen den Schultern verschwinden lassen. Als spielte Zeit keine Rolle, ließ Joe sich auf Anikas Schenkeln nieder und presste ihre Beine zusammen.

»Joe ... bitte ... das war ein ... Missverständnis ... damals ... bei dir ... in der Ordi.«

Joe kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Soso. Missverständnis. - Ein brutales Bondagemissverständnis, bei dem ich draufgehen hätte können, wäre ich nicht rechtzeitig gefunden worden.«

»Ich hab dir damals nachspioniert, Joe. Ich hab die falschen Mails unter deinem Namen verschickt, ich wusste, dass der Polier einen Stand auf dich hat. Ich ...«, sie legte die ganze Betonung auf dieses eine Wort, »... hab, gleich nachdem ich dich in der Ordination zurückgelassen hab, noch bevor ich raus zur Mühle gefahren bin, den Baumeister angerufen – seine Tafel mit Namen und Adresse stand ja für jedermann sichtbar auf der Baustelle –, hab ihm gesagt, der soll seinem Polier sagen, wo du bist, wo er dich ...«

Joe hielt die Luft an. Ihr Gesicht brannte rot vor Wut. Sie reckte ihre Arme über den Kopf, als wollte sie eine Dehnungsübung machen, dann holte sie aus und donnerte Anika eine schallende Ohrfeige ins Gesicht.

Diese gab keinen Laut von sich.

»Bin fertig«, tönte Sandras Stimme vom Vorraum. »Können wir?« Sie warf einen Blick in die Küche. »Was wird das?« Und als sich nichts rührte. »Joe?«

»Nichts Ernstes. Nur eine kleine, sich hartnäckig einer zivilisierten Lösung widersetzende Angelegenheit zwischen Frauen.«

Sandra nickte. »Komm jetzt!« Dann ging sie aus dem Haus.

Flink nahm Joe das Seidentuch, welches sie als Gürtel zu ihrem Kleid trug, schlang es mehrfach um Anikas Hals und das Tischbein, und machte einen doppelten Knoten in die Enden. »An deiner Stelle, und das ist wirklich ein gutgemeinter ärztlicher Rat, würde ich jetzt ganz ruhig sitzenbleiben, denn sonst könnte es für dich sehr schmerzhaft werden.« Sie wollte schon aus der Küche laufen, machte an der Obstschüssel noch einmal kehrt und schnappte sich einen Apfel. Als sie damit auf Anika zuging, versuchte diese, den Kopf hektisch zur Seite zu drehen. Joe funkelte sie diabolisch an, was ausreichte, damit sie ihren Mund freiwillig weit aufspreizte. Mit geschickten Fingern steckte Joe ihr den Apfel in den Mund, bis sich Anikas Zähne darin verbissen. »Braves Mädchen«, tätschelte Joe ihren Schädel und lief aus dem Haus.

»Warum hast du sie eigentlich an den Tisch gefesselt«, wollte Joe, der der Schalk aus den Augen blitzte, wissen.

»War ich nicht.«

»Klar.«

Sandra sah sie schief von der Seite herab an. »Sie war es selbst.«

Joe blieb stehen, stemmte die Arme in die Hüften. »Warum kannst du nicht einmal ernst sein, wenn ich mit dir rede?«

»War noch nie in meinem Leben ernster«, gab Sandra zurück.

Eingehend betrachtete Joe Sandras Physiognomie.

»Sie möchte, dass ich sie zu meiner Sklavin erziehe und, um all meine Zweifel schon im Vorfeld zu zerstreuen, hat sie mir gleich ihre uneingeschränkte Mithilfe signalisiert.«

»Aha. – Was es nicht alles gibt.«

Schweigend gingen sie nebeneinander die Dorfstraße entlang, wie ein seit zwanzig Jahren verheiratetes Ehepaar, das keine Possen, keine Pointen oder Bonmots mehr zu erzählen wusste, mit denen es den Partner noch überraschen oder schockieren konnte.

Joe schloss die Tür zur Mühle auf, die sich jedoch nur zur Hälfte öffnen ließ. Unzählige Umzugskartons stapelten sich gleich dahinter im Vorhaus.

