Meditation heilt

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Meditation heilt
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Katrin Jonas

Meditation heilt


KATRIN JONAS

Meditation

heilt

Schmerzfrei in ein neues Leben

Mit Übungsanleitungen

und praktischen Tipps


Alle Angaben in diesem Buch wurden sorgfältig geprüft und entsprechen nach bestem Wissen dem gegenwärtigen Stand der Forschung. Bevor es zur Selbstbehandlung oder Anwendung von Übungen kommt, sollte geklärt sein, dass vorliegende Beschwerden nicht Symptome von Krankheiten sind, die dringender ärztlicher Behandlung bedürfen. Die in diesem Buch vorgestellten Übungen ersetzen keine medizinische oder psychologische Hilfe. Den Erfolg oder die korrekte Umsetzung der Anwendungen kann die Autorin nicht gewährleisten.

Verlag Via Nova, Alte Landstr. 12, 36100 Petersberg

Telefon: (06 61) 6 29 73

Fax: (06 61) 96 79 560

E-Mail: info@verlag-vianova.de

Internet: www.verlag-vianova.de

Umschlag: Guter Punkt, München

Satz: Sebastian Carl, Amerang

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

© Alle Rechte vorbehalten

Print: 978-3-86616-392-8

ePub: 978-3-86616-412-3

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Kapitel 1: Schmerzverarbeitung im Neuronendschungel des Gehirns

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

Individualität im Schmerzgeschehen

Schmerztherapie

Schmerz, das Lieblingskind der Pharmazie

Im Licht des Zen: Vom „Glas“ zum „See“

2. Kapitel: Meditation und die innere Mitte

Meditieren vs. Meditation

Der Schmerz-Mind

Bewegung im Gehirn

Das Meditationsduett

3. Kapitel: Bewusstheitspraxis bei Schmerz:Das meditative Warm-up

Der innere „Anker Achtsamkeit“

Wenn Selbstreflexion greift

Bewusste Entspannung

Bewusstheit durch Berührung

Achtsamkeit in Wellness und Therapie

4. Kapitel: Bewegungsmeditationen und Schmerz

Meditative Effekte

Aktives Meditieren bei Schmerz

Der Aus-der-Bewegung-heraus-Ansatz

Der In-die-Bewegung-hinein-Ansatz

Der Schritt-für-Schritt-Ansatz

5. Kapitel: Innenschau in Stille

Passives Meditieren bei Schmerz

Stille Meditationstechniken

Meditieren gegen den Schmerz?

Sinnesbetonte Meditationen

Nachwort

Literaturverzeichnis

Danksagung

Einleitung

Das Leben in unserer heutigen Welt scheint eine schmerzhafte Angelegenheit zu sein, denn nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation klagen ganze zwanzig Prozent der Erdbevölkerung über chronischen Schmerz. In Deutschland spricht man von zwölf bis fünfzehn Millionen Betroffenen, dazu kommen Menschen, die von der Statistik unerfasst bleiben, weil sie sich selbst verarzten, durchhalten oder privat zahlen. Rund eine Million von ihnen gelten als therapieresistent. Weise Sätze wie „Versuchen Sie, damit zu leben“ oder „Lernen Sie, damit umzugehen“ sind mittlerweile gängig. Schmerzbewältigung wird der therapeutisch zu beschreitende Weg genannt.

Dass dieser kein Spaziergang ist, weiß ich aus meiner Arbeit mit unzähligen Klienten, deren Körper in einer Dauerrevolte steckt. Bei vielen rumort er seit Jahren, er schmerzt und sticht und stellt sich quer. Meine Arbeit überschreibe ich mit dem Begriff „BodyWareness“, dessen Wurzel in „Körperbewusstheit“ liegt. Achtsamkeit gegenüber dem Körper entwickele ich mit Schmerzgeplagten zuallererst. Es ist der Blick nach innen, aus dem die Chance auf Schmerzfreiheit erwächst.

Dieses Vorgehen passt zu der Tatsache, dass die Bereiche der Innenschau, der Applikation von Achtsamkeit und meditativer Wachheit momentan zu den Topthemen der Schmerzintervention zählen. Und sogar die Wissenschaft nickt. Neuroexperten beraten auf Kongressen, was den Wert von Meditation für unsere Gesundheit ausmacht. Studien zu den positiven Effekten von Achtsamkeit im Hinblick auf chronische Beschwerden bereiten den Rückenwind dafür, dass Meditationspraxis auch in medizinischen Einrichtungen salonfähig wird. Endlich haben wir schwarz auf weiß, was die Pioniere der Hirnforschung bereits seit mehr als fünf Jahrzehnten wissen: Das Gehirn als Chefdirigent des psychophysischen Orchesters „Mensch“ verfügt über grenzenlose Potenziale, seine Arbeitsweise zu revidieren und in Wohlbefinden zu übersetzen. Und Meditation ist der Motor dazu.

