Sommerleithe

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Sommerleithe
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Klaus Weise

Sommerleithe

Roman


Inhalt

1. Poor boy, you’re bound to die

2. … das kommt vom Rudi-Ralala

3. Pari Banu

4. «Im Westen ist es kalt»

5. Frau Pavel

6. Renates Anfall

7. Die Tage (Those were the days, my friend)

8. Sud und Sühne

9. Der Vatersprachlose. Was ist, wenn nichts ist?

10. «Das Leben nennt der Derwisch eine Reise»

11. Schnappdeckel der Erinnerung

12. Blut und Blumen

13. … finden in der ganzen Welt ihre Käufer!

14. Zweites Königreich

15. Morning has broken

16. Angst im Himmel, ein kurzes Kapitel über das Töten und artfremde Axt

17. Wrigley’s

18. Die Scham, der Stolz und die rohe Leber

19. Each man kills the thing he loves oder: befriedigend –

20. Magic carpet ride und roter Wolf

21. Speaking in tongues

22. Das Glück

23. Lullumann in Russland

24. Chthonisch

25. Wohin (nicht) schauen

26. Wurstdecke und Nasengestrüpp

27. «Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch

28. «Und über buntre Felder noch, als hier …»

29. «… nur schade, dass das Auge modert, das diese Herrlichkeit erblicken soll»

30. «Die Liebe ist ein seltsames Spiel»

31. Fliegende Hunde, ja. Fliegende Teppiche, auch. Aber …

32. Bürgerliches Heldenleben

33. Glitzsch

34. Zweimal Sonne

35. Diamat

36. «Mädel, mach’s Ladel zu, ’s kommt e Zigeunerbu»

37. Kickerlingsberg

38. Juri Alexejewitsch Gagarin

39. Out of the blue, into the black

40. Gilt nur bedingt. Weil ein Ich (welches?) wie ein Kind bedenkt, wie es dächte, wenn es denken könnte, so aber nicht denken kann

41. Endlich – lange drauf gewartet

42. Teilweise Wiederholung. Kann überlesen werden

43. Bitte nicht überblättern. Neu!

44. Zuvor 24.

45. Erinnerungssuppe 2

46. Domsingschule

47. Gott und der Garten

48. Zu neuen Ufern

49. Nicht hart – und auch nicht Schluss

50. Zu noch neueren Ufern

51. Die Erinnerung

52. Vielleicht war alles auch völlig anders

53. «Schulen der Sprachlosigkeit»

54. Abschied

Fine ohne Ende

Über den Autor

Über dieses Buch

Impressum

Sommerleithe

Wortbegehung einer Kindheit diesseits und

jenseits der Zonengrenze

Eine Geschichte als wahr zu bezeichnen,

ist eine Beleidigung für Kunst und Wahrheit zugleich.

Vladimir Nabokov: Vorlesungen über westeuropäische Literatur

Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die Natur aus ist.

Wenn die Welt so finster wird,

daß man mit den Händen an ihr herumtappen muß,

daß man meint, sie verrinnt wie Spinneweb.

Das ist so, wenn etwas ist und doch nicht ist,

wenn alles dunkel ist und nur noch ein roter Schein im Westen,

wie von einer Esse. Wenn …

Die Schwämme … da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehen,

in was für Figuren die Schwämme aus dem Boden wachsen?

Wer das lesen könnt.

Georg Büchner: Woyzeck

1.
Poor boy, you’re bound to die

Es begann mit einem Spaß. In einem weit zurückliegenden Damals.

Das Licht wurde ausgeknipst, zwei kräftige Männerhände packten mich, hoben mich nach oben unter die Decke, als wäre ich leicht wie eine Feder, und ich, reflexartig den Schwung ausnutzend, streckte meine Arme aus, umfasste einen schwarzen Räucherspieß, hielt mich fest – und hing im Himmel. In einem Himmel aus Schinken, Wurst und Speck.

Da hing ich nun. Wo niemand jemals vor mir hing. Ganz oben. Ich. Herrscher über ein riesiges Reich. Über den roten Wolf, über Kutter, Kühlhaus, Messer, Hackklotz, Wurstkessel und Räucherkammer, über alles und alle, die mir dienten, damit aus Schweinehälften und Rindervierteln, aus Kälbern, Färsen, Zicklein und Spanferkeln entstehe, was alle wollen und brauchen: etwas zu essen. Nein. Nicht etwas. Sondern Fleisch und Wurst. Und nicht irgendwelches Fleisch und irgendwelche Wurst, sondern das beste Fleisch und die beste Wurst weit und breit. In Lusan, in Gera und darüber hinaus. Ich war der König, der kleine König der elterlichen Metzgerei.

