Trips & Träume

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Trips & Träume
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Klaus Fischer

Trips & Träume

Ein Roman über die wilden Krautrock-Jahre

FUEGO

Krautrock - Kiff und große Ideale

Ein Roman über die wilden Krautrock-Jahre

Trips & Träume erzählt die Geschichte einer Jugend in den frühen Siebzigern - als eine ganze Generation auf den Trip ihres Lebens ging. Drei Freunde versuchen mit Hilfe der Musik auszubrechen aus der Enge der Provinz. Und entfachen eine Rebellion gegen das Spießertum jener Zeit. Krautrock und Kiff sind der Hintergrund für eine packende Geschichte über Freundschaft, Liebe und große Ideale. Doch was ist mehr als dreißig Jahre später davon übriggeblieben?

„Trips & Träume ist amüsant geschrieben - von jemandem, der dies alles intensiv miterlebt und ein offenes Ohr für Musik hat. Charmant, gesellschaftskritisch und witzig.“

Mani Neumeier, GURU GURU

„Musik als Lebensmittel. Eine Erinnerung an wilde Zeiten und zugleich eine längst fällige Liebeserklärung an die guten, alten Krautrockhelden.“

Steffen Radlmaier, NÜRNBERGER NACHRICHTEN

In Erinnerung an Doris (1957–2004)

Wenn du die Wahl hast zwischen Wahrheit und Legende, entscheide dich immer für die Legende.

Tony Wilson

eins Going to My Hometown

Aus dem iPod, den ich an die Autoanlage angeschlossen hatte, erklang »Mother Sky« von Can. Der MP3-Player war voll mit Musik von Guru Guru, Popol Vuh, Kraftwerk, Tangerine Dream, Ash Ra Tempel und wie die Bands aus den frühen Siebzigern alle hießen. Damals, als wir auf den Trip gingen, in den Zeiten des Musikfiebers, hatten wir diesen Sound geliebt.

Wir, das waren Karen, Don, Mark und ich. Andi, Fetzer, Moses und Hördi gehörten auch dazu. Seit Andis Tod vor mehr als dreißig Jahren hatte ich die Korona nie mehr wiedergesehen. Was war aus ihnen geworden? Und was aus unserem rebellischen Traum, die Spießer vom Thron zu stürzen und reich, berühmt und sexy zu werden? Alles schien damals zum Greifen nah.

Ich schaute in den Rückspiegel. Maja schlief mit offenen Mund im Kindersitz. Autofahren wirkte wie ein Schlafmittel auf sie. Träum was Schönes, meine Kleine, dachte ich.

Auf der Autobahn war der Schnee in Regen übergegangen. Die Scheibenwischer surrten leise. Der Sharan glitt lautlos dahin. Wegen der Weihnachtsfeiertage herrschte wenig Verkehr. Ich trat aufs Pedal.

»Papa, kannst du die blöde Musik ausmachen?«

Maja war aufgewacht und riss mich aus meinen Gedanken

Ich schaute in den Rückspiegel. »Alles in Ordnung?«

Sie nickte müde und kuschelte sich an Flat Eric, ihre kleine Stofffigur, die vor Jahren der Star in einem Jeanswerbespot war und an der Majas Herz hing. Wohin wir auch gingen, zum Einkaufen, in den Kinderladen oder auf den Spielplatz, Flat Eric war immer dabei.

»Papa?«

»Ja, Maja?« »Denkst du an Mama? Ich muss ganz viel an Mama denken.«

»Und woran denkst du dabei?«

»Dass Mama jetzt arbeiten muss und nicht mit zu Oma kann.«

»In Mamas Beruf muss man manchmal auch sonntags und an Feiertagen arbeiten.«

»Blöder Beruf. Und dass ihr euch streitet, das finde ich auch doof.« »Papa und Mama sind nur nicht immer einer Meinung, Maja, aber wir haben uns trotzdem lieb. Verstehst du?«

»Streiten ist trotzdem blöd.«

Ich lächelte sie verlegen im Rückspiegel an. Mit ihren vier Jahren hatte sie schon ein feines Gespür für Dinge, die schiefliefen.

Mila und ich hatten uns einst ein Versprechen gegeben.

No guru, no method, no teacher.

Jeder dürfe sich als freier und gleichberechtigter Partner in seinem Beruf verwirklichen. Und wir würden Maja all unsere Liebe schenken.