Doch es gibt ein Aber. Meditation als Schmerzmittel zu verabreichen, ist ein zweischneidiges Schwert. Wieder sehe ich meine Klienten vor mir. Ich höre ihre Worte, ich verstehe ihre Zweifel und sehe ihren inneren Zwist. Viele sind von Pontius zu Pilatus gereist, haben den diagnostischen Marathon durchlaufen und das Feld der Privatkuren durchkämmt. Ihre Körper sind müde, der Schmerz okkupiert ihre Wahrnehmung, ihr Gefühl für sich selbst ist massiv reduziert. „Da ist nichts anderes als Schmerz“, fasst Nadine nach zwölf Jahren Migräne zusammen. „Der Schmerz regiert mich. Anderes hat daneben keinen Platz.“

Genau hier entbrennt der Konflikt. Für Schmerzerfahrene ist es auf den ersten Blick nicht naheliegend, sich der Meditation zu nähern, wenn sich der Körper wehrt. Wer Schmerzen hat, zuckt schon bei der Vorstellung zusammen, mit überkreuzten Beinen regungslos zu verharren und frei von Gedanken zu sein. Und das mit Recht, denn sobald Schmerzerfahrene sich zur Ruhe setzen, nehmen die Beschwerden nicht automatisch ab, sondern oftmals sogar zu und mitunter unerträgliche Maße an.

Wenn wir die Brücke vom Schmerz zu Meditation schlagen wollen, müssen wir genauer hinsehen, wo ein Link besteht und wie wir diesen nutzen können. Bevor wir auf den Wagen der Fast-Food-Meditation, von „McMindfulness“ und „YoutubeMed“ aufspringen, sollten wir begreifen, welche Mechanismen Dauerschmerz innewohnen und was es genau ist, das ihn beim Meditieren zur Umkehr bewegt.

Deshalb lade ich Sie ein, mich auf dem Weg durch das komplexe Thema „Meditation“ zu begleiten und praktische Erfahrungen zu sammeln. Während ich Ihnen im ersten Kapitel aufzeige, wo die Knackpunkte in der konventionellen Schmerztherapie liegen und wo sich folglich der Einflussbereich von Meditation aufspannen kann, erkläre ich Ihnen im zweiten Kapitel, warum der menschliche „Mind“ als der Produzent nervaler Reaktionen sowohl in der Schmerzintervention als auch in der Meditationspraxis die Hauptrolle spielen muss. In Kapitel drei werden Sie konkrete Hinweise dazu erhalten, wie Sie Ihr „meditatives Warm-up“ gestalten und wie Sie Achtsamkeit schrittweise in Ihr tägliches Leben integrieren können. Währenddessen arbeiten Sie bereits Ihre persönlichen Präferenzen heraus, sodass Sie gut vorbereitet sind, wenn ich Ihnen die Vorteile bewegungsorientierter Meditationsmethoden aufzeige. Auch hier dürfen Sie augenblicklich in die Meditationspraxis eintauchen und erfahren, worin der Unterschied zum konventionellen stillen Meditieren besteht. Ausgewählte passive Meditationstechniken stehen im fünften Kapitel im Mittelpunkt. Praktische Tools helfen Ihnen auch hier beim Sammeln neuer Erfahrungen, sodass Ihnen die Einkehr nach innen problemlos gelingt.

Nach diesem Exkurs in die Innenwelt Ihres Organismus verfügen Sie über vielfältige Erfahrungen mit verschiedenartigsten Meditationsformen. Mittlerweile zum „Meditationsexperten“ avanciert, können Sie außerdem auf ungezählte Tipps und Tricks zurückgreifen, mit denen Meditationspraxis vor dem Hintergrund von Schmerzen funktioniert.

Ein wasserdichtes Versprechen auf Schmerzfreiheit kann ich Ihnen nicht geben, aber viele praktische Erfahrungen, körpernahe Alternativen und vielleicht den alles revidierenden Moment, einen Moment, der Ihr Empfinden verändert, einen, durch den sich ihr Leben dreht.