Innerhalb weniger Sekunden wurde ich aus der Welt, in der man mit den Füßen auf festem Boden steht, erhoben in eine andere Welt, eine Welt, in der der Körper schwebt, die Beine und die Füße baumeln und der Kopf auf faszinierende Art verwirrt und berauscht ist.

Und wenn der Boden unter mir auch nicht verschwunden ist, sondern nur sehr, sehr weit weg, erscheint es mir, als hinge ich, wenn nicht im Himmel, so doch zumindest im halben Himmel, im Metzgerhimmel als der Vorstufe zum Himmel.

Wer durfte, wer konnte das in meinem Alter schon erleben! Ich halte mich fest an einem Stock, schwarz wie Ebenholz. Doch nicht ängstlich, wie sich Erwachsene an der Haltestange unter dem Dach der Straßenbahn festhalten würden, wenn plötzlich unter ihren Füßen der lange Gang mit den vollbesetzten Sitzen verschwände, sich mit Fahrer und Schaffner in bedrohliche Tiefe entfernte, in die hinabzustürzen den sicheren Tod bedeutete.

Nein, ich hatte keine Angst, sondern war kraftvoll und stolz. Denn neben mir hingen keine verängstigten Fahrgäste einer Straßenbahn, sondern ihres Wertes und ihrer Würde sich bewusste und sich erhaben fühlende Würste, Schinken und Speckseiten. Sollten sie sich über meine unerwartete Anwesenheit, über das Eindringen eines Fremdlings in ihr Revier gewundert, geärgert oder gefreut haben, so ließen sie sich das, souverän wie sie waren, nicht ansehen und anmerken. Ich glaube, sie waren verwundert, denn noch nie hatte sich ein menschliches Wesen in ihr Reich gewagt. Außer eben ich. Jetzt. Um sie mit meiner Anwesenheit zu grüßen und ihre Anerkennung zu bekommen für mein mutiges Vordringen in ihr Fleischerreich. Meine Freude war riesig. Und ich glaube gespürt zu haben, dass man sie hier oben nach der ersten Verwunderung über meine unerwartete Tat durchaus mit mir teilte.

 

Tief zu meinen Füßen saßen keine Menschen im Abgrund einer Straßenbahn, sondern dort lag, wie ich ohne hinunterzublicken wusste, in mattem Glanz ein dunkler, einsamer und gnadenlos harter Steinfußboden, der meinen ganzen Mannesmut herausforderte. Denn so schnell die Arme mich gegriffen und in den Himmel gehievt hatten, so schnell senkten sie sich hinab und verschwanden im dunklen Licht der Abendstunde – statt zur Sicherheit neben mir zu verharren, um mich, sollten meine Finger abrutschen und ich in die Tiefe stürzen, aufzufangen, zu retten und auf sicheren Grund zu stellen. Und mit den Armen verschwanden auch die Körper und die lachenden Gesichter der beiden Männer in der Dunkelheit, die schon aus den Ecken kroch, während es draußen noch taghell war. Ich hörte die Tür ins Schloss fallen, hörte, wie der Schlüssel gedreht und das Schloss verriegelt wurde.

Dann war Stille. Ich lauschte in sie hinein – und hörte nichts. Der Raum lag in trägem Dämmerlicht und schwieg. Doch die Faszination, die Freude und der Stolz, hier oben hängen zu dürfen, wurden von der langsam sich ausbreitenden Finsternis geschluckt. Angst beschlich mich – und die Frage: Wie lange würde ich hier oben hängen können, ohne abzustürzen? Soeben noch ein über sich selbst hinauswachsender Abenteurer, war ich nun ein Gefangener, abgehängt im Gestänge einer Welt, die nicht für mich bestimmt war und die ich gerade deswegen neugierig hatte erobern wollen.