Doch ein Liebesschwur konnte sich über die Jahre abnutzen, selbst wenn er in einer leidenschaftlichen Nacht zur Musik von Van Morrison geschlossen wurde. Zwischen Mila und mir war nichts mehr wie früher. Wir waren drauf und dran, uns auseinanderzuleben.

Ein paar freie Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Huguette, meine Mutter, hatte zugesagt, sich um Maja zu kümmern. In dem großen alten Haus am Stadtrand mit dem Garten hintendran, den nur eine Hecke vom Wald trennte, endlich ein bisschen Ruhe finden. Ein Buch lesen, lange schlafen, spazieren gehen, mal wieder ins Kino, und vor allem nicht streiten. So, dachte ich, würden Mila und ich uns wieder näherkommen.

Wir hatten reisefertig im Flur gestanden, als das Handy klingelte. Geh nicht ran, dachte ich. Lass uns ins Auto steigen und losfahren. Aber Mila hatte schon das Telefon am Ohr. »Hallo, Boris.«

Boris Saur, Redaktionsleiter bei Frankfurt-TV, wo Mila arbeitete.

»Gib mir eine halbe Stunde«, sagte sie und unterbrach die Verbindung.

»Was ist los?«, fragte ich.

Bedauern in ihrem Gesicht. »Ich muss in die Redaktion.«

»Sag, dass das nicht wahr ist.« »In Südostasien hat es ein katastrophales Seebeben gegeben. Stärke neun auf der Richterskala. Ein Tsunami, eine riesige Flutwelle, hat die Küsten von Thailand und Indonesien überrollt. Die ersten Schätzungen sprechen von fünfzigtausend Toten, darunter viele Touristen. Die größte Naturkatastrophe, die es jemals gegeben hat.«

»Du willst wirklich in die Redaktion?«

»Ich kann die Kollegen nicht hängenlassen. Wir haben zufällig ein Kamerateam in Thailand, hat Boris erzählt. Die wollten einen Reisebericht drehen. Weißt du, was das heißt? Wir haben eigene Bilder, müssen nichts von den großen Sendern kaufen, können über eigene Aufnahmen verfügen. Die müssen aufbereitet werden, die Sachen müssen nachrecherchiert werden und all das. Satti, du weißt doch, wie das läuft.«

Ja, als ehemaliger Redakteur einer Tageszeitung wusste ich, wie das lief. Mila wurde in der Redaktion gebraucht. Aber ich wollte mich nicht so schnell in mein Schicksal fügen.

Satti. So hatte man mich in meiner Jugend gerufen, als ich noch mit der Korona unterwegs war. Mila nannte mich nur dann so, wenn sie mir ganz nahe sein wollte.

Ich konnte meine Enttäuschung nicht mehr verbergen. »Das kommt dir doch gelegen, dass du in die Redaktion musst.«

»Was soll das denn nun heißen?«

»Es ist doch kein Geheimnis, dass du mit meiner Mutter nicht so gut kannst. Jetzt hast du einen Grund, nicht mitzumüssen.«

Sie schaute mich fassungslos an. »Ich habe mich auf den Besuch bei Huguette ebenso gefreut wie du.« Ihre Augen funkelten böse.

Sofort bemühte ich mich schuldbewusst um Schadensbegrenzung. »Ich hole den Koffer wieder aus dem Auto«, entgegnete ich.

Mila nickte und nahm Maja auf den Arm. Einen Moment kämpfte die Kleine mit den Tränen. Dann gelang es Mila, sie zu besänftigen.

Zwanzig Minuten später hielt ich in zweiter Reihe vor dem Bürohaus auf der Großen Eschenheimer Straße, wo Frankfurt-TV im vierten Stock untergebracht war. Auf der gesamten Fahrt sagte Mila kein Wort. Ich schaltete den Warnblinker an.

Sie starrte hinaus auf die Straße. »Vielleicht ist es ganz gut, dass wir uns ein paar Tage nicht sehen. Die Redaktion ist derzeit der einzige Ort, an dem ich nachdenken kann.«

»Nachdenken worüber?«

»Wir streiten uns so häufig wie noch nie. Und dann muss ich mir solche Sachen wie eben von dir sagen lassen.«

Sie drehte den Kopf nach hinten zur Rückbank und pustete Maja einen Kuss zu. »Tschüs, mein Schatz, und hab viel Spaß.«

»Kuss! Kuss!«, rief Maja. Mila stieg aus, öffnete die Seitentür, beugte sich hinüber und drückte die Kleine. Dann lief sie um den Wagen herum zur Fahrerseite. Ich ließ das Fenster herunter.