 

KAPITEL 1

Schmerzverarbeitung im Neuronendschungel des Gehirns

Schmerz ist nicht gleich Schmerz

Schmerz-Prolog

Dauerschmerz ist wie ein Stachel, der im Körper sitzt. Ob Empfinden, Aufmerksamkeit, Bewegung, Antrieb, Vitalität, Schlaf oder Sex, es scheint, als durchbohre er alles, die gesamte Erfahrungswelt als Mensch. Mir fallen nicht viele vergleichbare Umstände ein, die das Lebensgefühl schwerer belasten als manifestierter Schmerz.

Ihn als Dauergast im Körper zu begrüßen, ihn zu bewältigen oder ihn sogar zu akzeptieren, wie es im Therapiedeutsch heißt, kommt einem am leichtesten über die Lippen, wenn man ihn nicht hat. In der Realität verhält es sich nämlich vollkommen anders, da ist Schmerzbewältigung salopper gesagt als praktisch getan.

Damit wir verstehen, wo das praktische Wirkungsfeld von Meditation im Schmerzgeschehen liegt, müssen wir beide Bereiche in ihrer Essenz begreifen. Schauen wir zunächst einigen schmerzhaften Tatsachen ins Auge, die für die Kopplung dieser beiden Mammutgebiete bedeutsam sind.

Meditation und Schmerz – zwei spannende Themen, die ich mit Fakten, Fragen und jeder Menge praktischer Tipps in ein neues Licht setzen möchte.

Akutes und Chronisches

Wenn von chronischen Schmerzen die Rede ist, gibt es also auch andere, ja, akute. Was wiederum heißt, dass die chronischen da anfangen, wo die akuten aufhören.

Ein akuter Schmerz ist einer, der durch eine Gewebeschädigung oder Funktionsstörung im Körper entsteht. Unsere Sensoren für Schmerz, die Nozizeptoren, nehmen diese auf und leiten sie übers Rückenmark weiter zum Gehirn. Doch ganz gleich, ob es sich um Geburts-, Hals-, Zahn-, Menstruationsschmerz oder eine Nierenkolik dreht, dieses lebenserhaltende Es-tut-weh-Signal verstummt wieder, sobald der auslösende Reiz beseitigt, die Schädigung des Gewebes geheilt ist. Wer keine einschlägigen Erfahrungen damit hat, kennt zumindest die Kurzversion: Beim Rasieren schneiden Sie sich ins Kinn oder beim Brotschneiden in den Finger: Pflaster drauf, Schnitt geschlossen, Schmerz ade. Oder: schmerzender Zahn raus, Füllung rein, Problem behoben. Muskelkater: Milchsäure im Muskel weg, Stoffwechsel normal, das Ziehen vergeht und so weiter. Aber bereits an der Schnittstelle: „OP-Narbe geschlossen, Schmerz vorbei“ beginnt nicht selten das Dilemma, denn viele OP-Narben heilen nicht wie erhofft. Einige bleiben auf Dauer überempfindlich und sind Urheber energetischer Blockaden sowie bleibender muskulärer Dysbalance. Die Folge: Dauerspannung in den Muskeln, eingeschränkte inter- und intramuskuläre Funktion, und schließlich Schmerz, der zum Reaktionsmuster wird.

Schmerzkrankheit

Als chronischen Schmerz bezeichnet man dann genau jenen, der bleibt, und zwar länger als drei Monate, und auf eingeleitete Intervention zögerlich oder gar nicht reagiert. Mit zunehmender Zeit spricht man in der allopathischen Medizin von einem Schmerzsyndrom und sieht das Geschehen als eigenständiges Krankheitsbild an. Diagnose: Schmerzkrankheit. Der Betroffene erfährt von diesem Namen zumeist nichts. Er hört von seinem Arzt Begriffe wie Chronisches Lumbalsyndrom, Carpaltunnelsyndrom, Schulter-Arm-Syndrom, Rezidivierende Ischialgie, Frozen Shoulder, Tennisellbogen, Impinchment-Syndrom, Fibromyalgie, Trigeminusneuralgie, Arthrose, Chronische Polyarthritis und Co. Während ein Syndrom eigentlich nur ein allgemeines Beschwerdebild beschreibt, ist bei einer „Algie“ Schmerz im Spiel. „Algie“ heißt, es tut etwas weh. Und damit beginnt dann meistens der Konflikt. Warum reagiert er nicht, der Schmerz? Oder: Was ist der Grund dafür, dass er bleibt?