Ich war allein. Verlassen. Eingesperrt. Wo war meine Mutter? Auf sie konnte ich mich immer verlassen. Es brauchte keinen Anlass. Hatte ich etwas ausgefressen: Sie war für mich da. Wollte ich sie einfach nur umarmen und ihr einen Kuss geben: Sie war für mich da. Wo war sie, jetzt, als ich sie brauchte?

Mein Vater und sein Geselle Oswald waren Späßen nicht abgeneigt. Sei es, dass mein Vater mich fragte, was er wohl in der verschlossenen Hand halte, und sie dann, wenn ich dreimal falsch geraten hatte, öffnete und ich ein Schweineauge anschaute, das mich anschaute, sei es, dass Oswald – mit Schweineohren am Kopf statt seiner eigenen – aus dem Dunst und Dampf der Wurstküche hervorkam und zur Begrüßung grunzte. Überraschungen dieser Art war ich zwar nicht gewohnt, aber sie waren mir auch nicht gänzlich unvertraut. Mich jedoch unter die Decke zu hängen, zu verschwinden, die Tür von außen abzuschließen, damit mich niemand finden und befreien konnte, und mich wie Wurst, Schinken und Speck austrocknen zu lassen, das war neu. Und lebensbedrohlich – wie die vielen anderen Gefahren, vor denen mein Vater mich immer wieder mit bildhaft-eindringlichen Beschreibungen gewarnt hatte, in die ich mich jedoch allzu gerne mit meiner Phantasie hineinbegab und die auszuschmücken mir ein schauriges Vergnügen bereitete.

Doch das hier war kein Spiel. Es war Wirklichkeit. Kein ängstlich-sehnsüchtiges Gespinst meiner Einbildungskraft, kein Traum, aus dem erwachend ich mich in der behaglichen Wärme meines Bettes im behüteten Elternhaus wiederfinden würde. Im Gegenteil: Mein spielerischer Übermut war verflogen, und was übrig blieb, war pure, zu Erstarrung geronnene Angst. Würde ich meinen Griff lockern in der Hoffnung, aus einem schrecklichen Traum ins weiche Federbett zu fallen und nach dem kurzen Schock des Erwachens beglückt über meine Rettung in die lange Nacht hinein zu schlummern, so würde ich vom Himmel hinabstürzen und mir beim Aufschlagen auf der Erde sämtliche Knochen brechen.

Was nun? Was tun? Ich musste mich festhalten, festhalten, solange ich konnte, das war klar. Aber wie lange würde ich mich festhalten können? Und wenn ich abstürzen würde und zerschellen auf dem steinharten Fußboden, wären fehlende Kraft und mangelnde Willensstärke meine eigene Schuld. Es gab kein Ungeheuer, gegen das ich zu kämpfen, kein Gespenst, das ich zu vertreiben und keinen Drachen, den ich mit dem Schwert oder einer Lanze zu durchbohren hatte, nein, ich war mein eigener Feind, und es lag allein an mir, wie lange ich mich am Räucherspieß würde festhalten können. Noch konnte ich. Noch hatten meine Hände die Kraft, mich im Himmel des Fleischerreiches baumeln zu lassen und sich dem dunklen Sog, der meinen Körper länger und länger werden ließ, zu widersetzen und mich vor dem Absturz zu bewahren. Noch.

Alles um mich herum war ruhig und friedlich, ganz so, als würden die Würste, Schinken und Speckseiten, der Raum und all seine Gegenstände sich zur Ruhe begeben, langsam in einen tiefen Schlaf sinken und den Ereignissen eines neuen Tages entgegenträumen. Doch diese Behaglichkeit konnte ich nicht teilen. War ich doch, wenngleich bleich vor Angst, weder eine weiß gekalkte Zervelatwurst noch, auch wenn mir das Blut in den Kopf geschossen war, ein roter Nussschinken. Ich war: beides. Da ich mich aber nicht selber sehen konnte, konnte ich nicht wissen, wie das aussah: gleichzeitig beides zu sein.