»Richte Huguette einen lieben Gruß von mir aus.«

»Wenn es einer versteht, dann meine Karrieremama«, brummte ich. Mehr zu mir selbst. Mila sollte es gar nicht hören.

»Fang nicht schon wieder an!«, zischte sie und ging los. Ohne zurückzuschauen, marschierte sie durch die Drehtür des Bürohauses.

Einen Moment überlegte ich, ihr zu folgen. Doch dann legte ich den Gang ein und fuhr los.

All dies ging mir durch den Kopf, während ich mit hundertsechzig über die Autobahn raste und auf die Straße starrte, als könnte ich dort die Lösung für Milas und meine Probleme finden.

»Papa, du hörst mir überhaupt nicht zu!«

»Entschuldige, Liebes. Was ist denn?«

»Kannst du endlich die blöde Musik ausmachen?«

Eine Stunde später passierten wir das Ortsschild. Ich wollte gerade das Radio ausstellen, das ich für Maja eingeschaltet hatte, da kam sie, diese Melodie. »Lauter, das ist ein tolles Lied«, quietschte Maja und klatschte in die Hände.

Ja, der Song hatte was, die Melodie rührte an und ging unter die Haut. Das Stück stammte aus einer dieser Wir-suchen-den-Pop-Superstar-Shows. Merkwürdig, ich hörte das Lied erst zum dritten oder vierten Mal. Aber ich hatte das Gefühl, die Melodie schon länger zu kennen.

Woher nur? Es wollte mir partout nicht einfallen.

Ich lenkte den Wagen in die Gymnasialstraße, vorbei an meiner alten Schule. Ich bog links ab und hielt, warum auch immer, mitten auf der Fahrbahn an.

Keine Fußgänger, kein weiteres Auto. Keine Straßenbeleuchtung. Ich beugte mich über das Lenkrad und schaute hinaus in die Nacht. Dann erkannte ich die Treppe wieder, davor das kleine Stück Rasen und den Parkplatz.

Im Haus auf der gegenüberliegenden Seite war einst das Hot Rats untergebracht, der Szeneladen, der abgefahrenste Freakschuppen in der ganzen Gegend. Hier traf sich die Korona, das Rats war unser Wohnzimmer.

Plötzlich tauchten längst vergessen geglaubte Bilder aus den Tiefen der Erinnerung vor meinem inneren Auge auf.

Manchmal waren es bis zu zwanzig Freaks, die auf der Treppe saßen, jemand packte eine Gitarre aus, Mark holte seine Bongos hervor, und dann wurde gejammt. Ein Joint ging herum, und Kief, der Besitzer des Rats, erschien am Eingang. Im Sommer klemmte er immer den Keil in die Tür. Von drinnen dröhnte »Ruckzuck« von Kraftwerk hinaus auf die Straße.

 

Doch da, wo einmal das Rats residierte, gab es nur noch Fenster mit herabgelassenen Rollläden, stinknormale Wohnungen.

Ich fuhr an. In diesem Moment überquerte eine Gestalt die Straße.

Ich erkannte schemenhaft den hochgezogenen Kragen einer Regenjacke und trat voll auf die Bremse. Es war ein Mann, da war ich mir sicher, trotz der langen Haare, die patschnass an seinem Kopf klebten. Ohne Eile schlurfte das Wesen, das aus dem Nichts aufgetaucht war, durch das Licht der Scheinwerfer, seine Bewegungen kamen mir merkwürdig vertraut vor.

Fünf Minuten später waren wir aus dem Ort raus. Hinter der Feuerwehr ging es links in die Siedlung, in der Huguette wohnte. In der Straße Zum Karstel, Hausnummer sechs, hielt ich an und stellte den Motor ab. Obwohl nichts passiert war, pochte mir das Herz bis zum Hals.

*

Nach dem Essen – ihre selbstgemachte Lasagne war köstlich gewesen – hatte Huguette Maja ins Bett gebracht. Früher hatte Huguette nie gekocht. Meine Mutter war mit anderen Dingen beschäftigt, hauptsächlich mit ihrem Aufstieg zur Landtagsabgeordneten.

Den Haushalt hatte Auguste, meine Großmutter, in deren altem Zimmer Maja jetzt schlief, geführt. Mit neunundachtzig Jahren war Auguste an Herzversagen gestorben – vor fünfzehn Jahren.

