Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

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Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück
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Klaus Bittermann

Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

Ein Ausreißerroman

FUEGO

- Über dieses Buch -

Die 16-jährige Nancy fährt mit dem Citroën ihres Vaters nach Italien und nimmt unterwegs den 17-jährigen Sid mit. Beide sind von zu Hause weggelaufen. Sid ist ein etwas naiver Punk und Nancy eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause, die von einer unbändigen Reiselust getrieben ist. Einer Zeitungsmeldung zufolge hinterlässt »das junge Paar in Luxushotels unbezahlte Rechnungen und bestohlene Hotelgäste«. Und weiter erfährt man: »Das Mädchen trat betont selbstbewusst auf und trug stets einen teuren Pelzmantel.« Klaus Bittermann hat die Zeitungsnotiz ausgeschnitten und über 35 Jahre lang aufbewahrt, um nun die Geschichte dazu zu erfinden.

Auf ihrer Reise durch Norditalien treffen Nancy und Sid auf üble, aber auch hilfsbereite und andere absonderliche Gestalten wie einen Bordellbesitzer auf der Flucht, den Bassisten der Clash, einen alten Spanien-Kämpfer und eine Ringerin aus Berlin. Aber irgendwann geht der kurze Sommer der Anarchie zu Ende. Die beiden verlieren sich. Für Sid beginnt die verzweifelte Suche nach Nancy, die ihn nach Barcelona und auf eine kleine griechische Insel verschlägt.

Für Tania

In girum imus nocte et consumimur igni

1

Drei Wochen nach dem desaströsen Ende der Operation Eagle Claw, dem Zusammenstoß einer Lockheed C-130 mit einem Hubschrauber in einem iranischen Wüstengebiet, der sich beim Versuch der Amerikaner ereignete, die als Geiseln gehaltenen Botschaftsangestellten in Teheran zu befreien, sprang der Schüler Sid Schlebrowski aus dem Fenster der elterlichen Wohnung und wäre um ein Haar auf der Katze Nancy gelandet, die dem Nachbarn im 1. Stock gehörte. Nancy fauchte und machte erschro­cken einen Satz zur Seite. Sid entschuldigte sich und lief zur Ausfallstraße des kleinen Städtchens und wartete am Straßenrand darauf, dass ihn jemand mitnahm.

Um 14 Uhr hielt ein schwarzer Citroën DS. Als Sid später daran zurückdachte, war ihm, als wäre der eiskalte Engel Alain Delon in seinem Trenchcoat ausgestiegen und hätte ihn mit versteinerter Miene angestarrt, die Hände in den Manteltaschen. Aber wahrscheinlich hatte sich einfach das Standbild einer Filmszene über diesen Teil seiner Erinnerung gelegt.

Sid lief zum Citroën, öffnete die Tür und sah ins Wageninnere. Alain Delon hatte eine riesige Insektenbrille auf. Der Stimme, die ganz anders klang als die von Delon, viel höher und nicht so gefährlich, war eine leichte Ungeduld anzuhören: »Jetzt komm schon rein. Ich hab nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen.«

Alain Delon hieß in Wirklichkeit Nancy von Westphalen und war gerade 16 geworden.

Sid rutschte eilig auf das schwarze Leder des Beifahrersitzes, und kaum war die Tür ins Schloss gefallen, gab Nancy Gas. Sie ließ die Kupplung zu schnell kommen. Der Wagen bäumte sich auf und starb.

»Scheiße«, sagte sie.

Sie startete den Wagen erneut, drückte das Gas durch und fegte mit quietschenden Reifen auf die Fahrbahn. Hinter ihr noch mehr quietschende Reifen und hektisches Hupen.

»Ist ja gut, Blödmann«, fauchte Nancy, der der Schre­cken durch den Körper gefahren war. Sie beschleunigte und nach kurzer Zeit war das Hupen nicht mehr zu hören.

Ihr Vater Viktor von Westphalen hätte, wäre er Zeuge dieser Szene geworden, gesagt, dass dies ein neuerlicher Beweis für das Tourette-Syndrom sei, an dem seine Toch­ter laut einer eher fragwürdigen Diagnose des Hausarztes litt, der in einer populären Fachzeitschrift darüber gelesen, aber noch nie mit einem Tourette-Patienten zu tun hatte. Und ihre Mutter Auguste von Westphalen hätte gesagt, Nancy müsse unbedingt zu einem Analytiker, damit der das wegmachte, denn »Scheiße« und »Blödmann« gehörten nicht zum Wortschatz der Familie und standen seit jeher auf die Liste der verbotenen Wörter.