Schwester Salami und Bruder Schinken hatten es bequem, denn sie brauchten sich nicht festzuhalten. Sie wurden gehalten – von Bindfadenschlaufen, durch die schwarze Spieße gesteckt waren, welche mittels einer eisernen Gabel, befestigt an einem langen Holzstab, von starken Männerhänden in das Gestänge unter die Decke gehängt worden waren. Auch war ich keine von den vielen mit weißen Fettflocken gemusterten Mettwürsten, die sich mit braun glänzender Haut wie geknetete und abgeschnürte hungrige Riesenschlangen um Räucherspieße wickeln konnten, um sicheren Halt und Überlebenshoffnung zumindest für die kommende Nacht zu finden. Nein, ich war ein Junge, der zwar ziemlich stark war oder sich so vorkam, aber möglicherweise nicht stark genug, um eine ganze Nacht wie eine Fledermaus am Wurstspieß hängend schlafen zu können. Außerdem, fiel mir ein, jagen Fledermäuse nachts und schlafen am Tag. Nein, es gab kaum Hoffnung zu überleben.

Und die Hoffnung schwand umso mehr, je ruhiger es wurde im Raum. Die Geräusche des Tages waren längst verweht, und die Stille der Nacht hatte sich schleichend ausgebreitet wie die Dunkelheit im Schatten der Dämmerung. Alles war so friedlich, dass es mich nicht überrascht hätte, jetzt die sanfte und geliebte Stimme meiner Mutter zu hören, die mir ein Lied zur guten Nacht singt … wäre da nicht die pochende Panik in meinem Herzen.

Wie lange ich in diesem verführerischen, doch nun mein Leben bedrohenden Himmel hing, weiß ich nicht. Es kam mir unendlich lange vor. Meine Haut, ausgetrocknet zu einer luftgeräucherten Schwarte, zu gelb-bräunlichem Pergament – ein harter Naturdarm, in dem mein schwindendes Leben, mein vertrockneter Körper Saft und Seele aushauchten – war mit Kleidern und Schuhen verwachsen. Ich war eingetrocknet auf die Größe einer Salami. Mein Kopf, ein Schrumpfkopf mit dem Gesicht eines greisenhaften Kindes, wirkte wie aus dem Himmel auf die Schultern gefallen, dort verwachsen mit zwei ausgestreckten, verdorrten dünnen Ärmchen, die in nichts an die geschmeidigen Muskeln und die saftigen Sehnen der Jugend erinnerten, sondern nur an den vertrockneten Mörtel und Staub greisenhafter Alterserstarrung. Kopf, Arme und Rumpf waren zudem umhüllt von einem Geflecht übereinander gewobener Spinnennetze, welche diese menschliche Ruine davor schützen sollten zu zerbröseln, damit sie, sollte es jemals wieder regnen, zu neuem Leben erwachen könne.

Ich atmete nur noch einmal pro Tag, einmal ein, einmal aus, und mein Herzschlag hatte sich diesem Rhythmus angepasst. Meine Hände sind mit dem schwarzen Spieß verwachsene Krallen, von denen ich befürchten muss, dass auch sie bald pulverisiert werden und als feiner Staub auf das Leben unter ihnen herniederrieseln.

Und ist mein Körper auf dem Steinfußboden aufgeschlagen, zerborsten und sein Staub aufgewirbelt wie die Sporen, die ein zertretener Pilz in einer langsam unsichtbar werdenden Wolke auf weite Reise schickt, dann werde ich nicht mehr sein. Dann werden meine Eltern und meine Geschwister schon sehen, was sie davon haben, mich nicht gerettet zu haben, dann werden sie nur noch sagen können: Es war einmal ein König, ein kleiner König …

Man hatte mich vergessen. Die Würste und Schinken neben mir kamen und gingen. Ich war es müde, mich mit ihnen zu befreunden. Ich reduzierte die Energie, die ich benötigte, um zu leben, wie es Schildkröten tun im Winterschlaf. Ob ich nun langsam zerbröselte oder, solange noch ein wenig Lebenssaft in mir gärte, doch noch heruntergenommen und im Laden von der Aufschnittmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten und teuer verkauft würde, war mir egal. Ich wusste, die Gefühle und mit ihnen Schmerz und Hoffnung hatten meinen Körper längst verlassen.

Die Lethargie als Ergebnis des endlosen Hängens wurde nur noch übertroffen von der Wiederkehr des Lebens unter mir. Dort wurde gearbeitet, gelacht, gestritten, geliebt, Geld gezählt, doch nie bekam ich einen Blick, der mir gesagt hätte, ich weiß, dass es dich da oben noch gibt, dass du da bist, wir haben dich nicht vergessen, und deine Zeit wird kommen. Nichts von alledem. Obwohl vorhanden, existierte ich nicht mehr. Als hätte es mich nie gegeben. Manchmal, wenn das zarte Licht der Morgensonne den Raum erhellte, die Schläfer in Wohnungen und Häusern an der Hand nahm und sie vom Schlaftraum der Nacht in den Lebenstraum des Tages führte, wünschte ich, es würde mich verwandeln in eine Urne ganz aus meiner eigenen Asche und mit sonst nichts drin als diesem weichen Licht.

Ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Tod und auch nicht mehr vor dem Sterben. Das sanfte Licht der Morgensonne würde mir für immer scheinen und mich erwärmen, mir Trost und Hoffnung spenden. Und wenn das Leben mich vergessen hat, bescheint mich doch das Licht des Todes in meiner Urne. Ob es mir für immer hier scheint oder mich mitnimmt auf seine Reise – mir ist beides recht.

Denn ich wollte wissen, wohin die Reise ging. Da hörte ich von irgendwo, aus Vergangenheit oder Zukunft, die vertraute Stimme meiner Mutter: «Im Westen ist es kalt.» Mit dieser Vorausahnung hatte sie recht, wie sich später herausstellen sollte. Auch wenn es im Westen manchmal heiß zu- und hoch herging.

2.
… das kommt vom Rudi-Ralala

Samstagabends gingen die Gesellen unserer Metzgerei im gegenüberliegenden Gasthaus Zur Kanne feiern. In dessen Tanzsaal mit dem schönen Namen Paradiso – eine Verbeugung vor dem Hit «Paradiso unterm Sternenzelt» aus den frühen 60er Jahren, auf Deutsch gesungen von der amerikanischen Sängerin Concetta Rosa Maria Franconero, bekannt unter dem Namen Connie Francis –, spielte eine Band, es wurde getrunken und getanzt, und meine Schwester, ihre Freundin Monika und ich lagen bei uns im Fenster und beobachteten. Der Feldstecher meines Vaters half uns dabei. Besonders begehrt war er von Renate und ihrer Freundin bei langsamen Liedern. Nie, außer an Abenden wie diesen, sah ich meine Schwester jemals durch ein Fernglas schauen.

Was wir nicht sehen konnten, mussten wir uns denken. Ich spürte körperlich, dass Renate und Monika in ihrer ergänzenden Phantasie mir weit voraus waren und über Dinge tuschelten, die ich mir, selbst wenn ich mehr als bloße Flüsterfragmente gehört hätte, aus Mangel an pubertären Erfahrungen noch lange nicht hätte ausmalen können.

Auch unsere Eltern gingen samstagabends aus. Zweimal im Monat trafen sie sich mit Freunden zum Kegeln in der Wirtschaft Im Pütt. Lag Zur Kanne mit dem Tanzsaal Paradiso nur einen Steinwurf von der Straßenfassade unseres Hauses und der Metzgerei entfernt, so hätte ich mit demselben Stein in entgegengesetzter Richtung den oberirdischen und fensterlosen Tunnel der zu Im Pütt gehörenden Kegelbahn treffen können, jenseits der Mauer, die unseren großen Garten umzäunte und in die am oberen Ende spitze Eisenpickel und bunte Glasscherben einzementiert waren. Diese sollten Einbrecher davon abschrecken, in unser neu erworbenes Reich – Metzgerei, Laden und Wohnhaus – einzudringen, um Würste und Schinken zu stehlen, die Geldkassette zu entwenden, die mein Vater allabendlich an seiner Schlafseite unter dem Kopfende des Ehebettes versteckte, und, sollte er sie nicht freiwillig herausrücken, ihm den Schädel einzuschlagen.

 

Doch auch die Flucht aus unserem Reich sollte so verhindert werden. Mit einiger Regelmäßigkeit unternahmen unsere beiden Schäferhunde, wenn sie aus ihrem Zwinger in den für sie abgezäunten Teil des Gartens durften und sich unbeobachtet fühlten, den Versuch, das Reich zu verlassen, anstatt es zu bewachen und gegen Eindringlinge zu verteidigen. Mehrmals gelang es Axel und Pluto, mit einem Satz auf die Mauer und mit einem weiteren von der Mauer in die Freiheit zu springen. Doch immer endete ihre Flucht im Zwinger des Tierheims in der Nähe des Mülheimer Flughafens, und jedes Mal, wenn ich sie mit meinem Vater von dort abholte, um sie aus dem einen Zwinger zu befreien und wieder in den Zwinger der Metzgerei zu sperren, überlegte ich, welches Hundeleben sie, hätten sie es frei wählen dürfen, wohl lieber gehabt hätten. Vermutlich wären sie gern, friedlich nebeneinander im Flugzeug sitzend, ins Paradiso für Hunde geflogen.