Ich war also unter der Obhut von zwei Frauen aufgewachsen. Kurz nach meinem sechsten Geburtstag hatte Huguette die Scheidung eingereicht. Meinen Vater bekam ich kaum noch zu Gesicht, bald gar nicht mehr. Irgendwann hatte er einen neuen Job in einer anderen Stadt, in der er eine neue Familie gründete. Huguette und ich saßen im Wohnzimmer, sie im Sessel, ich auf dem Sofa, vor uns auf dem Tisch zwei Gläser Weißwein.

Sie trug die weißen Haare im praktischen Kurzschnitt. Braune Hosen, beige Bluse und Pullunder mit V-Ausschnitt.

1933 in Toulouse geboren, war Huguette zwar nicht mehr die Jüngste, das hinderte sie jedoch nicht daran, ausgesprochen aktiv und ständig in Bewegung zu sein. Zweimal in der Woche ging sie ins Hallenbad, außerdem traf sie sich mit einem Rentnerclub, der einmal im Monat nach Köln fuhr. Dort besuchten sie die Oper oder gingen ins Theater. Huguette surfte im Internet und verschickte E-Mails. Sie wanderte gern und erledigte ihre Einkäufe mit dem Fahrrad oder dem Bus.

Bis vor fünf Jahren war sie sogar jeweils im August zum Segeln ans IJsselmeer gefahren. Das Auto hatte sie verkauft, den Führerschein abgegeben. Wenn sie uns besuchte, nahm sie den Zug. Eine Seniorin wie aus einer Broschüre des Bundesfamilienministeriums. Sie hatte nie wieder geheiratet. Ihr Beruf war ihr Lebensinhalt gewesen.

»Du bist sauer, weil Mila in die Redaktion gegangen ist«, sagte sie.

»Eigentlich will ich nicht mit dir darüber reden.«

»Entschuldige, aber was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

»Ich habe eine Mutter, die die besten Jahre ihres Sohnes verpasst hat, weil sie immer nur arbeiten war. Jetzt habe ich eine Frau, die ebenfalls ihren Job der Familie vorzieht.«

»Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus«, bemerkte sie.

Ich verkniff mir eine Antwort und griff nach der Flasche, um Wein nachzuschenken. Da sah ich es.

Die Zeitung auf dem Tisch war mir nicht aufgefallen. In großen Lettern stand da ihr Name. Es konnte kein Irrtum sein.

Nach langer Krankheit verstorben. Beisetzung am 27. Dezember.

27. Dezember, das war ja morgen. Ich hielt Huguette die Zeitung hin. »Warum hast du nichts gesagt?«

»Ich wollte warten, bis wir allein sind. In der Stadt erzählt man sich, sie hatte Krebs.«

Karen, das schöne Hippie-Mädchen von einst, war tot.

Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, die Wände des Zimmers gerieten ins Wanken. Als sich alles wieder beruhigte, sah ich ihr Gesicht. Sie lachte ihr strahlendes Lachen, das ich immer an ihr gemocht hatte. Sie war einmal meine beste Freundin, damals, als das Musikfieber ausbrach. Mit einem Zug trank ich den Wein aus. Ich blieb eine halbe Stunde bei Huguette sitzen, dann ging ich ins Bett.

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, überraschte Huguette Maja und mich mit einer kleinen nachweihnachtlichen Bescherung. Drei große Pakete thronten auf dem Wohnzimmertisch. Das Puppenhaus für Maja, einen neuen Drucker für mich und ein Laptop für Mila.

Ich war verblüfft. Dafür, dass sie stets versuchte, Mila als Rabenmutter hinzustellen, war der Laptop ein ungewöhnlich großzügiges Geschenk. Dass ich einen neuen Drucker brauchte, musste Mila ihr gesagt haben.

Ich griff in die Jackentasche und holte das Opernglas heraus. Es steckte in einem rechteckigen Etui; zusätzlich klemmte noch ein Briefumschlag unter der Schleife. Darin befanden sich zwei Karten für Die Zauberflöte in der Frankfurter Oper. Die Aufführung hatte gute Kritiken bekommen.

Ich half Maja beim Aufbau des Puppenhauses. Und war nur halb bei der Sache. Ständig blickte ich auf die Uhr.