 

Sandra sah sich um. »Wer zieht außer dir noch ein?«

»Bitte?«

»Oder willst du behaupten, dass das ganze Zeugs allein dir gehört.«

»Allerdings.«

»Hattest du das alles in deiner Wiener Wohnung?«

»Das ist noch nicht einmal alles. Ein paar Dinge sind noch dort.«

»Uah ... ist der schwer«, stöhnte Sandra, als sie eine dieser würfelförmigen Schachteln anheben wollte. »Was ist denn da drin? Gewichte für’s Kiesertraining?«

»Die mit den Büchern kommen in die Wohnküche ...«

»Die ehemalige Stube.«

»Die mit den Schuhen bleiben hier. Die Klamotten kommen rauf ins Schlaf- oder ins Ankleidezimmer.«

»Vornehm, vornehm«, ätzte Sandra mit einem breiten Schmunzeln.

»Muss ja dem Kaefer auch genug hinblättern für die Renovierung.«

»Ja. Nicht zu vergessen die Tischlerei, die dir diese nette Planerin vorbeigeschickt hat, um die Räume exakt auszumessen.«

Joe grinste. »Eifersüchtig?«

»Jetzt enttäuschst du mich aber, mein Schatz. Eifersucht ist was für Anfänger. Über das Stadium bin ich doch schon hinaus.«

Aber noch nicht lange, dachte Joe, ohne es laut auszusprechen. »Wie recht du hast, meine Große«, sagte sie und strich Sandra sanft über den Rücken. Sie streifte die Schuhe ab und schleppte den ersten Karton die Holztreppe hinauf.

»Eigentlich hätt ich lieber die Klamotten ausgepackt.« Einen Flunsch ziehend, schnappte sie sich eine von den Bücherkisten und trug sie, geschickt auf ihren grazilen Absätzen balancierend, in die Wohnküche. Vor dem noch unbefüllten Regal stellte sie die Schachtel ab und begann lustlos dieser Bücher zu entnehmen und einzuschlichten. Schopenhauer, Nietzsche, Suter – war das auch ein Philosoph? – Pschyrembel und plötzlich, gänzlich unerwartet, das ... »Hey«, schrie Sandra laut, dass es im ganzen Haus widerhallte. »Find ich ja toll, dass du auch g’scheiten Lesestoff hast. – Haha!«

»Shibari. Japanese Rope Bondage and Erotic Macramé« hielt sie in ihren Händen. Gleich darunter stieß sie auf »Jay Wiseman’s Erotic Bondage Handbook«.

»Ich wusste, du hast guten Geschmack, Joe«, rief sie aufgekratzt.

»Was is’?«, hollerte es von oben.

Sandra nahm die beiden Bücher und trippelte die Stufen hinauf. »Da, die zwei Bücher«, sagte sie keuchend und hielt sie Joe unter die Nase.

»Ah ...«, sagte Joe theatralisch, als wäre ihr gerade das eigene Ich aus einem Paralleluniversum begegnet. Plötzlich fiel es ihr wieder ein. Der herrliche Sommertag, an dem sie nach der Ordi noch zum Morawa fuhr, um die beiden Bücher, die sie bestellt hatte, abzuholen. Blut hatte sie dabei geschwitzt, weil es ihr so unendlich peinlich war, Bücher zu einem Thema, das ihr so gar nicht gesellschaftsfähig schien, persönlich abzuholen. Eine Verklärtheit stieg mit einem Mal in ihre Augen. »Die ...«, sie holte tief Luft. »Die hab ich damals wegen dir gekauft, meine Große.«

Unverständnis zeigte sich in Sandras ebenmäßigem Gesicht.

»Wirklich«, insistierte Joe. »Ich hab sie bestellt, um mich fortzubilden, damit ich mir nicht ganz blöd neben dir vorkomm, damit ich weiß, wovon du redest, und damit ich in der Lage bin, dir das zu geben, was du so liebst, was dir so wichtig ist ...«

Wie erstarrt stand Sandra vor ihr, rührte sich nicht. Einzig ihre Augen veränderten sich, wurden glasig, wässrig. Sie lachte und Tränen der Freude kullerten ihr über die Wangen. »Du bist so süß, Joe. So, so, so süß« und dann drückte sie drei, vier, fünf feuchte Küsse auf Joes Mund, bevor ihre Zungen miteinander verschmolzen. Joe hielt sie fest umklammert und ihre warmen Brüste berührten sich.