Schmerzgedächtnis

Was im Zusammenhang mit der Chronifizierung von Schmerz lange diskutiert wurde, ist das so genannte Schmerzgedächtnis, das sich offenbar entwickelt, wenn Schmerz auf lange Zeit besteht und gegenüber heilenden Impulsen immun bleibt. Der Begriff ist unglücklich gewählt, weil Betroffene ihn mit einem profunden, wenn nicht sogar schwerwiegenden und nur langfristig zu lösenden Problem im Gehirn assoziieren. Was sich dahinter verbirgt, ist aber allein die Beobachtung, dass sich der dauerhafte Verkehr von Schmerzsignalen verselbstständigt hat und zu einer Gewohnheit der reizübertragenden Nervenzellen in Rückenmark und Gehirn geworden ist.

Konkret: Nach längerem Auftreten des schmerzauslösenden Reizes senden die Nervenzellen ununterbrochene Schmerzsignale ans Gehirn, selbst dann noch, wenn der Grund in der Peripherie des Körpers, an der Haut, im Muskel, Gelenk, Kreuzband, Organ oder Sehnenstrang, längst verschwunden ist. Man spricht von „spontanaktiven“ Zellen, deren Reaktion sich mit der Zeit nicht nur automatisiert, sondern auch an Heftigkeit und Schnelle zunimmt.

Auch wenn dieses Modell als veraltet gilt und nicht für die Erklärung jeder einzelnen Schmerzliaison taugt, kennen einige meiner Klienten dessen Wirkung im Körper ganz genau: Während der Schmerz unverändert weiter schießt, können sie mitunter sogar spüren, dass das Schmerzgebiet als solches längst nicht mehr die Wurzel allen Übels ist, sondern, wie eine Klientin es erst kürzlich beschrieb, „als eine tief sitzende Erinnerung im Gewebe“ existiert.

Schmerzverarbeitung: mysteriöser Dschungel Gehirn

Während Schmerzforscher ziemlich detailliert nachvollziehen können, auf welchem Wege Schmerzsignale aus der Peripherie des Körpers zum Gehirn gelangen, besteht weitaus weniger Klarheit darüber, was mit den Impulsen exakt passiert, nachdem sie im Netzwerkdschungel des Gehirns verschwunden sind. Deshalb bleibt das Rätsel: Wie aus dem Körper aufsteigende Impulse nach Ihrer Ankunft im Gehirn exakt gemixt und in Schmerzempfinden übersetzt werden, geschieht innerhalb eines gigantischen Netzwerks von Nervenzellen, das bis ins kleinste Detail kaum nachvollziehbar ist.

Wiederum weiß man, dass sich die Gehirnaktivität bei Menschen mit Dauerschmerz im Zuge der Schmerzverarbeitung anders gestaltet als bei Menschen ohne Schmerz. Es werden nicht nur andere Gehirnareale erregt, die normalerweise ruhig und unbeeinflusst bleiben, sondern auch anders abgerufen und unterschiedlich miteinander verknüpft.

Das Gehirn pegelt sich auf eine Art Schmerzmodus ein, dem eine hartnäckige Beständigkeit zu unterliegen scheint. Umkehrbar ist dieser nicht ohne Weiteres, oder sagen wir: zumindest nicht auf konventionellem Weg.

Schmerzamplituden

Bei aller Pein ist chronischer Schmerz bei weitem kein Einheitsphänomen. Es gibt ihn zwar wirklich, den Dauerschmerz, der permanent anwesend ist, Tag und Nacht, und keine Auszeit kennt. Das ist wohl derjenige, der am meisten den Begriff „chronisch“ verdient. Doch bleibender Schmerz muss bei Weitem keine umfassende Es-tut-immer-weh-Erfahrung sein. Es gibt auch intervallartige Schmerzen, bei denen sich extreme Schmerzschübe und schmerzfreie oder zumindest beschwerdeärmere Phasen abwechseln, und zwar in einem dubiosen Rhythmus, der genau so undurchschaubar ist wie permanenter Schmerz. Während der Körper, einschließlich Gehirn, die Fähigkeit besitzt, die Schmerzmeldung phasenweise zurückzufahren, kann er wie auf Knopfdruck von einem ins andere Szenario komplett umschalten und selbst ohne erkennbaren Grund einen Schmerzschub auslösen, der Betroffene handlungsunfähig machen kann. Symptomkomplexe wie Chronische Polyarthritis, Morbus Bechterew, Fibromyalgie oder Migräne seien hier als Beispiele genannt.