»Maja, ich muss los, Papa hat noch einen Termin.«

Sie hörte gar nicht hin, so berauscht war sie von dem neuen Spielzeug. Ich stand im Flur, als Huguette aus der Küche rief: »Maja, deine Mama ist am Telefon.«

»Ich bin weg«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Willst du nicht mit Mila sprechen?«

»Sag du ihr, was los ist.«

Ich sog die frische Morgenluft ein, spürte die Kälte und zog den Kragen des Mantels hoch. Dann steckte ich die Hände in die Taschen und marschierte los. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen.

In der Anzeige hatte gestanden, der Beginn der Trauerfeier sei um elf Uhr. Obwohl der Friedhof von Huguettes Haus nur wenige Minuten zu Fuß entfernt lag, war ich bereits eine Viertelstunde über der Zeit.

Ich folgte dem breit angelegten Weg, der vom Eingang aus geradewegs zur Kapelle führte. Links und rechts von Bäumen gesäumt, wirkte er wie eine Allee. Wind kam auf, der sanft durch die kahlen Äste strich. Ich ging vorbei an Gräbern mit prachtvollen Steinen aus Granit und Marmor. Nichts war zu hören außer dem Wind und meinen eiligen Schritten. Inzwischen war ich an der Kapelle angekommen. Als ich die Hand nach der gusseisernen Klinke ausstreckte, hielt ich einen Moment inne.

Von drinnen war nichts zu hören. War da überhaupt jemand? Hatte ich mich geirrt? Das konnte nicht sein. Der Parkplatz war zugestellt mit Autos, es gab keine freie Lücke mehr. Wagen mit Berliner und Hamburger Kennzeichen fielen mir auf. Ich seufzte und drückte die Klinke herunter.

*

Als Erstes kroch mir Weihrauch in die Nase. Aber da war noch etwas anderes: der Geruch, der in einem Raum entsteht, in dem sich viele Menschen aufhalten. Und ein leichter Duft von frischen Blumen. Als Nächstes fiel mir das Licht auf. Das Flackern der zwei mannshohen und armdicken Kerzen neben dem Altar hinterließ an den Wänden der Kapelle schaurig schöne Schattenspiele.

Der Priester schritt in einem prächtigen Gewand daher, das mit goldenen und roten Stickereien versehen war. In gebührendem Abstand hinter ihm hielten sich zwei junge Messdiener, gekleidet in einfache weiße Soutanen. Wie ein Pendel und mit ausgestrecktem Arm schwenkte der Priester eine Kette, an der eine Kugel hing, die mehrere Öffnungen aufwies. Der austretende Rauch legte sich wie ein Schleier über die Szenerie, langsam kroch der Nebel am Boden entlang und breitete sich im ganzen Raum aus.

Vor dem Altar in Höhe des Mittelgangs stand auf einem kleinen Tisch eine goldene Urne. Der Tisch war mit Tüchern aus weißem Stoff dekoriert. Um die Urne herum lagen üppige Blumenbouquets. Etliche Kränze mit Schleifen, auf denen letzte Grüße standen, waren auf dem Boden zu einem kunstvollen, das Auge ansprechenden Ensemble drapiert worden.

Links hinter dem Altar stand ein Klavier. An ihm hatte einer der Messdiener Platz genommen. Die Stimmung war angespannt. Alles wartete darauf, was als Nächstes geschah. Vereinzeltes Räuspern und das Rücken von Stühlen.

Ich schaute mich um. Die Kapelle war gefüllt bis auf den letzten Platz – es war so voll, dass sich an der Wand eine Reihe gebildet hatte, in der die Leute eng beieinander standen. Es mussten um die achtzig Trauergäste sein. Ich hatte mich direkt neben den Eingang gestellt und lehnte mit dem Rücken an dem kalten Gemäuer.

Meine Augen hatten sich inzwischen an die Lichtverhältnisse gewöhnt.

Da entdeckte ich sie. Mark und Don. Sie saßen in der fünften Reihe.

Wir hatten uns einmal sehr gut gekannt. Ja, ich konnte sagen, Mark und Don waren meine Freunde gewesen. Besonders Mark.

Doch nachdem das Musikfieber und alles, was damit zusammenhing, jäh geendet hatte, hatten wir uns aus den Augen verloren.

Richtig war wohl eher, dass keiner von uns den Kontakt aufrechterhielt. Die Ereignisse hatten mehr als nur Schmerz verursacht. Die Wunde war verheilt, aber eine Narbe geblieben. Nach dreiunddreißig Jahren sah ich Mark und Don heute zum ersten Mal wieder.