Wieder zu Hause, versuchte mein Vater, ihnen mit dem Stock den Sprung in die Freiheit aus dem Körper zu prügeln. Das tat weh. Auch mir. Es war ungerecht. Denn sie hatten nichts anderes getan als wir: aus dem Eingesperrtsein in die Freiheit zu entfliehen. Außerdem war es erfolglos. Wieder und wieder versuchten sie, dem Gefängnis des Gartens zu entkommen, der für mich, auch weil in ihm ein schöner Kirschbaum stand, ein Paradies war. Aber Hunde essen keine Kirschen. Schade.

Anfänglich glaubte ich, in dem langen Bau jenseits der Mauer fänden Schießübungen statt. Und dem war ja auch so! Doch wurde nicht mit Pistolen- und Gewehrkugeln geschossen, sondern mit kindskopfgroßen Kugeln, die, wenn sie trafen, die Kegel mit lautem Lärm auseinanderstieben ließen und von denen zweifellos der Ausdruck «mit Kind und Kegel» abstammen musste.

Die Eltern waren also kegeln im Gasthaus Im Pütt. Ihr Verein trug den verheißungsvollen Namen Die Holzköppe. Auch Renate und Monika trugen etwas mit verheißungsvollem Namen – etwas, das für weibliche Teenager dieser Tage üblich war, und vermutlich nicht nur für sie: ein Nachthemd namens Babydoll mit kurzen Ärmeln und kurzen Beinen, beides gepuffert, versteht sich. Dadurch schienen mir ihre Arme und Beine länger zu sein als sonst: als wüchsen sie, mit Händen und Füßen als Blüten und lackierten Finger- und Fußnägeln als matten, pastellkreidig stumpfen, aber an der Oberfläche glänzenden Blütenblättern, aus den mit Stoff bedeckten Zonen ihres für mich geheimnisvollen Körpers heraus wie Blumenstängel aus einem mit Blumenerde gefüllten Stoffsack.

Monika hatte schwarzes Kräuselhaar und einen Silberblick. Sie schielte. Aber sehen konnte sie trotzdem. Mit dem rechten Auge. Nicht nach innen, sondern nach außen, was sie intelligenter, weil weitblickender aussehen ließ als ein zur Nasenspitze gebrochener Blick. Ihre und meiner Schwester Augen verfolgten Rudi, den Vorgesellen unserer Metzgerei, wenn er fast jeden frühen Samstagabend mit seinem silbergrünen VW-Käfer-Cabriolet vom Hof fuhr, manchmal, um eine Dame von irgendwoher abzuholen und anschließend mit ihr im gegenüberliegenden Paradiso zu verschwinden, meist aber ganz einfach, um die wenigen Meter vom Hof der Metzgerei zum Paradiso mit dem Wagen zurückzulegen und dabei von möglichst vielen Gästen gesehen zu werden – von den weiblichen mit Bewunderung und von den männlichen mit Neid. Unseren Beobachtungen nach zu urteilen, hielten Rudis Techtelmechtel selten länger als drei bis vier Wochen. Dann tauschte eine neue Dame mit der alten zuerst den Vordersitz des VW und, zu späterer Stunde, die Rückbank, falls die Gesellenstube gerade anderweitig belegt war. Denn in diesem Fall wurde der Wagen kurzerhand wieder auf dem Metzgereihof geparkt, dort, wo er auch während der Arbeitszeit immer stand. Um nun die praktische Anwendung der Rücksitze in Augenschein nehmen zu können, brauchten Renate, Monika, das Fernglas und ich nur von unserem Zimmer, das zur Straßenseite gelegen war, umzuziehen ins elterliche Schlafzimmer, das uns einen perfekten Blick auf und in den VW eröffnete, solange die Eltern noch kegeln waren.