»War ganz schön knapp«, sagte Nancy und atmete tief durch.

»Hätte fast geknallt«, sagte Sid. Er krallte sich im Sitzpolster fest und stemmte seine Beine in den Fußraum, als wollte er das Bodenblech durchdrücken, denn Nancy beschleunigte und jagte den Motor hoch, bevor sie abrupt in den nächsten Gang schaltete. Sie saß auf einem Kissen. Unnötigerweise, denn der Citroën hatte einen in der Höhe verstellbaren Sitz. Ihre Hände hielten das Steuer umklammert wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Immer wieder sah sie in den Rückspiegel und grummelte etwas, das sich wie »Arschgeigen« und »Armleuchter« anhörte, ebenfalls Wörter, mit denen man sich im Haushalt der Westphalens besser nicht erwischen ließ.

Sid sah verstohlen zur Seite und registrierte leicht hervortretende Backenknochen, schwarzes, zerzaustes Haar. Schmale, rotglänzende, trotzige Lippen, grüne Augen, eine griechische Nase. Sie trug ein über die rechte Schulter gerutschtes weißes T-Shirt und eine schwarz-weiß längs gestreifte Sommerhose mit Schlag.

»Wo willst du hin?«, fragte Nancy schließlich, nachdem sie auf die Autobahn gefahren war und die Anspannung langsam von ihr abfiel.

Sid wusste es nicht.

»Keine Idee?« Nancy warf ihm einen Blick zu. »Vielleicht Süden?«

»Süden ist nicht schlecht«, hörte Sid sich antworten.

»Oder Westen?«

»Frankfurt? Auch nicht schlecht. Hauptsache weg von hier.«

»Kein bestimmtes Ziel?«, fragte Nancy.

»Nein«, sagte Sid.

»Kein Traum?«

»Traum?«

»Einen Ort, wo du schon immer mal hin wolltest?«

Doch, den gab es. Das Mekka eines jeden Punk, den magischen Ort, wo die Clash, die Sex Pistols und die ganzen anderen Bands ihre ersten Auftritte gehabt hatten. 100 Club, World’s End, King’s Road, SEX, der Laden, in dem Sid und Johnny und Siouxsie und Catwoman immer rumhingen. Aber London lag in einer anderen Galaxie. Es war kein realer Ort, keine Stadt, sondern eine Sehnsucht, von der Sid niemals glaubte, dass sie sich erfüllen könnte. Wie sollte er der Insektenbrille vermitteln, was er meinte, fühlte, was das alles für ihn bedeutete, wusste er doch selbst nicht, wie er das alles in Worte hätte fassen können. In diesem Augenblick aber war Sid auch jede andere Stadt recht.

»Also. Du kannst dir was aussuchen. Wohin soll’n wir fahren?«, fragte Nancy, als von Sid keine Antwort kam. »Ist ein Angebot.«

»Keine Ahnung«, sagte Sid.

»Die Gegend kenn ich nicht«, sagte Nancy.

»Soll aber ganz okay dort sein«, sagte Sid.

»Bist du abgehauen?«, fragte Nancy.

»Mmh«, sagte Sid.

»Ärger zu Hause?«, fragte Nancy.

»Mmh«, sagte Sid.

»Bei mir auch.«

»Ah.«

»Wie heißt du?«, fragte Nancy.

»Sid«, sagte Sid.

»Sid? Echt jetzt?« Nancy kicherte zum ersten Mal, seit sie mit dem Citroën über den Kies auf dem Schlosshof in Richtung andere Welt gerollt war, von der sie glaubte, die Sterne würden dort heller leuchten, die Versprechungen ins Unendliche wachsen, das Leben brennen und jede Menge los sein.

»Nancy«, stellte Nancy sich vor und Sid sah sie überrascht an.

Er ließ sich von ihrem Kichern anstecken und verzog seine Lippen zu einem schmalen Lächeln. Sid überlegte, ob dieses Mädchen wirklich Nancy hieß. Vielleicht war Nancy genauso ausgedacht wie Sid. Nach einem großen Problem sah das jedoch nicht aus. Aber was war sein Problem? Das größte entfernte sich mit jedem zurückgelegten Kilometer mehr. Es hieß Willy Schlebrowski und war sein Vater.