»Satti, bist du das?«

Hördi. Ja, er war es wirklich. Da gab es kein Vertun. Die gleichen langen, fettigen Haare, dem Anlass entsprechend züchtig zu einem Pferdeschwanz gebunden. Natürlich war er älter geworden. Wie wir alle. Sein Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Er trug eine alte Regenjacke, den Kragen hochgeklappt. In das freundliche Gesicht mit der markanten Nase hatten sich tiefe Furchen eingegraben. Er sah gesund aus. Etwas dünn vielleicht, doch so war er schon immer gewesen. Ein schmaler Kerl eben, ein Hemd, wie man so sagt, aber unglaublich zäh. Der konnte was vertragen. Hördi war einer der verrücktesten Freaks, die ich kannte. Auf einigen Partys in den Zeiten des Musikfiebers hatte ich ihn in Bestform erlebt. Aber er ist nie ausgeflippt. Selbst auf dem härtesten Trip nicht. Er hatte sich stets unter Kontrolle. Er war bekannt dafür, stundenlang durch die Stadt zu spazieren, Runde um Runde zu drehen. Man konnte ihn einen Einzelgänger nennen.

»Mensch, Hördi, schön, dich zu sehen«, flüsterte ich.

Ja, ich freute mich wirklich, diesen abgedrehten Typen zu treffen. Ich hatte ihn immer gemocht.

»Gestern Abend, vor dem Haus, in dem früher das Hot Rats war, wäre mir beinahe jemand ins Auto gelaufen. Der sah so aus wie du«, sagte ich.

Er grinste breit. Die Furchen in seinem Gesicht formierten sich zu Rissen in einem Felsen. »Ich kam aus Tscharlies Kneipe. Entschuldige, wenn ich dich erschreckt haben sollte.«

»Das ist unerhört! Wie können Sie sich nur so unhöflich benehmen!«

Die Frau war in Huguettes Alter. Sie war so aufgeregt, dass das kleine Hut auf ihrem Kopf ins Wanken geriet.

Hördi packte einen Ärmel meines Mantels und schob mich sanft in Richtung Tür. »Lass uns draußen reden.«

»Wer war das, kennst du die Frau?«

»Klar, das ist die Mutter von Fetzer.«

Fetzer. Noch einer aus unserer Korona.

»Was ist aus dem geworden?«

So leise wie möglich schlüpften wir durch den Türspalt ins Freie. Hördi holte ein silbernes Etui aus der Jacke, eines, das er früher schon mit sich herumgetragen haben musste, so matt und abgenutzt sah es aus. Er bot mir eine Selbstgedrehte an. Dankbar griff ich zu.

»Fetzer ist tot. Schon mehr als zehn Jahre.«

»Tut mir leid, das habe ich nicht gewusst. Was ist passiert?«

»Unmengen von Alkohol, drei Schachteln Zigaretten am Tag, miese Jobs und eine gescheiterte Ehe. Irgendwann hat das Herz Probleme gemacht, schließlich hat die Leber aufgegeben.«

»Traurig«, sagte ich.

Ich hatte Fetzer bewundert. Er war stark gewesen, ein Beschützertyp mit einem mächtigen Bizeps. Er besaß eine große Klappe und ein noch größeres Herz, in dem alle Platz hatten. Aber er konnte zulangen, wenn es sein musste. Fetzer hatte einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit besessen. Wenn er sich schlug, dann für eine Sache, nie um des Prügelns willen.

Ich nahm einen tiefen Zug an der Zigarette und musste husten.

»Ich hätte es wissen müssen. Du rauchst noch immer diesen Mördertabak, dieses schwarze Kraut, stimmt’s?«

Hördi grinste. »Damit haben wir früher sogar Tüten gedreht.«

»Ja, das haben wir. Rauchst du, ich meine ...«

»Hin und wieder zieh ich einen durch, ja.«

Wir schauten uns an. Dann mussten wir lachen. Hördi klopfte mir auf die Schulter. »Was machst du heute so, hast du Familie?«

 

»Ich bin verheiratet. Meine Frau heißt Mila. Wir haben eine vierjährige Tochter, Maja. Und du, was ist mit dir?«

»Ich brauche meine Unabhängigkeit. Freiheit ist das höchste Gut, sage ich immer. Ich bin solo. Ist besser so. Ich kann keine Kompromisse eingehen.«

Hördi steckte sich die zweite Zigarette an. Also immer noch Kettenraucher. Meine Neugier war noch nicht gestillt.

»Was arbeitest du?«, erkundigte ich mich.

»Ich bin, wie soll ich sagen ...?« Er überlegte, was er sagen sollte.