Während von Dauerschmerzen Geplagte fast neidisch auf ihre Leidensgefährten schauen, denen ja immerhin schmerzfreie Intervalle vergönnt sind, sehen das die von Schüben Betroffenen oftmals anders. Ein von Migräneanfällen oder rheumatischen Entzündungsschmerzen Attackierter kann durchaus so geruchs-, geräusch- und berührungsempfindlich sein, dass ihn die Toilettenspülung in der Nachbarwohnung stört und er sich manchmal nicht einmal mehr sicher ist, ob er überhaupt noch leben will.

Schmerz konkret

Birgit

litt früher unter Migräneattacken und sagt: „Ich hab schon auf dem Dachsims gestanden, bis mich mein Mann da runtergeholt hat. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen muss …“

Ina

ist mit chronischer Polyarthritis diagnostiziert und erklärt: „Wenn ich im Schub bin, ist mir ganz egal, was man mir gibt. Ich nehme alles, damit ich nur durchatmen und mich wieder rühren kann.“

Eric

„Es mag sich gut anhören, dass ich am Tag relativ schmerzfrei bin und nur in der Nacht mein Ischias streikt. Aber tauschen möchte mit mir keiner, weil meine Nächte die Hölle sind.“

Bei schubartigen Schmerzen scheint sich das Gehirn auf bestimmte zeitlich-rhythmische Präferenzen einzupegeln – ein Phänomen, das für Betroffene wie Behandler oft im Dunkeln bleibt.

Schmerzpunkt I

WIE Schmerzsignale verarbeitet werden und als Schmerzempfinden in die persönliche Wahrnehmung eingehen, ist bei weitem kein einheitlicher Prozess, denn Schmerz ist nicht gleich Schmerz. Und das sollte nicht überraschen, da Gehirn nicht gleich Gehirn ist und Mensch nicht gleich Mensch. Zum Verständnis von Schmerz braucht es mehr, Individualität eben, von der jeder Schmerzgeplagte profitiert.

Individualität im Schmerzgeschehen

Diagnostik versus Empfinden

Aber genau das, die individuelle Herangehensweise, beschreibt die Tatsache, die unsere medizinische Diagnostik rasend schnell an ihre Grenzen treibt. Schmerz korreliert nämlich kaum mit dem ABC geläufiger Befunderhebung. Zwischen dem sichtbaren Befund, dem dargestellten Gewebeschaden im Röntgenbild, dem MRT oder Ultraschall und dem konkret empfundenen Schmerzgrad können durchaus Welten liegen. Beispiel: „Ihre Hüfte ist gesund, Herr Meier“, so der Orthopäde. Herr Meier sieht das anders: „Aber sie tut höllisch weh.“

Und das Gegenteil gibt es auch: „Na, da kommen Sie wohl, um eine Endoprothese im Knie nicht herum, Frau Obermeier-Möllemann, eine lehrbuchreife Arthrose dritten Grades“, sagt der Arzt. Frau Obermeier-Möllemann: „Was? Immer noch? Ich bin seit einem halben Jahr nahezu schmerzfrei, spiele wieder Tennis und fühle mich fit wie selten zuvor.“

Was die Diagnostik beschwört, muss also lange nicht dem Schmerzpegel entsprechen, den der Betroffene beschreibt. Ein klassisches Beispiel aus der Schmerzpraxis: Der Mensch, der zum „Knie in Zimmer 317“ gehört, kann durchaus sehr anders fühlen.

Diagnosen im Außen

Schauen wir einmal auf das Symptomfeld der Rückenschmerzen, das im Handumdrehen aufzeigt, wie weit strukturorientierte Diagnostik und tatsächliches Befinden auseinanderliegen können.

Nicht jeder Bandscheibenvorfall beispielsweise erzeugt Dauerschmerz. Geschätzt wird, dass bei etwa achtzig Prozent der Menschen die Bandscheiben im Laufe ihres Lebens aus ihrem Platz zwischen den Wirbelkörpern herausrutschen. Aber nur ein Bruchteil der Betroffenen merkt es und ein noch geringerer Prozentsatz entwickelt daraus ein rezidivierendes oder chronisches Lumbalsyndrom, also langfristigen Schmerz.