Eine akustische Untermalung dessen, was im Wageninneren, besonders auf der Rückbank des Cabriolets, geschah, bot das Winseln und Jaulen unserer beiden Schäferhunde Axel und Pluto. Unter dem Glasdach im Hof der Metzgerei, gleich neben dem Parkplatz für Rudis Cabriolet, stand ein Wellblechverschlag, in dem die geputzten Knochen bis zu ihrer wöchentlichen Abholung gelagert wurden. Ein unglaublich stinkiges und in der Sommerhitze Maden ausbrütendes Paradies für die Ratten, die sich durch nichts davon abschrecken ließen, von den Knochen die Fleischreste abzunagen – weder samstagnachts von den Geräuschen, die Rudi und seine Begleiterin von sich gaben, noch von der eifersüchtigen Begleitmusik der beiden Schäferhunde oder von der tagtäglichen Geschäftigkeit der Metzgerei.

Axel war der Aggressivbeißer, Pluto der Angstbeißer. Ihn mochte ich mehr als Axel, den ich wegen seiner Unberechenbarkeit immer ein wenig fürchtete. Ja, Pluto hatte ich richtig in mein Herz geschlossen; er war mein Hund; er hörte mir geduldig und verständnisvoll zu, wenn ich sein weiches Kopfhaar streichelte und ihm, den angenehmen Geruch seines Fells in der Nase, meine Sorgen ins Ohr flüsterte. Schlug mich mein Vater, was gelegentlich vorkam, doch immer zu Unrecht, kläffte Pluto ihn an und war kurz davor, ihn zu beißen, traute sich aber nicht, sondern beließ es beim Zähnezeigen. Mein Vater wusste, Pluto würde nicht zubeißen, nahm einen Räucherspieß und verdrosch ihn, bis er sich mit angelegten Ohren und eingezogenem Schwanz davonmachte.

Da die Hunde tagsüber in ihre große Gartenparzelle gesperrt waren, konnten sie die Ratten in dem Knochenverschlag nicht vertreiben. Das übernahmen, wenn es meinem Vater «zu bunt» wurde – so formulierte er es immer gerne, wenn sich bei ihm Wut und Zorn, die er nicht bewältigen konnte, angestaut hatten –, er und die Gesellen. Sie schnappten sich Stöcke und erschlugen die Ratten, die sie erwischen konnten. Danach war der Betriebsfrieden wiederhergestellt. Der eine summte bei der Arbeit ein Liedchen, der andere sang einen Schlager, und mein Vater pfiff, ein wenig neurotisch wie in einer Schleife gefangen, immer und immer wieder die gleichen sieben Töne einer selbst erfundenen Melodie vor sich hin, von deren Schlichtheit allein er immer wieder aufs Neue ergriffen war. Diese Eigenkomposition, zuverlässig seine einzige, klang folgendermaßen: Da-da – da-da-da – da-da. Und wieder: da-da – da-da-da – da-da und so fort …

Die Ratten waren also erschlagen, am Freitag war geschlachtet worden, das nervöse und ertragreiche samstägliche Ladengeschäft war bedient, die Arbeitsräume gesäubert, und ich hatte die wöchentlichen Einnahmen der Ladenkasse gezählt: Das Papiergeld wurde, sortiert nach Zehn-, Zwanzig-, Fünfzig- und Hundertmarkscheinen, in verschiedenfarbige Banderolen gesteckt, die Münzen wurden in einen Münzzähler aus Bakelit gestapelt und in festes, unterschiedlich müdes grau-bunt gefärbtes Papier eingewickelt und meinem Vater präsentiert – stolz war ich, wenn der Gesamtbetrag 10 000 DM überstieg. Kurzum, ein friedlicher Nachmittag lag still über der Metzgerei … bis der Abend kam, die Eltern endlich aus dem Haus waren und meine Schwester, Monika und ich auf dem Fensterbrett in Anschlag lagen und darauf lauerten, die Gesellen bei ihren nächtlichen Vergnügungen zu beobachten.