Wie Wanda Schlebrowski darauf gekommen war, wusste Sid nicht, aber offenbar hatte sie einen Artikel über die Auswirkungen von Cannabis gelesen, wahrscheinlich in der Fernsehzeitschrift Hörzu, denn Sid hatte sie nie etwas anderes lesen sehen. Plötzlich war sie überzeugt gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er aus dem Fenster springen würde. Wanda hatte lange überlegt, worauf das mürrische Verhalten Sids in der letzten Zeit zurückzuführen war. Er machte kaum den Mund auf, nicht mal, wenn er etwas gefragt wurde, und er machte einen abwesenden Eindruck, als interessiere ihn nicht, was sie, immerhin seine Mutter, zu sagen hatte. Sie hatte gewartet, bis er von der Schule nach Hause kam, und ihn dann zur Rede gestellt.

»Ich weiß jetzt, was du hast und warum du nie den Mund aufmachst«, hatte Wanda gesagt. »Du rauchst Haschisch!«

Als Sid so unerwartet mit diesem Vorwurf konfrontiert wurde, wurde ihm auf der Stelle schlecht. Er sagte nichts, aber das machte sie nicht etwa unsicher, vielmehr schien ihr sein Schweigen den letzten Beweis für seine Schuld zu erbringen. Und als er schließlich doch noch »Wie? Haschisch? Ich?« aus sich herauspresste, eskalierte die einseitig geführte Unterhaltung mit der Drohung, sie würde alles erzählen. Und zwar Willy.

Von seinen Schultern aus begann eine Lähmung sich über seinen gesamten Körper auszubreiten. Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür ab. Es dauerte eine Weile, bis Wanda Schlebrowski aufhörte, mit der flachen Hand gegen die Tür zu schlagen und ihn anzuflehen, nicht aus dem Fenster zu springen. Sid fand die Sorge um sein Ableben etwas übertrieben, denn sie wohnten im Erdgeschoss.

Sid sah eine Katastrophe auf sich zurollen wie einen Lastwagen, bei dem die Bremsen versagen, und er hatte keine Chance auszuweichen. Sid wusste nicht, wie er noch einmal davonkommen könnte. Er fürchtete den Jähzorn seines Vaters.

Ein Gedanke nahm immer mehr Gestalt an, und der hieß Flucht. Er würde seinem Namenspatron damit keine Ehre machen, denn Sid Vicious hätte ... ja, was hätte er gemacht? Zurückgeschlagen? Vermutlich. Aber gegen einen ehemaligen Boxer mit 46 Kämpfen, die deutliche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen hatten, wäre das Harakiri gewesen, auch wenn Willy seine beste Zeit hinter sich hatte. Sid Vicious hätte die Konfrontation gesucht und das mit der Gewissheit, Hämatome und eine gebrochene Nase zu riskieren. Für ihn wären das Ehrenabzeichen gewesen.

 

Sid Schlebrowski wollte keine Ehrenabzeichen abbekommen.

Selbstmord kam noch in Frage und wäre ganz im Sinne von Sid Vicious gewesen. Auch er, der kleine Sid aus einer kleinen Stadt, hielt Selbstmord in diesem Moment für eine Lösung, mit der sich seine Probleme schlagartig erledigt hätten, aber er hatte nicht den Mut dazu. Zudem hätte er nicht gewusst, wie er sein Ableben hätte bewerkstelligen sollen, jedenfalls nicht auf die Schnelle und so völlig unvorbereitet. Er fand Selbstmord eigentlich gar nicht schlecht, denn hatte man es erst mal getan, wurde alles weitere egal. Und das hatte er sich schon häufig gewünscht. Dass alles egal wäre. Die Sechs in Latein. Die ständigen Nervereien mit Willy. Das hatte schon was. Aber so einfach war es nicht, sich aus dem Leben zu stehlen. Sid stellte sich vor, welche Überwindung ihn das kosten würde. Er müsste richtig aktiv werden. Das war ihm einfach zu anstrengend.

Sid hatte nur eine vage Vorstellung von Sid Vicious, und die bestand aus Motzen, rotzigem Verhalten, Trotz, Verweigerung, Mittelfinger, Insubordination. Insubordination gefiel Sid besonders gut, weil niemand aus seiner Schulklasse wusste, was das bedeutete, und vermutlich hätte das auch der echte Sid nicht gewusst. Der unechte Sid hatte es in einem Fremdwörterlexikon entdeckt und war ziemlich stolz auf das Wort. Das hatte er ganz für sich allein. Leider konnte er nicht so recht damit punkten, weil ihn alle verständnislos anguckten. Bewunderung und Anerkennung sahen anders aus.