»Na ja, zurzeit hab ich keinen Job. Ich habe alles mögliche gemacht, mal hier, mal da – im Supermarkt Kisten gestapelt, in einer Schraubenfabrik Schichten gekloppt. War nichts für mich. Ich hab’s mit dem Rücken. Dann mussten sie Leute entlassen. Tja, und schwupp war ich draußen. Seit fünf Jahren schon.«

»Das tut mir leid«, sagte ich.

»Ich komm klar. Aber was treibst du so?«

»Ich bin Journalist. Lange war ich Redakteur bei einer Frankfurter Zeitung, seit ein paar Jahren arbeite ich als freier Schreiber.«

»Das wolltest du schon immer, schreiben. Und worüber berichtest du so?«

»Über Musik.«

»Wie damals ...«, sagte Hördi, brachte den Satz aber nicht zu Ende.

Es entstand eine Pause. Wir zogen an unseren Kippen. Ich warf meine achtlos auf den Boden und trat sie aus.

Hördi schaute nachdenklich, mit dem Daumen deutete er zur Kapelle hin. »Wir kommen jetzt in das Alter, wo gestorben wird. Ich meine, Karen ... sie hatte Krebs.«

»Schlimme Geschichte«, antwortete ich, »Weißt du mehr darüber?«

»Nur das, was man so hört. Das volle Programm, Chemotherapie und so. Sie ist in Hamburg, wo sie all die Jahre lebte, zu Hause gestorben. Aber sie soll verfügt haben, hier in der Heimat beerdigt zu werden.«

»Lass uns wieder reingehen«, sagte ich, »vielleicht verpassen wir noch was. Außerdem wird es mir langsam zu kalt hier draußen.«

Er blickte mich fragend an. »Mark und Don sind auch da.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ja, ich habe sie gesehen.«

»Ich hab gehört, die sollen Geld haben wie Heu. Wichtige Leute und so.«

»Keine Ahnung, Hördi, ich hab sie ewig nicht gesehen und gesprochen.«

*

Mark saß am Klavier. Ich wusste gar nicht, dass er spielen konnte. Er war einmal Schlagzeuger gewesen, und was für einer. Der beste, den ich kannte.

Der Messdiener war beiseite getreten und hatte ihm den Platz am Instrument überlassen. Der Pfarrer machte eine einladende Geste.

Nichts an Mark ließ den Freak erkennen, der er einmal gewesen war.

Der dunkle Anzug stand ihm gut. Ich erinnerte mich, dass er früher immer einen Parka getragen hatte. Und eine Matte bis zu den Brustwarzen.

Hier und jetzt sah ich einen Mann in den besten Jahren. Kein Grau in den kurzen Haaren. Das Gesicht und die Hände zeigten eine dezente Bräune. Es ließ ihn jugendlich wirken.

Mark hatte Karriere gemacht. Als Musikproduzent.

Obwohl ich ihn drei Jahrzehnte nicht gesehen und gesprochen hatte, war ich bei meiner Arbeit als Journalist ein paar Mal auf seinen Namen gestoßen. Zu Beginn der neunziger Jahre erschienen die ersten vom ihm produzierten Musiktitel, die alle nach einem bestimmten Muster gestrickt waren. Drei-Minuten-Songs, ein Rapper und eine sexy Sängerin, die eine schlichte Ohrwurmmelodie trällerte. Die Trommelstöcke hatte er gegen die Schieberegler am Mischpult eingetauscht. Sein Studio entwickelte sich zur Hitfabrik. Und so fuhr er bald die erste Nummer eins ein. Bis heute folgten weitere Charterfolge, ich habe sie nicht gezählt. Die Wände seines Hauses – irgendwie ging ich davon aus, dass es eine Villa war, alle Produzenten hatten eine – durften mittlerweile mit einer beeindruckenden Sammlung an Platin- und Goldauszeichnungen dekoriert sein. Dann tauchte er im Fernsehen auf. Es fing damit an, dass er in Talkshows saß, wo er als einer der erfolgreichsten Produzenten der letzten Jahre vorgestellt wurde und sich zum Popstandort Deutschland äußerte. Mark war plötzlich so was wie ein Promi. Selbst die Zeitung mit den vier großen Buchstaben berichtete über ihn. Eines Tages trug ein Privatsender Mark an, die Jury einer dieser Talentshows, die den nächsten Pop-Superstar suchen, zu leiten. Mark wusste auf diesem Parkett zu glänzen. Er blieb sachlich und teilte fachlich kompetent den Kandidaten sein Urteil mit. Selbst wenn es vernichtend war, verzichtete er auf markige Sprüche. Die Quoten mussten die Verantwortlichen im Sender zuversichtlich gestimmt haben, denn bald sollte eine neue Staffel anlaufen.