Hat sich dieser dann manifestiert, kann er sich wiederum auf ganz unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Während der eine Schmerzgeplagte mit motorischen Ausfällen bis hin zu Lähmungen in den Beinmuskeln kämpft, klagt ein anderer über Sensibilitätsstörungen oder Wadenkrämpfe, und ein weiterer kämpft mit der Seele, weil ihm das schmerzende Kreuz die Stimmung vergällt.

Und denken wir nur an die häufig diagnostizierten Skoliosen, Seitverkrümmungen der Wirbelsäule, die oft als Verursacher von Kreuzschmerz gelten. Wenn aber jede Skoliose automatisch zu Schmerzen führen würde, hätten wir kaum noch schmerzfreie Menschen auf der Welt. Ich selbst habe eine, und dennoch weiß ich nicht, was Rückenschmerz ist. Und ich kenne Skoliotiker, denen der Rollstuhl in Aussicht gestellt wurde, doch sie bewegen sich flexibel, treiben Sport und sind von diesem weit entfernt. Andere hingegen können sich mit vergleichsweise weniger drastischem Geschehen im Rücken kaum rühren.

Schmerz konkret

Eleonore

kam mit einer Skoliose zur Welt, ihr Oberkörper war sichtbar deformiert. Als der Schmerz in der Pubertät fast unerträglich wurde, nahm Eleonore diesen in die eigene Hand und lernte Tai Qi. Die ersten Bewegungen waren die Hölle, ihr Schmerz heulte auf wie nie zuvor. Aber dann schlug er um. Eleonore erzählte mir davon etwa dreißig Jahre später. Sie hatte einen leicht deformierten Brustkorb, aber sie bewegte sich flüssig und zumeist schmerzfrei. Meditation gab sie einen festen Platz in ihrem Leben. Sie war eine selbstbewusste, schöne Frau.

 

Daniela

hatte ebenfalls sehr früh die Diagnose „Manifestierte Skoliose“ bekommen, war jedoch von einer sichtbaren Deformierung verschont geblieben. Die Röntgenbilder seien unauffällig, so die Ärzte, auf keinen Fall stünden sie in Relation zu Danielas Schmerz. Mitunter konnte sie, inzwischen vierzehn Jahre alt, nicht einmal aufstehen, und mit dem Mieder, das ihr zur Stabilisierung verordnet worden war, fühlte sie sich noch miserabler als zuvor. Mitunter verbrachte sie den Tag im Bett und weinte. Als ich sie traf, war ihr Hauptproblem nicht der Schmerz als solcher, sondern der Beweisdruck, kein Simulant zu sein. Weder Eltern, Lehrer noch Freunde glaubten ihr, wie sehr sie litt. Der Orthopäde riet zur Psychoanalyse. Sie solle nicht übertreiben, war der allgemeine Kommentar.

Es überrascht deshalb nicht, dass Wissenschaftler an einer Methode tüfteln, wie der individuelle Schmerzgrad messtechnisch erfassbar ist. Man sucht nach einem objektiven Schmerzdetektor, einer Art Schmerzscanner, um Schmerz ohne strukturell nachweisbare Zuordnung zu objektivieren und messbare Veränderungen im Schmerzverlauf sichtbar zu machen. Schmerzforscher hoffen, so das subjektive Schmerzempfinden besser zu verstehen.

Schmerz als degenerative Erscheinung

Ab einem gewissen Alter seien Schmerzen normal, so die Überzeugung vieler meiner Klienten. Und tatsächlich hält sich die Meinung hartnäckig, dass Schmerz ein normaler Ausdruck des Alterns sei. Degenerativ sagt man auch oder altersbedingt. Damit ist gemeint, dass sich körperliche Strukturen verschleißen, gemäß der Idee, dass sich das, was man lange nutzt, abnutzt und automatisch Schaden nimmt. Eine solche mechanistische Betrachtungsweise des Körpers akzeptiert auch den Schluss, dass unser anatomischer Aufbau nach längerem Gebrauch seine Funktion einbüßt und das menschliche Gehirn an Flexibilität verliert. Und das wiederum assoziieren wir häufig damit, dass unser Körper im Alter weniger fähig zum Heilen ist, therapeutische Intervention weniger Wirkung zeigt und Schmerzreduktion einem Wunder gleicht. Von einer bestimmten Jahreszahl an geht es mit unserer Vitalität bergab, so die allgemein akzeptierte Idee.