Seine Insubordination drückte er auf einem T-Shirt aus, auf das er einen Spruch Calvins gekritzelt hatte: »Every day I’m forced to add another name to the list of people who piss me off.« Das T-Shirt hätte nicht lange existiert, hätte Willy Schlebrowski verstanden, was da stand, und geahnt, dass auch er auf dieser Liste stand. Aber Willy konnte kein Englisch.

Sid liebte die Sex Pistols und ihre Musik, aber mit Sid Vicious verband ihn dennoch ein eher loser Faden. Sid hörte sich jedoch besser an als Michael, wie Sid mit bürgerlichem Namen hieß und wie noch drei andere in seiner Klasse hießen, weshalb sich immer gleich vier Leute umguckten, wenn einer Michael rief. Wahrscheinlich hatten ihn seine Eltern nach dem Erzengel Michael benannt, von dem ihm noch aus Kindertagen ein Kirchenbild ins Gedächtnis eingebrannt war, wie er in glanzvoller Rüstung über einem dunkelhäutigen, nackten Luzifer das Schwert erhebt, um ihn in den Abgrund der Hölle und der Verderbnis zu stürzen. Ein Racheengel. Ein Racheengel auf der Flucht. Warum nicht?, dachte Sid. Hatten ihn seine nächtlichen Wanderungen, wenn er verzweifelt war und Willy wieder fürchterlich genervt hatte, nicht immer zum Bahnhof geführt, wo er den Zügen hinterhersah, die aus der Stadt fuhren, irgendwohin, nur raus aus diesem Tal der Blöden?

Und jetzt? Die ungewisse Zukunft bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Irgendetwas würde sich schon ergeben und dann würde er weitersehen.

Die Sonne streichelte über sein Gesicht, die Bäume strichen wie Phantome an ihm vorüber und gaben immer wieder die Sicht frei auf träge Felsen und Dörfer, die völlig verlassen schienen wie nach einer Atombombe. Alles verstrahlt. Sid fühlte sich wohl und die stoßgedämpfte Atmosphäre des Citroën machte ihn leicht schläfrig.

»Wir müssen mal kurz tanken«, sagte Nancy.

Sid warf einen fragenden Blick auf die große Sonnenbrille.

»Wir haben kein Benzin mehr«, präzisierte Nancy.

»Oh«, sagte Sid.

An der nächsten Autobahntankstelle war viel Betrieb. Sie reihten sich in der Schlange ein, die am weitesten vom Kassenhäuschen entfernt war. Als sie schließlich dran waren, stand ein R4 an der vorderen Zapfsäule.

»Lass dir Zeit mit dem Tanken«, sagte Nancy.

»Wo ist denn der Tank?«, sagte Sid.

»Irgendwo hinten«, sagte Nancy.

Na toll, dachte Sid. Er stieg aus, ging um den Citroën herum und starrte das Auto an, als wolle er es mit seinem Blick dazu bringen, das Geheimnis preiszugeben. Sid hatte noch nie getankt. Bei dem Käfer, den seine Eltern in den noch guten Zeiten gefahren hatten, musste man vorne die Haube aufmachen. Aber nachdem seine Mutter einmal als Geisterfahrerin auffällig geworden war, war das Auto wieder abgeschafft worden, weil man ihr den Führerschein abgenommen hatte, und Willy hatte nie einen gehabt.

»Ich hab noch nie getankt«, sagte Sid.

Nancy kicherte. Dann stieg sie aus, sagte »Mannomann« und zeigte Sid den Tankdeckel. Nancy hasste den Geruch von Benzin an ihren Händen. Der ging so schlecht wieder weg und stieg einem ständig in die Nase.

Da Sid nicht wusste, woran sich erkennen ließ, wann der Tank voll war, drückte er nur sehr zaghaft auf den Abzug des Stutzens, weil er befürchtete, das Benzin würde irgendwann rausschwappen. Der R4 vor ihnen fuhr los und Sid mühte sich immer noch ab.

»Fertig?«

»Wieviel passt denn in den Tank?«, fragte Sid zurück.

»Keine Ahnung«, sagte Nancy.

Hinter ihnen guckte Josef Greindl Sid in einer Mischung aus Ungläubigkeit und Aggression zu. Greindl war BMW-Fahrer aus Überzeugung, rüstiger Rentner und schlecht gelaunt. Ihm gefiel das Auto nicht, ihm gefiel der Junge nicht, ihm gefiel die Lederjacke nicht, die er anhatte, und ihm gefiel nicht, dass der Junge sich alle Zeit ließ, als würden nicht zehn weitere Autofahrer hinter ihm warten.

Er hupte.

Nancy trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.