»Recht gebraucht, ich meine, so als hättest du jeden Tag drin gelesen, sehen sie aber nicht aus«, stellte sie mit holmesschen Fähigkeiten fest, nachdem sie die Tränen mit dem Handrücken fortgewischt hatte.

»Ich ... bin dann irgendwie nicht mehr dazugekommen. Dann war der Bondagekurs.«

Sandra nickte, als hätte es den Bondage-Workshop und dessen Kursleiterin Harriet nie gegeben. »Was ist denn jetzt eigentlich mit deiner Mutter?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Na, auf was habt ihr euch denn jetzt geeinigt?«

Joe biss sich auf die Unterlippe. »Nachdem sie mit ihrem Tiroler, oder er mit ihr, kann ich nicht genau sagen, Schluss gemacht hat, ist sie vorläufig – wie sie selbst sagt – in meine Wohnung im 3. Bezirk eingezogen.«

»Und die gute Nachricht?«

Joe rollte mit den Augen. »Das war schon die gute.«

»Oh«, Sandras sonniges Gemüt verfinsterte sich. »Tut mir leid, das zu hören. Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.«

»Ist es. Das Schicksal scheint mir auch nach dem Kidnapping nicht gerade hold zu sein. Da ich ja nun ohnehin in die Mühle ziehe, denkt sie sicher für immer in der Wohnung bleiben zu können, bzw. so lange, bis sie wieder einen Dummen gefunden hat, der es eine Zeit lang mit ihr aushält.«

»Arme Joe«, sagte Sandra, und eine geballte Ladung an Mitgefühl klang aus diesen beiden Worten. Zärtlich strich sie über Joes braunes Haar, das in sanften Wellen bis zu den Schlüsselbeinen fiel. »Musst es positiv sehen. Du wohnst dann hier und sie sitzt in Wien und ...«

»Und?«

»... wenn du dann noch deine Handynummer änderst.«

Ein Lächeln zeigte sich auf Joes Gesicht. »Gut gedacht, meine Große!«, und dabei klopfte sie anerkennend auf Sandras Hintern. »Es ist meiner Meinung nach nur eine Frage der Zeit, bis ich das tue. Aber vermutlich kommt der Zeitpunkt eher früher als später.« In diesem Augenblick läutete ihr Smartphone. Die Frauen sahen sich, als hätte man sie gerade bei etwas sehr Intimem gestört, überrascht an. »Vielleicht schon morgen«, sagte sie genervt und war gleich darauf erleichtert, als sie Michaels Nummer erkannte.

»Michael, kann ich dich später zurückrufen? Bei mir ist es grad ... ungünstig«, flötete Joe ins Telefon.

»Klar. Wann immer du willst«, drang seine Stimme angenehm an ihr Ohr.

Ein wohliges Kribbeln regte sich in ihrem Körper, als versuchte er ihr etwas damit zu sagen. Doch sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte und achtete nicht weiter drauf.

»Warst du eigentlich wieder mal bei Harriet?«

Falsches Thema, schrillten sämtliche Alarmglocken in Joes Kopf.

»Wir haben telefoniert«, sagte sie, was auch der Wahrheit entsprach, »vor ungefähr zwei Wochen«, was wiederum nicht einmal annähernd der Wahrheit entsprach.

Joe, hör mal, ich will mich wirklich nicht in dein Leben, schon gar nicht in dein Sexleben und Gott behüte womöglich gar in dein SM-Leben einmischen, aber hältst du es für klug, jetzt, wo sich dein Verhältnis zu Sandra wieder einigermaßen entspannt hat, ihr gleich wiederum Lügen aufzutischen?

Ich dachte, du wärst meine innere Stimme, mein anderes Ich?

So ist es.

Bist du nun auch noch mein Gewissen, das mir auf Schritt und Tritt im Genick sitzt und mir erzählt, wie ich wertvoll und ethisch zu handeln habe?

Joe, ich ...

Schluss jetzt. Ich will nichts mehr hören.