Glücklicherweise ermöglicht die digitale Technik, mittels funktionellem MRT tiefer in die Furchen und Winkel des Gehirns zu schauen und damit auch in das alternde Oberstübchen hinein. Fakt ist: Das menschliche Gehirn liebt es, zu lernen. Selbst bis ins hohe Alter kann es eine flexible Informationsrückkopplung zu den Organen und Körperarealen aufrechterhalten, einschließlich der Option – man staune! – diese zu revidieren und sogar noch zu verbessern. Von einem zwangsläufigen Rückgang der Neuronen, dem der alternde Mensch automatisch ausgesetzt sein soll, fehlt jede Spur.

Das dürfte nicht überraschen, denn schließlich entwickelt nicht jeder Senior Beschwerden und Schmerz, und vor allem keinen, der gegenüber Intervention immun bleiben muss. Dass Schmerz im Alter normal wird, kann nur dann verallgemeinert werden, wenn der Mensch als Maschine anstatt als lebender Organismus betrachtet wird und man ihm die Fähigkeit zu Selbstreflexion und Bewusstheit streitig macht.

Aktuellen Erhebungen zufolge bleibt außerdem zu bedenken, dass chronischer Schmerz immer häufiger auch bei jungen Menschen unterhalb der Dreißig auftritt und die Zahl betroffener Teenager rapide in die Höhe schießt. Der Schmerzmittelkonsum bei Jugendlichen im Alter zwischen elf und sechzehn Jahren hat sich in den letzten drei Jahrzehnten verdoppelt und auch die noch jüngeren Schulkinder holen beängstigend schnell auf. Von Verschleiß kann da noch keine Rede sein.

Schmerz, das Erbe

Wie stark und unantastbar der Einfluss unseres genetischen Erbes auf die individuelle Schmerzverarbeitung ist, steht ebenfalls im Mittelpunkt der Diskussion. Tatsächlich zeigt die Statistik, dass sich chronischer Schmerz familiär häuft. Und das bringt uns in gewisser Weise an das Ende unseres Lateins, denn die Gene scheinen eine Art internes Schicksal zu sein, dem der Mensch nun einmal ausgeliefert ist.

Schenkte man dem uneingeschränkt Glauben, müsste jegliche Intervention wirkungslos bleiben. Doch genau diese Annahme deckt sich weder mit dem, was die epigenetische Forschung entdeckt, noch mit dem, was in der therapeutischen Praxis passiert. Mir fällt kein einziger Klient mit schmerzendem Erbe ein, der einer Behandlung gegenüber immun geblieben wäre. Immer war Veränderung sichtbar, was die Vorstellung einer unumstößlichen Prägung wackeln ließ.

Bei näherem Hinsehen kommen hier ganz andere Faktoren ins Spiel als ein stures genetisches Schicksal. Gar nicht so selten steht das Schmerzverhalten im Mittelpunkt des Geschehens, das als funktionelles Reaktionsmodell gelernt, übernommen und verinnerlicht worden ist. Menschliche Funktion wird nicht vererbt, sondern vorgelebt.

Schmerz konkret

Tina

leidet seit dem Kindesalter an Rheumatoidarthritis. Ihre Kindheitserinnerungen bestehen aus Arztbesuchen, Krankengymnastik, harzigen Einreibungen sowie den mitleidigen Kommentaren ihrer Behandler, die der Meinung waren, das grausame Schicksal ihrer Mutter habe auch sie ereilt. In Tinas Denken hatte es deshalb nie einen Platz dafür gegeben, dass ihre Zukunft hinterfragbar sei. Sie wuchs in dem Glauben auf, dass Schmerz zu ihrem Leben dazugehört.

Im Alter von vierzig Jahren bestand der Hauptteil ihrer Behandlung darin, der Aussicht auf Schmerzreduktion wenigstens eine Chance zu geben. Doch selbst als die Schmerzen ihren Charakter veränderten und zeitweise sogar ausblieben, fiel es Tina schwer, diese Realität anzunehmen. Sie konnte nicht glauben, dass ihr „Erbe“ außer Kraft gesetzt worden war.

Bernd

zog sich immer zurück, wenn es Probleme gab. Aber auch schon, wenn sich solche nur anbahnten, brütete er eine Migräne aus. „Er hat ein schwaches Nervenkostüm wie seine Mutter, und bei seinem Großvater war das auch schon so“, lautete die Erklärung seiner Familie.