Ein Mann von der Tankstelle tauchte auf. Er hatte einen blauen Overall an und ölverschmierte Hände und hieß Herbert Busche. Er beachtete Sid gar nicht, sondern fragte Greindl, ob er ihm die Windschutzscheibe putzen solle. Als Servicekraft war das sein Job. Er hoffte auf ein paar Groschen Trinkgeld. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, wobei ein anderer Zeitpunkt vermutlich auch nicht günstiger gewesen wäre. Herbert Busche bekam einige sehr unfreundliche Worte zu hören mit dem verbissenen Hin­weis, sich lieber um eine zügige Abfertigung zu küm­mern. Der Tankstellenmann wandte sich ab. Arschloch, dachte er.

Sid erinnerte ihn an seinen eigenen Sohn. Linkisch und bleich. Er hatte sich auf der Autobahn, nicht weit von der Tankstelle, überschlagen. Sein Sohn war tot und das Auto hatte einen Totalschaden. Ein BMW-Fahrer war in den Unfall verwickelt gewesen, jedenfalls gab es einen Zeugen, der gesehen haben wollte, wie der BMW sehr dicht aufgefahren war, bevor sein Sohn die Kontrolle über das Auto verloren und sich überschlagen hatte. Vom BMW-Fahrer gab es keine Spur und niemand hatte sich das Kennzeichen gemerkt, weshalb der Unfall als selbstverschuldet abgelegt wurde. Jedesmal, wenn die Erinnerung an seinen Sohn zurückkehrte, krampfte sich sein Herz zusammen, obwohl seit dem Unfall mehr als zehn Jahre vergangen waren. Er mochte diesen dünnen unbeholfenen Jungen, trotz der Lederjacke mit den Nieten, deren praktischer Nutzen ihm Rätsel aufgaben.

»Kannst du mir verraten, was du da treibst?«, fragte Herbert Busche leicht amüsiert, und als Sid ihn verstört ansah: »Voll?«

Sid nickte. Der Mann nahm ihm den Stutzen aus der Hand. Woher er komme und wohin es ginge, wollte Herbert Busche wissen. Freundlich und beiläufig. Sid war nicht in der Stimmung, Konversation zu betreiben. Das war er sowieso nicht sehr oft. Nicht mit älteren Leuten. Ihnen gegenüber empfand er immer eine Mischung aus Misstrauen und einem »Was will der denn von mir?«-Gefühl. Besser, mit denen nichts zu tun zu haben.

»Zahlen kannst du da drüben, mein Junge«, sagte Herbert Busche schließlich und hängte den Zapfhahn an die Säule. »Du kannst doch zahlen, oder?« Busche lachte, klopfte Sid väterlich auf die Schulter und sagte »kleiner Scherz«. Er wandte sich ab und erblickte einen silbernen Mercedes und einen silbernen älteren Herrn, der nach Trinkgeld aussah.

»Neununddreißigachtzig«, sagte Sid und beugte sich zur Autotür hinunter.

»Kann schon sein«, sagte Nancy. »Steig ein.«

Kaum saß Sid im Auto fuhr sie auch schon los. Josef Greindl hatte seinen rechten Arm auf das Dach und seinen linken auf die offenstehende Tür gelegt und sah den beiden nach. Dann sah er zum Tankwart. Er rief ihm etwas zu. Busche blickte hoch und dann in die Richtung, in die Greindl ihm Zeichen machte. Der Citroën fuhr da bereits auf die Autobahn. Herbert Busche stand einfach nur da und sah dem, sich in den Verkehrsstrom einfädelnden Citroën hinterher. Auch als der Citroën schon nicht mehr zu sehen war, starrte Herbert Busche in die Ferne, unbeweglich wie eine Statue. Josef Greindl setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.

Herbert Busche lief eilig zum Kassenhäus­chen und meldete seinem Chef, dass ein beiger BMW mit dem Kennzeichen SAN-JG 1929 mit einer vollen Tankfüllung gerade die Raststätte verlassen hätte, ohne zu zahlen. Der Chef griff nach dem Telefon, um die Polizei zu verständigen.

Herbert Busche fühlte sich gut wie seit Jahren nicht mehr. Leicht und beschwingt schwebte er von Auto zu Auto wie eine Biene von Blume zu Blume. Noch nie hatte er so viel Trinkgeld an einem Tag bekommen.

Josef Greindl hingegen verstand die Welt nicht mehr, als er, den Citroën bereits in Sichtweite, von einem Polizeiauto mit Blaulicht, Sirene und Polizeikelle gezwungen wurde, an den Seitenstreifen zu fahren und anzuhalten.