Der Siegertitel – produziert von Mark – war auf Platz drei eingestiegen. Es war ebenjener Song, den Maja so toll fand und den wir auf der Hinfahrt im Radio gehört hatten. Jenes Lied, bei dem mich jedes Mal ein merkwürdiges Gefühl überkam. Ich hatte es schon mal gehört, da war ich mir sicher, wusste aber noch immer nicht, wann und wo.

Jetzt kam Bewegung in das Geschehen am Altar. Mark war aufgestanden und wandte sich ans Publikum.

»Sehr geehrte Gäste, Familie und Freunde von Karen.«

Seine Stimme hallte durch den Raum.

»Eigentlich war das nicht geplant. Aber ein guter Freund«, Mark zeigte auf Don, »hat mich darum gebeten. Bitte erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines Lied vorzuspielen. Ich widme es Karen. In Erinnerung an eine gute Freundin und einen wunderbaren Menschen.«

Getuschel. Ich schaute nach Hördi, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Mein Blick wanderte über die Menschen, die um mich herum standen, und ich erkannte ein paar Gesichter. Von meinem Platz links neben dem Eingang, wo ich wieder Position bezogen hatte, entdeckte ich Sonny und Moses. Direkt neben ihnen standen drei Typen, die mir bekannt vorkamen. Na klar, das waren Skip, Gero und Paul.

Mark begann zu spielen. Das Echo der Kapelle verlieh jedem einzelnen Ton, den er auf dem Klavier anschlug, etwas Dramatisches.

Es war der Song aus dem Radio, sein Hit.

Plötzlich fügte sich alles zusammen. Mir wurde von einer Sekunde auf die andere heiß, ich spürte den Schweiß in meinen Handflächen. Aber nicht, weil ich von dem allgemeinen Gefühlsausbruch ergriffen wurde, den Marks Klavierspiel ausgelöst hatte. Jetzt erkannte ich es: Es war Andis Lied.

Der Song, den Andi einst für Karen geschrieben hatte.

Mark spielte eine einfache Version, ohne Schnickschnack. Die Tonfolge war eindeutig, die Melodie eindringlich, wenn auch ein wenig sentimental. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie neben mir eine Frau sich schnäuzte und die Augen rieb.

Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Manchmal stand ich regelrecht auf der Leitung.

Doch nun war ich mir ganz sicher. Das Lied, das Mark am Klavier spielte, war Andis Song, den er vor mehr als dreißig Jahren für Karen komponiert hatte. Den Billy mit seinem Kunstkopf aufgenommen hatte. Auf der Mother Universe war dann das Tonband verschwunden. Das Lied, das Mark auf dem Klavier spielte und das ich auf der Hinfahrt im Auto gehört hatte, war identisch mit »Karen’s Song«. So hatte Andi das Lied getauft.

»Aufhören, sofort aufhören!«

Der Ruf kam aus der ersten Reihe. Ein hochgewachsener Mann, Mitte dreißig, mit halblangen schwarzen Haaren, die er hinter die Ohren geklemmt hatte, war von seinem Platz aufgesprungen. Der Stuhl polterte auf den gefliesten Boden. Der Mann fuchtelte mit den Armen, sein jungenhaftes Gesicht war vor Zorn gerötet.

»Sofort Schluss damit!«

Diesmal brüllte er es heraus, der Schrei hallte von den Wänden wider.

Die Frau neben mir zuckte zusammen.

Unruhe brach aus. Die Gäste reckten die Köpfe, nicht wenige waren von ihren Plätzen aufgestanden, um das Schauspiel zu verfolgen. Die Frage, die mich und jeden hier beschäftigte: Wer wagte es, die Feier durch einen solchen Eklat zu stören?

Ich schob mich an ein paar Leuten vorbei und drängte zum Mittelgang, um besser sehen zu können. Ich war so aufgeregt, dass ich alles um mich herum vergaß.

»Passen Sie doch auf!«

Ich war mit jemandem zusammengestoßen und drehte mich um.

Moses schaute verdattert. »Satti, bist du das?«

»Weißt du, was da los ist, kennst du den Typen?«, fragte ich.