Als Bernd zu meditieren begann und sich nach der Feldenkraismethode behandeln ließ, wurde ihm im Handumdrehen klar, welches innere Modell er unbewusst übernommen hatte: Wenn es konfliktreich wird, ziehe ich mich zurück, und wenn ich dann nach drei Tagen Bettruhe wieder einsatzfähig bin, hat sich das Problem erledigt. Diese unbewusste Strategie hatte ihm seine Mutter über viele Kinderjahre vorgelebt, um haarigen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen.

Empathischer Schmerz

Die Modellfunktion von Schmerzerleben durch andere Menschen sollte nicht unterschätzt werden. Erst kürzlich habe ich dazu eine Studie gelesen, die sich mit dem Unterschied zwischen dem Empfinden selbsterlebten Schmerzes und einem als empathisch bezeichneten Schmerz befasst.

Letzterer bezieht sich auf das Gefühl, das sich einstellt, wenn wir Schmerz an anderen beobachten, beispielsweise, wenn andere Menschen verletzt werden oder unter Schmerzen leiden. Erstaunlich ist, dass dabei dieselben Hirnzentren aktiviert werden, ganz gleich, ob der Schmerz uns selbst oder einer anderen Person widerfährt.

Und auch die Konsequenz ist eine ähnliche. Eine solche sekundäre Schmerzerfahrung macht uns ebenfalls vorsichtiger oder ängstlicher, sobald wir in eine ähnliche Situation geraten. Dazu habe ich eine eigene Erfahrung.

Als ich fünf Jahre alt war, hat sich der Vater meines Kindergartenfreundes mit der Kreissäge den Daumen abgesägt. Ich habe das nicht miterlebt, sondern nur davon gehört. Das Ganze muss meine Vorstellung von Schmerz offenbar so überfordert haben, dass ich mir nicht nur für mehrere Tage den rechten Daumen hielt wie mein Freund, sondern bereits das Geräusch einer Kreissäge verursachte mir noch Jahre später Daumenschmerz, der mich zusammenzucken ließ. Die Assoziation von Kreissäge gleich Schmerz ist in meinem Unterbewusstsein durch eine bloße Vorstellung abgespeichert worden. Ich konnte sie erst auflösen, als ich mir dessen bewusst geworden war.

Doch warum erzähle ich das? Wenn wir einmal bedenken, wie viele Menschen Schmerz und schmerzhafte Vorbilder in ihrem Umfeld erleben, wird dies interessant. Wir müssen eine physische – oder seelische – Verletzung nicht einmal selbst erleiden, um diese als Schmerzerfahrung zu verbuchen, so dass das Gehirn sensibel für ein gesteigertes Schmerzempfinden wird. Und tatsächlich finden sich in zahlreichen Anamnesen Schmerzbetroffener mit Leiden verbundene Erlebnisse, die ihnen gar nicht selbst passiert sind, sich aber dennoch ihren Weg ins Unterbewusstsein gebahnt haben.

Die Gene

Kommen wir aber noch einmal auf die Gene zurück. Die Wirkung der Gene auf die Entwicklung von Schmerz mag auch deswegen für so machtvoll gehalten werden, weil die Schmerzforschung bestimmte genetische Dispositionen als Urheber von Schmerz belegt.

Beispielsweise haben Forscher herausgefunden, dass Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle anfälliger dafür sind, chronische Schmerzen zu entwickeln. Das korreliert wiederum damit, dass ein hoher Prozentsatz von ihnen eine geringere Variabilität in der DNA aufweist. Mit einer bestimmten, wenig variablen Disposition der DNA-Proteine scheint das Nervensystem leichter und früher in einen veränderten Schmerzmodus umzuschalten, als das normalerweise passiert. Dasselbe geschieht übrigens unter dem Einfluss von dauerhaftem Stress, der ebenso zu einer veränderten Proteinsituation in der DNA führt und das Entstehen von Schmerz hofiert.

Gerade hier bietet es sich an, Fragen zu stellen. Wenn die Verbindung zu unserer genetischen Ausstattung im krankmachenden Sinne tatsächlich prägend und lebendig ist, warum sollten die DNA-Proteine dann immun bleiben, wenn sich ihre Umgebung und Informationsverarbeitung revidiert? Auf demselben Wege, wie Menschen mit einer niedrigen Schmerzschwelle lernen können, diese anzuheben, kann auch ein von Stress Geplagter lernen, belastungsresistenter zu sein. Vielleicht besteht ja sogar eine Chance für die mit Schmerz in Verbindung gebrachten Gene, wenn ihnen ein neurophysiologisch günstiger Nährboden bereitet wird?