Als Nancy das im Rückspiegel sah, schlug sie ausgelassen auf das Lenkrad und lachte hysterisch: »Die haben den Scheiß-BMW aus dem Verkehr gezogen. Ich fass es nicht.« Und dann schmetterte sie so laut sie konnte: »We are the cham­pions!«

2

Es war Sids erste illegale Handlung. Auch wenn er von Nancy nicht in ihren Plan eingeweiht worden war, so hatten sie zusammen doch eine Grenze überschritten. Sie waren Gesetzlose. Diese Tat machte ihn zu Nancys Kom­plizen. Unwiederbringlich. So schien es ihm. Sie war ihm nicht mehr fremd. Jedenfalls nicht mehr sehr. Er sah sie mit anderen Augen. Er bewunderte sie für diese Aktion. Dass sie fast schiefgegangen wäre, kümmerte ihn nicht.

Immer wieder lachten sie über die Polizei, die das falsche Auto angehalten hatte, und es war ein befreites Lachen, weil sie wussten, dass sie es einem verrückten Zufall zu verdanken hatten, der sie hatte davonkommen lassen, während Sids Schutzengel auf der Rückbank saß und dachte: Wenn ihr wüsstet! Es hatte ihm eine tiefe Befriedigung verschafft, Herbert Busche ein wenig fernzulenken, und er freute sich darüber, dass es so großartig geklappt hatte. Schließlich konnte er die Geschichte jetzt noch nicht zu Ende gehen lassen. Sie hatte ja gerade mal erst angefangen.

Nancy hatte, kaum war das Sirenengeheul verklungen, bereits vergessen, wie Sid sie auf der Tankstelle dazu gebracht hatte, auf dem Sitz immer tiefer zu rutschen, wie sie ihn als »Volltrottel« verflucht hatte. Nicht zu wissen, wie man tankt, musste man ja auch erst mal schaffen. Und jetzt? Jetzt sah sie das schmale Lächeln in seinen feinen Gesichtszügen, seine großen Augen, die verwirrt und un­sicher in die Welt guckten, und seine langen Wimpern und verspürte das dringende Bedürfnis, von sich zu erzählen.

Wie sie darauf kam, fragte sich Nancy nicht. Vielleicht wollte sie interessant für Sid erscheinen. Vielleicht erschien ihr die Aussicht, die nächsten Stunden schweigend nebeneinander zu sitzen, nicht sonderlich attraktiv. Außerdem hatte sie schon immer gern erzählt. Vor allem, wenn es um sie selbst ging. Also erzählte sie, wie sie als Sechsjährige den Hasen geben musste, der von den Hunden und der Jagdgesellschaft ihres Vaters aufgescheucht und durch das Gebüsch getrieben wurde. Das war aufregend. Sie dramatisierte die Ereignisse im Nachhinein etwas, um Sid zu beeindrucken, aber auch weil sie diesen Vorgang im Abstand von zehn Jahren tatsächlich etwas erniedrigend fand. Damals jedoch fand sie die Sache nicht schlimm. Es war ein Spiel, bei dem sie der Ehrgeiz packte. Aber weil sie immer verlor, hatte sie bald keine Lust mehr.

Einmal war sie schnell auf einen Baum geklettert, während die Jagdhunde unten kläfften. Sie streckte ihnen die Zunge raus. Gewonnen, dachte sie. Aber in diesem Moment legte ihr Vater das Gewehr an und machte »piffpaff«.

»Das giltet nicht«, rief sie aufgebracht vom Baum herunter, aber Viktor von Westphalen lachte nur. Und je mehr er lachte, desto wütender wurde sie.

Natürlich war sie nicht dazu gezwungen worden. Sie wurde dafür sogar bezahlt. Das Geld trug sie in die Eisdiele, in die sie ihren damaligen Lieblingsbruder Harry einlud.

 

Und sie erzählte, wie sie schon mit zwölf zum ersten Mal abgehauen war. Zusammen mit ihrem dreijährigen Bruder Hardy. Drei Wochen waren sie unterwegs. Bis nach Madrid hatten sie es geschafft. Aber dann machte sie den Fehler, ihrer Mutter Auguste eine Ansichtskarte zu schicken. Das stand damals sogar in der Zeitung.

