Unterwasserflimmern

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Unterwasserflimmern
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Katharina Schaller

Unterwasserflimmern

Roman

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Er liegt neben mir. ....

Die Nacht war ruhig, immer nur das Ticken der Küchenuhr. ...

Luis hat ein Motorrad. ...

Der Himmel ist durch und durch blau, ...

Katharina Schaller

Zur Autorin

Impressum

Worte liegen auf der Haut

Berührungen und Rätsel

Um uns schwingt ein Ton, durchgängig

zieht er Kreise, Körperverbindungen

die mit ihm klingen

und uns gemeinsam werden lassen

was keiner von uns alleine sein kann

Die Sekunden schlagen im Takt

mit den Bewegungen

tragen die Zeit an einen Ort

der nicht Besuch empfängt

nur hindenken

sich hinwünschen

An manchen Tagen

ist er Lichtjahre entfernt, und an andren

liegt er um die Ecke unsrer selbst

Stell dir vor, wir gehen Kopf in Kopf

in entgegengesetzte Richtungen

und treffen uns dort

Er liegt neben mir. Ich spüre sein Bein über meinem, seinen Arm an meinen Brustwarzen. Ich spüre seine Haut, die warm ist. Es ist heiß unter der Decke, und es ist feucht zwischen uns. Schweißtropfen haben sich auf meinem Rücken und seinem Bauch gebildet, unsere Körper kleben aneinander. Ich denke an den Saft, den ich gestern auf den blassen Linoleumfliesen verschüttet habe, und daran, wie sich die halbtrockenen Flecken auf meinen bloßen Sohlen angefühlt haben.

Dass Leo neben mir ist, ist nicht neu. Es ist auch nicht alt. Es ist gerade. Die Sonne scheint durch die Scheiben, grelle Strahlen, die das Zimmer aufheizen, und ich strample die Decke von mir, um Luft zu bekommen. Leo rührt sich kaum, und trotzdem merke ich, dass er wach geworden ist. Seine Atmung hat sich beschleunigt.

Die Wohnung ist hell. Sie ist stilvoll, würde man sagen. Man würde sagen, sie ist groß, sie ist lichtdurchflutet, sie ist auf den Punkt. Die Küchenzeile ist weiß, der Boden in Wohnzimmer und Flur ein Parkettboden, der Tisch eine Tafel. Wer daran sitzt, ist egal. Nichts hier sieht nach Wohnen aus, alles nach Besuch.

Wir stehen auf, trotten in die Küche, und ich muss lachen. Darüber, wie Leo sich krümmt, um die Tassen aus dem Schrank zu holen. Seine Haare fallen leicht abwärts mit dieser Bewegung, zum ersten Mal sehe ich ihn in dieser Position, sehe ihn anders als sonst, und es ist, als würde sich ein neuer Teil zum Rest dieses Menschen fügen.

„Wer räumt Tassen in den unteren Küchenschrank?“, frage ich.

„Wer räumt sie nach oben?“, fragt er.

„Alle, die ich kenne“, antworte ich.

„Egal“, sagt er und schenkt den Kaffee ein.

Er schmeckt. Ich denke darüber nach, ob er jemals nicht geschmeckt hat, ob ich mich an das Bittere gewöhnen habe müssen wie an den Zigarettenrauch in meinem Mund, und ich denke daran, dass ein Morgen seltsam wäre, auch dieser, ohne diese beiden Dinge. Ich nehme einen Schluck und ziehe kurz darauf an der Zigarette, abwechselnd, und blase den Rauch langsam aus meinem Mund. Es bilden sich Kreise, die weiter werden.

Leo öffnet ein Fenster und schaut mich an, er setzt sich zu mir, streicht über meine Wange, die wahrscheinlich rot geworden ist. Weil meine Backen immer rot werden, wenn die Temperatur zu hoch ist oder ich mich ertappt fühle. Er erzählt mir etwas, und ich höre nicht genau hin, aber ich spüre seine Hand. Ich mag sie, denke ich, diese Hand.

Ich rieche die Kresse, die vor mir auf dem Tisch steht, blicke auf die zarten Stängel, die aus den Wattebauschen wachsen und die so gar nicht in diese Umgebung passen. Ansonsten ist die Küche fast leer, nur die wichtigsten Dinge sind darin verstaut. Dieser Geruch wird mir in Erinnerung bleiben, denke ich. Weil ich mit Kresse keine anderen Gefühle verbinde, nur dieses Zimmer hier, nur Küchengefühle.

Leo starrt mich an, als hätte ich meinen Einsatz verpasst, als hätten wir ein Gespräch geführt und ich wäre ihm eine Antwort schuldig. Ich stiere zurück, direkt in das Glasige seiner Augen. Dann küsst er mich, und ich drehe meinen Kopf zur Seite. Ich bemerke seinen Atem auf meinem Gesicht.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragt er mich.