Manche Dinge sind seltsam. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich sie einfach nicht verstehe. Seit mich Anika in der Ordination überfallen und Sandra sich verschnürt und beinah bewusstlos in meinem Kellergewölbe wiedergefunden hatte, scheint sich einiges verändert zu haben. Zwischen mir und Sandra ist es fast wieder wie früher. Sie ist nett und zuvorkommend, hilft mir, wo sie kann. Egal was sie sagt oder tut, ich fühle so viel Empathie auf ihrer Seite. Sie stellt keine Fragen mehr, hinter denen sich das grünäugige Monster der Eifersucht versteckt, sie lästert nicht, wenn mich Michael anruft, macht sich nicht lustig, wenn ich mit Sabine telefoniere und ...

Jetzt kommt’s mir grad. Ihre vor Sarkasmus triefenden Bemerkungen mir gegenüber scheint sie auch auf ein für sie absolut notwendiges Mindestmaß zurückgeschraubt zu haben. Fehlen mir diese etwa? Sollt ich es bedenklich finden? Hat sie womöglich kein Interesse mehr an mir?

Seit damals hat sie sich wieder öfters mit ihrer Anika getroffen. Sie scheinen ein Herz und eine Seele zu sein, was mir auch irgendwie merkwürdig vorkommt. Stark hat sie sich gemacht für sie, dass ich sie nicht anzeige wegen Freiheitsberaubung, Kidnapping oder was weiß ich, wie der passende Paragraf lautet. Mit Anikas Bruder war sie da nicht ganz so zimperlich. Von dem verlangt sie außergerichtlich eine gewisse Summe als Schmerzensgeld, sie sagte mal was von zweitausend Euro, sonst würde sie die Sache dem Gericht übergeben. Aber – ich kann mich natürlich täuschen – ich denke, dass sie das nicht tun wird, denn dann würde Anika als Mittäterin oder Anstifterin oder zumindest als Mitwisserin automatisch mit hineingezogen in die Sache, und das will Sandra um alles in der Welt vermeiden.

Vor nicht einmal einer halben Stunde, nachdem ich ihn schon wochenlang ständig absagt, neu vereinbart, abgesagt, wieder neu vereinbart, noch mal abgesagt hab, hab ich ihn nun endgültig fixiert, den Termin für mein Treffen mit Harriet. Ich denke, nun bin ich soweit. Gleich nach dem Zwischenfall in der Ordi hatte ich eigentlich keinen Bock, mich mit ihr zu treffen. Allein schon bei dem Gedanken an Seile, Handschellen, Knebel und Fesselspiele drehte sich mir der Magen um. Ich traf mich mehrmals mit Michael, der mir das gab, was ich brauchte: Wärme, Zuneigung und ab und an einen ordentlichen Fick an der Garderobenwand, im Abstellraum, einmal sogar im Keller. Seit einer Woche erst denke ich wieder vermehrt an Sabine, das heißt an Harriet. Von Sabine weiß ich eigentlich so gut wie nichts, von Harriet nur geringfügig mehr. Müsste ich Harriet eigentlich als Kunstfigur sehen, als eine Person, die nicht wirklich real ist, eine Person, die zwar in Sabines Körper steckt, aber gänzlich andere Eigenschaften besitzt? Doch das mit den Eigenschaften kann ich, zumindest jetzt, wo ich dies niederschreibe, nur vermuten. Ich kenne Sabines Wesen nicht, weder ihre guten noch ihre schlechten Seiten, weder die, die man gerne ins Rampenlicht rückt, noch jene, die man gleich einer vermaledeiten Kreatur im finstersten Keller anketten und vor der Welt für immer verbergen möchte. Was, wenn Harriet diese Kreatur ist, die dunkle, unwillkommene Seite einer ansonsten so bezaubernden Frau, einer Frau, deren Umriss von einer Malerin gezeichnet wurde, einer Malerin, die an diesem Tag ihre bezauberndste Frauengestalt schuf, eine Frau von solcher Anmut und Sinnlichkeit, von einer so ungeheuren Verführungskraft, dass sie selbst Frauen zu fesseln und ihnen den Kopf zu verdrehen im Stande ist. Die ...

Joe legte den sündhaft teuren Montblanc Füller auf die aufgeschlagene Doppelseite ihres Tagebuchs, die Beine auf den Tisch und spielte mit zärtlichen Fingern in jener sündhaft empfindsamen Region ihres Körpers, bis ihrem Mund ein lusttriefendes Stöhnen und ihrer Vagina die Feuchte der Erregung entwich.

Mit einem Mal war sie wieder da, diese Flamme, die in ihr loderte und sich nach dieser Frau und deren wunderschönem, geschmeidigem Körper verzehrte.