Im Ton einer Nachrichtenfrau sprach Nancy die Kurzmeldung, die sie auswendig konnte. Durch sie hatte die Außenwelt zum ersten Mal von ihr Kenntnis erlangt:

Eine zwölfjährige Schülerin aus dem nordbayerischen Eibelsdorf, die mit ihrem dreieinhalbjährigen Bruder von zu Hause ausgerissen war, hält sich offenbar in Spanien auf. Die Mutter erhielt jetzt eine in Madrid abgestempelte Ansichtskarte. Darin beschrieb die von unstillbarer Reiselust besessene Zwölf­jährige, sie sei endlich dort, wo sie hingehöre. Es gehe ihr gut, auch ihr Bruder habe kein Heimweh.

»Na? Nicht schlecht, oder?« Nancy sah Sid herausfordernd an.

»Abgefahren«, sagte Sid. »Wie hast du das gemacht?«

»Also, wir haben ja nur in den Grandhotels übernachtet«, sagte Nancy einen schnöselig-angeberischen Ton nachahmend und hob ihre Nase, um Sid wie von oben herab ansehen zu können. »Ich war echt gut.« Nancy senkte das Kinn und sprach mit einer rauhen, tiefen Stimme, die sich nicht sehr überzeugend anhörte: »Hallo, hier spricht Hermine von Hasselroth. Haben Sie ein Zimmer frei? Ich befinde mich in einer misslichen Lage. Unfall. Leider. Beinbruch. Ich liege im Krankenhaus. Morgen schon werde ich operiert. Aber meine zwölfjährige Tochter und mein dreijähriger Junge brauchen eine Unterkunft. Würden Sie die beiden bitte bei sich aufnehmen? Ich würde mich dafür auch erkenntlich zeigen. In spätestens einer Woche werde ich entlassen.«

»Und das hat geklappt?«, fragte Sid.

»Natürlich hat das geklappt«, sagte Nancy, obwohl es nicht immer geklappt hatte.

Manchmal hatte sie auch erzählt, dass ihre Eltern überfallen worden oder in einer geheimen Mission unterwegs seien. Rief sie ein Hotel an, legte sie wie in den Kriminalfilmen ein Taschentuch auf die Sprechmuschel. Nahmen nach ein paar Tagen die Fragen nach ihren Eltern überhand, suchte sie das nächste Hotel auf und umgarnte das Personal, das Mitgefühl für ihre missliche Situation hatte. Manchmal ging es allerdings auch schief. Dann verbrachten die beiden die Nacht auf einer Parkbank oder auf dem Friedhof. Aber das war gefährlich.

Nach ein paar Wochen gab sie ein Lebenszeichen von sich. Eine Postkarte mit dem Prado drauf. Sie war mit fünf Jahren gegen ihren Willen durch den Prado gezerrt worden. Bei dem Aufwand, den ihre Mutter damals betrieben hatte, um ihr großes Kulturgut nahezubringen, würde sie sich bestimmt freuen, dachte sie, auch wenn sie von den üppigen, sich räkelnden Damen in Öl und mit wenig oder nichts an etwas gelangweilt war. Das einzige Bild, das sie beeindruckt hatte und an das sie sich noch erinnern konnte war »Saturn verschlingt eines seiner Kinder«. Endlich mal ein gefährliches Bild von einem Monster.

»Wieso war die Postkarte ein Fehler?«, fragte Sid.

»Weil meine Eltern einen so verdammt langen Arm haben«, sagte Nancy verschwörerisch.

»Einen langen Arm?«

»Ich weiß bis heute nicht, wie die das gemacht haben, aber als ich im Corte Inglés aufgetaucht bin, warteten da schon drei Männer und haben uns mit auf die Botschaft genommen. Und einen Tag später holten uns dann meine Eltern ab«, sagte Nancy.

»Corte Inglés?«, fragte Sid.

»Na, das Kaufhaus in Madrid«, sagte Nancy, die nicht verstand, wie man das nicht kennen konnte.

Was Nancy nicht wusste: Als Auguste von Westphalen die Postkarte aus Madrid erhalten hatte, telefonierte sie mit dem deutschen Botschafter in der spanischen Hauptstadt, Ernst-Otto von Hohenstein. Ein Verehrer von ihr aus früheren Tagen, den sie auf der Hochzeit von Fürst Rainier und Grace Kelly in Monaco kennengelernt hatte, auf die sie zusammen mit ihren Eltern eingeladen worden war. Ohne ihren Mann, der nur Landadel war. Ihr Vater hatte bei dieser Gelegenheit versucht, ihr wieder zu zeigen, welch glänzende Zukunft ihr entgangen war, als sie Viktor von Westphalen geheiratet hatte.