Ich gehe durch die Straßen. Bis ich mich nicht mehr erinnere, ob ich schon hier war oder dort. An den Häuserfronten kann man den Dreck der Jahre sehen, an manchen schwarze Buchstaben, die irgendwann auf die Mauern gesprüht und nicht mehr entfernt wurden. Runde, hastig geschriebene Buchstaben. Fick dich, steht unter einem Fenster, in dem ein Klangmobile baumelt.

Ich beobachte den Abfall, der vom Wind bewegt wird. Eine Coladose klimpert über den Asphalt, Zigarettenfilter rollen hinterher. Ich denke an ihn. An Leo und seine Frage, wann wir uns wiedersehen. Dass ich es nicht wisse, habe ich geantwortet. Das ist meine Standardantwort in so einer Situation.

Ich hebe meinen Kopf, während ich die Straße entlanggehe, in der die Kirschbäume blühen. Nur kurz blühen sie, aber wenn sie es tun, glaubt man, dass es keine schöneren Blüten geben kann. Ich gehe weiter geradeaus, immer weiter, um nicht nach Hause zu müssen. Ich versuche, etwas nachzufühlen von uns. Ich denke an seine Hände, an die Finger. An seinen Mund, an den Schwanz. An Leos gesamten Körper, der vertraut wird. An die Haare in den Achselhöhlen, in die ich meine Nase stoße, und an die, die sich an den Innenseiten seiner Oberschenkel kringeln.

Und dann wieder die Frage. Er stellt sie jedes Mal. Als würden wir füreinander verpuffen, würde er sie nicht aussprechen. Leo braucht die Vergewisserung. Er will, dass ich mich nach jedem Mal für das nächste Mal entscheide. Nicht, dass ich ihn nicht wiedersehen will. Ich will, dass er mich berührt. Ich will das Geräusch unserer klatschenden Körper. Ich will die Luft, die er mir in den Nacken bläst. Ich stelle mir sein Gesicht vor, kurz nach dem Aufwachen. Ich höre sein Flüstern, die Wörter, die so anders sind als meine, solche, die ich nicht auswählen würde und die vielleicht deshalb so richtig klingen.

Leo weiß, dass ich eine Beziehung führe. Eine öffentliche. Eine, die man nicht verstecken muss. So wie er. Ich weiß, dass er eifersüchtig ist, dass er sich ausmalt, wie dieser andere Mann sich anfühlt im Vergleich zu ihm, wo seine Finger ansetzen, ob es dieselben Stellen sind oder andere.

Leo wollte wissen, ob mir das nie passieren würde. Ob ich nie eifersüchtig werden würde. Ich habe mit den Schultern gezuckt. Er hat mich nachgeäfft, seine Schultern auf dieselbe Weise nach oben gezogen. Ich habe ihn gefragt, wovon er rede, und dabei an vergangene Jahre gedacht, an Bekanntschaften und Beziehungen. An das Warten auf Nachrichten. An die Sehnsucht, die sich nicht wegerklären lässt. An die Vorstellung von Körperteilen, die sich ineinander verhaken. An dieses enge Gefühl, das ein anderer Mensch auslösen kann, so wie Leo es manchmal bei mir tut und so wie ich es bei ihm tue. An das Masturbieren zu der Fantasie, mein Freund würde gerade mit einer anderen schlafen. An die Erniedrigung, die mich geil gemacht hat. Trotzdem habe ich Leo nicht geantwortet, ihn nicht belohnt für seine Ehrlichkeit.

Jetzt bleibe ich vor der grünen Mülltonne stehen, denke an ihn und die Frau, mit der er verheiratet ist. Ich weiß nicht, wie sie aussieht, und doch habe ich ein detailliertes Bild von ihr. Ich sehe, wie er durch ihr Haar streicht. Wie er seine Hand auf ihr Knie legt. Wie seine Finger nach oben wandern. Wie er zwischen ihre Beine greift. Ich denke daran, dass er sie auf dieselbe Weise berührt, auf dieselbe Weise an ihr schnuppert. Mir wird übel. Nur ein Anflug, denke ich und atme tief in den Bauch. Ich will Leo anschreien, dass er das lassen soll. Er soll aufhören, steif zu sein, während er neben ihr sitzt.

Das ist Eifersucht, stelle ich fest und schließe die Tür auf.

Ich komme in die Wohnung. Es riecht nach Emil. Kein intensiver Geruch, nur Nuancen, die sich ausgebreitet und über die Kissen und Laken gelegt haben. Vielleicht sind das wir, denke ich, und nicht er allein. Ich rufe seinen Namen.

Klingt das alt? Dieser Name? Emil ist fast vierzig. Zehn Jahre älter als ich.