Star des Samstagabends, nicht nur für uns, war Max. Typ James Dean, nur bayerisch, stolzierte er in Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer Strickkrawatte, Pomade – entweder war es fit aus der blauen, Wellaform aus der rot-weißen oder Brisk aus der roten Tube, und manchmal glänzte das Haar dermaßen, dass er vermutlich alle drei Haarcremes gleichzeitig benutzt hatte – im schwarzen Haar, das er zu einer geschwungenen und die männliche Stirn weit überragenden Tolle gestaltet hatte, Richtung Wirtschaft über die Straße und verschwand in der Musik und den bunten und sich drehenden Lichtern des Tanzsaales. Die Lieder waren uns nur allzu vertraut; wir konnten sie mitsingen und taten es auch. Mal war die Stimmung im Saal ausgelassen, ja, wild, dann verwandelte sie sich, angeregt von «Samenziehern» genannter Musik, in eine wuschige und kuschlige Atmosphäre, in der die Körper der Tanzenden, wie von einem Magnet angezogen, nicht anders konnten, als sich mit Armen, Beinen und Händen in ständig fließenden Bewegungen zu umschlingen und einander die Zungen möglichst tief im Rachen zu versenken, als wollten sie sich mit Haut und Haaren verschlingen.

Der Dual-Schallplattenspieler, dessen Deckel zugleich Lautsprecher war, hatte uns mit seiner Zehnfach-Single-Wechselmechanik musikalisch und gesanglich bestens trainiert. Renate – es war die Zeit der toupierten Hochfrisuren und der riesigen Taft-Spraydosen, die flächendeckend Westdeutschlands Familien vergifteten – hatte ihn zur Konfirmation geschenkt bekommen, und der charmant-zackige Onkel Wolfgang Kraft aus Zuffenhausen hatte ihr als erstes Plattengeschenk den Schlager «Du wirst rot, wenn ein Mann zu dir sagt, du bist wunderschön, und dir Rosen schenkt. Du wirst rot, wenn ein Mann zu dir sagt, dass er Tag und Nacht nur an dich noch denkt …» von Ivo Robić mitgebracht. Natürlich hat sie die Platte sofort aufgelegt und ist – ich habe mich gewundert, wie schnell so etwas gehen kann – tatsächlich rot im Gesicht angelaufen, ziemlich rot.

Wolfgang Kraft, ein DDR-Flüchtling wie wir, beeindruckte durch sein flott-forsches Auftreten, gute Manieren, charmantes Lächeln, die perfekte Fasson-Frisur seines kurzen, drahtigen Blondschopfs, der selbst beim Tauchen nicht aus der Form geraten wäre, und einen noch perfekteren, auf seinen Körper zugeschnittenen Anzug. Doch das Wichtigste war: Er arbeitete bei Daimler-Benz. Und fuhr auch einen. Und ausgerechnet dieser Mann, dem, wie Mutti es einmal sagte, die Herzen der Frauen zuflogen und der mit einer Schallplatte das Gesicht meiner Schwester röter färben konnte, als ich es je gesehen hatte, ausgerechnet er wurde seines Glücks im Westen beraubt, als er eines Tages mit seinem Mercedes ins Drahtseil einer Straßensperre raste, das nicht nur das Dach von seinem Wagen abtrennte, sondern auch seinen Kopf vom Hals.

Wir – Renate, Monika und ich – sangen also schon die Texte zur Musik der Kapelle im Paradiso mit, während Rudi noch in seinem Cabriolet, kaum zu glauben, aber wahr, die etwa neunzig Meter von der Metzgerei zum Tanzvergnügen fuhr. Wahrscheinlich waren es von seinem überglasten Parkplatz bis zum Hoftor und von dort über die Straße insgesamt eher sechzig Meter, die er fuhr. Aber er fuhr, er musste fahren, denn er wollte sein schnittiges Cabriolet vor dem Eingang zum Tanzlokal präsentieren, um den jungen Frauen zu imponieren und die lästige Konkurrenz zu disqualifizieren und abzuschütteln. Stand sein Wagen am Sonntagvormittag nicht auf dem Platz unter dem Glasdach im Hof, dann hatte Rudi aushäusig übernachtet – auch das war gelegentlich der Fall. Rudi war relativ klein, hatte schütteres Haar und – die beiden oberen Schneidezähne waren übereinandergestellt – ein leicht verschmitztes Lächeln. Er kam aus Ostfriesland. Und war, so hieß es, für einen Ostfriesen erstaunlich oft gut gelaunt. Besonders am Samstag. Denn der Samstag war, wie gesagt, der Ausgehtag der Gesellen. Zudem wurde samstags nur bis zum frühen Nachmittag gearbeitet, und schon am Tag zuvor, am Freitag nach der Arbeit, hatte es Löhnung gegeben – in bar.