Ernst-Otto von Hohenstein hatte sie unter Alkoholeinfluss zu sich ins Hotel eingeladen, vielleicht sogar ein bisschen verschleppt. Sie hatte nichts dagegen und sich nur der Form halber gewehrt. Hohenstein hatte ihr anschließend den Hof gemacht, aber Auguste war der Seitensprung nicht angemessen erschienen. Sie hatte ansonsten moralisch einwandfreie Vorstellungen von den Werten einer Familie. Und die erlaubten es ihr nicht, auch wenn sie das sehr bedauerte, sich Ernst-Otto von Hohenstein weiter hinzugeben, einem höchst ansehnlichen Mann, der vor allem in Uniform ausgesprochen attraktiv aussah, fast so wie zu k.u.k.-Zeiten, für die sie eine Schwäche hatte.

Ernst-Otto von Hohenstein verwand die Zurückweisung nie. Die Liebe, die er für Auguste empfand, wurde platonisch. Aus verzehrender Leidenschaft wurde Anbetung. Selbst nach dieser langen Zeit, die dieser Vorfall nun schon zurücklag, glühte noch eine gewisse Verehrung, und er bot Madame Auguste von Westphalen, geborene von Ledebur-Hellbach, hocherfreut an, über ihn doch bitte »vollkommen zu verfügen«. Er versprach ihr, seine Kontakte zur spanischen Polizeipräfektur spielen zu lassen.

Auguste von Westphalens Hauptbeschäftigung war es zwar, sich Sorgen zu machen, aber sie ging auch leidenschaftlich gerne einkaufen. In Paris. Oder London. Oder Mailand. Auch im Corte Inglés in Madrid war sie während eines Sommerurlaubs mit ihrer Tochter, die sie auf ihren Expeditionen häufig mitnahm. Bereits mit zwölf kannte sich Nancy in den Nobelkaufhäusern und mit Labels aus. Auguste von Westphalen hatte ihre Tochter infiziert. Dennoch war es nur eine vage Hoffnung, aber was sollte ihre Tochter sonst in Madrid tun?, fragte sie sich. Sie bat Ernst-Otto von Hohenstein, sich doch mal ein wenig im Corte Inglés umzusehen. Er stellte drei Mitarbeiter der Botschaft ab, die sich in der Mode­abteilung für junge Frauen auf die Lauer legten. Und sie mussten nicht lange warten. Nicht mal einen Tag, wie einer der Botschaftsangestellten Nancy fröhlich mitteilte.

Sid war zwar noch nie abgehauen, schon gar nicht ins Ausland, und er hatte auch keinen Vater, der mit dem Gewehr auf ihn zielte, aber dafür einen, der ihn mit Boxhandschuhen in sein Metier einweihen wollte. Und bei jedem Treffer, den Willy Schlebrowski am Kopf seines zehnjährigen Jungen landete, sagte er »Hände hoch! Wann zum Teufel begreifst du das endlich!« Aber Sid begriff es nie, weil Willy einen Schlag in den Magen vortäuschte, um Sid in dem Moment, in dem er seine Deckung aufgab, mit der Rechten einen Schlag auf dem Kopf zu verpassen.

Sid hasste das. Und er hasste seinen Vater. Er hielt trotzdem dicht. Nicht weil er seinen Vater schützen wollte, sondern weil es niemanden etwas anging. Und als er einmal eine Beule davongetragen hatte, wäre es noch idiotischer gewesen, es zu erzählen, weil er dann erst rich­tigen Ärger bekommen hätte, wenn es sich bis zu seinem Vater herumgesprochen hätte. Doch jetzt schienen diese bedrückenden Erinnerungen ihre Macht über ihn zu verlieren. Es kam ihm vor, als stammten seine Erzählungen aus einem Leben, das plötzlich weit weg war und jede Bedrohlichkeit verloren hatte.

»Erinnert mich irgendwie an Charles Dickens«, sagte Nancy.

Sid wusste nicht, wer Charles Dickens war, aber er mochte es nicht, dass jemand angeblich auch so was erlebt hatte. Er erzählte daraufhin eine kleine Episode, die Charles Dickens bestimmt nicht zu bieten hatte, nämlich wie Wanda sich einmal zwischen Willy und Sid geworfen und einen Volltreffer abbekommen hatte, der eigentlich für Sid bestimmt war. Einen klassischen Kinnhaken. Und wie Wanda zu Boden gegangen war und Willy bis zehn gezählt hatte, bevor er seiner halb bewusstlosen Frau auf die Beine half und sich dabei selbst kaum auf den Beinen halten konnte.