Irgendwie gelang es ihr an diesem Tag nicht, sich auf ihre Patienten und deren zahllose Wehwehchen zu konzentrieren. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu den weichen, runden, femininen Formen Harriets, zu ihrem makellosen Körper, ihren gefühlvollen Händen, ihrer einnehmenden Stimme. Rascher als üblich scheuchte sie erst ihre Patienten, gleich darauf ihre Sprechstundenhilfe aus der Ordination.

Flink wie eine Teenagerin, die fürchtete, die frisch eingelangten Schnäppchen bei H&M könnten ausverkauft sein, bevor sie überhaupt die Filiale betrat, ging sie, so rasch ihre Absätze sie trugen, drei Blocks stadtauswärts. Mit einem gewissen Stolz stellte sie fest, dass sie die Adresse in dieser Wohnsiedlung, die aussah wie die UNO-City für den gehobenen Mittelstand, auf Anhieb gefunden hatte.

»Letzter Stock«, sagte die Gegensprechanlage mit einer gutgelaunten Frauenstimme und Joe fühlte dieses angenehme Kribbeln, das von ihren Haar- bis in die Zehenspitzen lief.

»Danke.«

Harriet, die im bürgerlichen Leben eigentlich Sabine hieß, empfing sie in der halboffenen Wohnungstür. »Schön, dass du doch noch gekommen bist, Joe«, meinte sie mit lustigen Augen. »Ich fürchtete schon, du hättest es dir anders überlegt.«

»Ich ... Hallo Sabine«

»Komm rein! Tee oder Kaffee?«

»Hast du vielleicht auch ein Bier da? Nach der Ordi tut mir ein Schlückchen ganz gut.«

»Selbstverständlich«, lachte Sabine, »kannst du auch Bier haben. Zipfer oder Gösser?«

»Egal. Hauptsache nicht alkoholfrei.«

 

»Komm weiter«, sagte sie und wies Joe eine Tür am Ende des Flurs, die in einen großzügigen Wohnraum führte, von dem aus man in die Küche sehen konnte. »Bitte, setz dich.«

Joe betrachtete die Sitzgruppe aus dunklem Leder, die Couchtische aus Mahagoni, die Philodendren, die, wie zufällig im Raum verstreut, diesem etwas von der eleganten Strenge nahmen.

Harriet klapperte mit ihren Stiefeln, die, in der Wohnung auszuziehen, sie sich nicht die Mühe machte, in die Küche. »Joe, so wie es aussieht, hab ich dir zuviel versprochen. Ich hab nur mehr a Sechzehner Blech.«

Joe hatte augenblicklich das Gefühl, von der Kaste der Studierten in die unterste Schublade gekullert zu sein. »Bitte? Was war das?«

»’tschuldige, wollte sagen, ich hab nur noch Ottakringer.«

»Ist okay«, entgegnete Joe und fragte sich ernsthaft, ob Bier nicht gleich Bier war. Oder war es womöglich ähnlich kompliziert wie beim Wein? Gab’s auch Jahrgänge beim Bier und sie, die einfältige Naive hatte es bis heute noch nicht mitgekriegt? »Ein Zwanzigzehner, wenn du hast.« Gleich darauf fiel ihr ein, dass Michael, der Bierexperte, noch nie etwas von Jahrgängen erwähnt hatte.

Sabine lachte. »Kenn mich schon aus.« Dann brachte sie Joe die Flasche, zusammen mit einem anmutig geschwungenen Tulpenglas, in das sie etwas einschenkte, bevor sie beides vor Joe auf den Tisch stellte.

Mit offenem Mund bestaunte Joe Sabines Fertigkeiten.

Diese schmunzelte. »Hab in meinem früheren Leben gekellnert.« Dabei zwinkerte sie Joe kokett zu und verschwand in die Küche, um sich ein Glas Rotwein zu holen.

Eine wallende Hitze spürte Joe plötzlich in sich aufsteigen. Sie schlug ein Bein über das andere, als könne sie diese damit unter Kontrolle halten. Vermutlich in einer Stripbar, ging es ihr durch den Kopf und sie versuchte, diesen Gedanken sofort wieder zu verdrängen.

»Es war in einem – wie heißt es so euphemistisch? – einschlägigen Etablissement, in dem die Damen nur leicht bekleidet herumlaufen, um die männliche Klientel zu erfreuen. Leicht bekleidet hieß in unserem Fall ein dünnes Schnürchen um die Hüften und ein noch dünneres durch den Schritt, beide in einem kräftigen Rot et voilà, fertig war die Dienstuniform. Passte erstklassig zur Corporate Identity.« Sie lachte. »Die Mädchen konnte man nur aufgrund der Größe ihrer Titten und ihrer Haarfarbe unterscheiden.«

Joe sah verunsichert aus. Sie wusste nicht, ob sie das alles hören wollte, was ihr Sabine da erzählte. Wenn es keine Vergangenheit gäbe, könnte man viel ungezwungener im Hier und Jetzt leben, sinnierte Joe. Oder dient die Vergangenheit allein dazu, um zu erklären, wie und warum man zu der Person wurde, die man heute war, dient sie dazu, um all die Macken, Fehler und Unzulänglichkeiten des eigenen Ichs erklären und entschuldigen zu können, sie auf das Verhalten anderer zu schieben, um sich selbst reinzuwaschen und in ein strahlenderes Licht zu stellen?

»... ich auch meinen Mann«, war Sabine schon ein Kapitel weiter. »Wir hatten«, dabei strahlte ein schelmisches Grinsen aus ihrem Gesicht, »nur einen einzigen Punkt, bei dem wir uns wirklich – und ich meine wirklich – einig waren ...«

Joe, einen großen Schluck von ihrem Bier nehmend, fragte sich, warum sie sich aufrechter und gerader hielt als sonst.

»... und das war Sex.«

Da war es wieder, Joes leidiges Thema. Ja, Mann und Frau haben Sex, viel Sex, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr; wenn beide berufstätig sind, es in der Firma einen heimeligen Kopierraum oder eine verwaiste Besenkammer gibt, noch öfter. Joe!, Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid.

»... beide die etwas härtere Gangart. Er war der geborene Unterwürfige. Und ich ... mein Part schien mir schon in die Wiege gelegt worden zu sein. Auch wenn es gar nicht in der Absicht meiner Eltern gelegen hatte.« Sie nippte von ihrem Wein. »Irgendwann ging es dann aber nicht mehr. Der Alltag wurde zunehmend anstrengender und mühsamer. Wir ließen uns scheiden, gingen ohne Zorn, ohne Hass auseinander. Es war die richtige Entscheidung gewesen. Ich war frei, konnte tun und lassen, was mir gefiel, und da wurde mir klar, ich wollte mich nie wieder auf einen Partner fixieren.«

Joe nickte andächtig, als hätte sie schon drei geschiedene Ehen hinter sich und wüsste genau, wovon Sabine sprach.

»War dann natürlich die große Frage für mich, was tun, um meinen Lebensinhalt zu finanzieren. Ich konnte nichts außer Tabletts schleppen, aufreizend lächeln und die Drinks so abstellen, dass den Gästen meine Titten ins Gesicht sprangen.« Da war wieder dieses verschmitzte Grinsen. »Dann kam mir irgendwann die Idee, Geld zu verdienen mit dem, was mir Spaß macht und was ich wirklich konnte.«

Wie Sabine sich eine so großzügige Wohnung mit Dachterrasse leisten konnte, mit höchstens zwei Tagen Workshop in der Woche, faszinierte Joe über alle Maßen.

» ... gründete meinen eigenen Escortservice mit nur einer Angestellten – mir.«

Überrascht sah Joe durch ihre tiefschwarzen Wimpern, musterte Sabines Gesichtsausdruck.

»War ’ne tolle Sache. Erst in schicke Restaurants, ins Theater, in die Oper – Robert Meyer als Alfred P. Doolittle in ›My Fair Lady‹, ein Genuss, sag ich dir. Dann ins Ana Grand – hieß es damals noch –, ins Sacher oder ins Imperial, mit den schweren Teppichen und den edlen Hölzern. Die Betten sind halt ein Krampf, denn auf Gäste, die mit Handschellen kommen und diese irgendwo festmachen wollen, sind die nicht eingerichtet. Nix ist’s da mit Messingbetthaupt und massivem Fußteil. Musst ich gleich eine negative Rezension schreiben.« Sie giggelte wie eine Pubertierende.

»Meine Begleittätigkeit biete ich selbstverständlich auch für Frauen an, doch bis dato hat sich noch keine dafür interessiert. Später kam ich auf die Idee mit den Workshops. BDSM hatte weitgehend seine Schrecken, vor allem aber seinen anrüchigen Ruf verloren.« Sie lachte. »Jeder wollte auf einmal mit Seilen und Handschellen spielen, doch niemand wusste so recht, wie man diese gefahrlos, für die eigene, wie die Gesundheit des anderen, handhabt. Kratzer und Abschürfungen sind ja noch das harmlose Ende des Spektrums, aber das brauch ich dir als Ärztin ja nicht zu erzählen.«

Sofort, als sie das Wort Ärztin vernahm, versteifte sich Joes Oberkörper und sie zog ihre Schultern zurück, als wäre sie eben aufgefordert worden, vor den Vereinten Nationen in New York zu sprechen.

»Wie du vielleicht schon bemerkt hast«, und dabei strich Sabine mit den manikürten Fingern verführerisch über ihre Schenkel, die in seidig glänzenden Strümpfen, und ihre Hüften, die in einem knappen Lederrock steckten, »bin ich Fetischistin.«

Für einen kurzen Moment weiteten sich Joes Augen auf das Doppelte ihrer normalen Größe und sie spürte eine unbändige Hitze in ihre Wangen kriechen. Sie nahm einen kräftigen Zug vom Bier.

»Ich liebe diese hauchdünnen, weichen Stoffe, die sich wie unsichtbar an meine Haut schmiegen, sie überziehen, sie einhüllen wie ein zartes Gefängnis. Ich mag hohe Schuhe und ich mag Leder. Latex wär auch schwer okay, wenn nicht dieser Wahnsinnsaufwand mit dem Anziehen wär.«

Joe trank ihr Glas leer.

»Willst du was sehen«, fragte Sabine neckisch.

Joe, die dachte, das Bier hätte sich in ihrem Hals gerade zu einem dicken Kloß verklumpt, nickte nicht gerade enthusiastisch.

»Komm mit!« Sabine stöckelte aus dem Wohnraum, den Gang entlang, um dann in einer Tür auf der linken Seite zu verschwinden. »Schlafzimmer.«

»Von der Größe sieht es eher wie eine Junior-Suite aus«, stellte Joe lakonisch fest.

Ohne darauf zu reagieren trippelte Sabine über den hochflorigen Teppich zum Kleiderschrank.

Dort, wo Joe in der Suite eine Sitzgruppe und den Fernseher platziert hätte, befand sich in Sabines Schlafraum eine u-förmig angelegte Landschaft aus Kästen, offenen Regalen und Schubladen, alles in massiver Rotbuche, geölt. »Nett«, japste sie, um irgendwas zu sagen.

Sabine ließ eine Schiebetür lautlos zur Seite gleiten und offenbarte Joe eineinhalb Meter Leder, Lack und Latex. »Hier.« Zielsicher langte Sabine – bei den Kleidungsstücken war es schon eher angebracht von Harriet zu sprechen – in den Schrank und entnahm ihm ein ärmelloses, schmal geschnittenes Lederkleid. »Sieht doch sexy aus! Ist eins meiner Lieblingsstücke.« Gekonnt wie eine Verkäuferin bei Dior hängte sie es wieder zurück. »Oder hier.« Sie zauberte ein viktorianisch aussehendes Korsett aus Brokat hervor. »Sehr elegant. Lässt sich selbst in der Staatsoper tragen, ohne dass man schiefe Blicke erntet oder angepöbelt wird von den besseren Herrschaften.«

Interessiert genoss Joe diese Führung durch die Erotik weiblicher Klamotten. »Sehr hübsch«, sagte sie, denn sie fand es tatsächlich sehr hübsch.

Gleich darauf verschwand das edle Stück ebenso schnell dorthin zurück, woher es gekommen war.

»Aber dies hier ...«, Harriet legte eine Pause ein, um sich die volle Aufmerksamkeit ihrer Besucherin zu sichern, »... dies ist mein Prachtstück.« Sie schwenkte, was aussah wie ein Overall, kokett vor Joes Augen. »Catsuit aus feinstem Nappaleder. Maßanfertigung, damit er wirklich sitzt.«