„Hier“, ruft er zurück. Die Wohnung ist klein genug, dass ich höre, wo genau sich dieses „hier“ befindet.

Ich habe zu viel Zeug, denke ich, während ich meine Tasche auf den Boden gleiten lasse und mit einem Fuß gegen die Schwelle stoße. Überall Zeug, alles voll. Jede Ecke eine Erinnerung. Überall etwas von früher, von viel früher, von vorgestern. Von irgendwann. Von Reisen. Flugtickets, Eintrittskarten, Nationalparkscheine. Als wäre man ohne sie nicht dort gewesen. Als brauchte man den Beweis. Ich, um genau zu sein.

Emil ist minimalistisch. Er hat nichts gegen Fotos, aber für sie hat er auch nichts. Emil kauft keine Souvenirs. Ab und zu glaube ich, würde ich nicht mit ihm hier wohnen, gäbe es kein persönliches Stück von ihm. Ein paar Bilder an den Wänden. Emil mag Kunst. Er ist fasziniert von Techniken, von Materialien, von Menschen und der Zeit, die die Ergebnisse prägt. Emil analysiert.

 

Ich stehe hinter ihm, er sitzt auf dem Lesestuhl im Schlafzimmer. Ich wuschle in seinem Haar, das dicht ist und sich nicht verändert hat, seit wir zusammen sind. Er nimmt meine Hand und legt sie zurück.

„Ich lese“, sagt er, und dann doch: „War eure Feier gut?“

Ich nicke und reibe meinen Oberarm, will ansetzen zu erzählen, ansetzen zu lügen. Ich müsste von dem Geburtstagsessen einer Freundin berichten, von dem Abend, der sich in die Länge gezogen hat, davon, wie es später wurde und wir die Nacht in ihrer Wohnung verbracht haben. Stattdessen habe ich mich irgendwann verabschiedet und bei Leo übernachtet. Emil sieht in sein Buch, keine Regung und kein Geräusch, außer dem Umblättern der Seiten. Vielleicht spürt er, dass ich noch im Zimmer stehe, aber er dreht sich nicht um. Also schleiche ich rückwärts, versuche, leise zu sein, was keinen Sinn ergibt. Nur will ich plötzlich nicht mehr mit ihm sprechen und keinen Satz provozieren.

„Hast du Hunger?“, rufe ich später aus der Küche.

Emil tritt hinter mich, nimmt mich an den Hüften, küsst meinen Hals. Wir sind uns nah. Wir berühren uns oft, und jede Berührung prägt sich ein, mit jeder weiteren werden wir mehr, mehr wir. Ich denke daran, wie wir im Bett liegen, Emil hinter mir, sein Arm um meinen Bauch. Beinahe jede Nacht schlafen wir so. Es ist eine unausgesprochene Vereinbarung. Wie wir einschlafen.

„Ja“, antwortet er.

Wir kochen gemeinsam. Emil mag es, in der Küche zu stehen, die Töpfe auszuwählen. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit der Gabel gegen das Filetsteak drückt und das wässrige Blut sich am Tellerrand sammelt. Ich würde darauf verzichten, aber ich kann nicht nur ihn kochen lassen. Emil könnte es mir vorhalten.

Manchmal wünsche ich mir, Emil zu schlagen. Ich wünsche mir, mit meiner Faust gegen seine Brust zu hämmern. Ich denke an die Zeit vor fünf Jahren, daran, wie ungewiss die Zukunft war, und an dieses Ungewisse, das uns angetrieben hat. Jetzt wirkt alles vorbestimmt, als müssten wir sicher sein, worauf wir zugehen. Als wäre es unverzeihlich, kein Ziel zu definieren. Ich weiß, dass Emil über das alles sprechen will. Darüber, wie wir leben werden. Ich weiß, dass er ein Zugeständnis braucht. Ich sehe es in seinem Gesicht. Ich kann seine Stimme hören, die Fragen, die ich nicht beantworte und die sich zwischen uns gedrängt haben.

„Magst du Pasta?“, frage ich ihn.

„Unbedingt“, sagt er und lächelt mich an.

Sein schönes, schiefes Lächeln, das er nicht jedem zeigt. Das nur die Leute kennen, die ihn kennen.

Wir essen am Küchentisch. Sitzen uns gegenüber wie zivilisierte Menschen, obwohl ich meinen Teller Nudeln lieber vor dem Fernseher essen würde. Wir reden. Wir erzählen von unserem Tag, von den Stunden, die wir getrennt voneinander verbracht haben. Im Büro, draußen, beim Mittagessen.

Emil ist Architekt, er besucht Baustellen. Emil ist es gewohnt, alles zu überprüfen, nachzusehen, ob alles nach Plan läuft, nach seinem. Er hat sechs Häuser für uns entworfen. Fast eines für jedes Jahr, das wir zusammen sind. Am Anfang waren die Häuser klein, und rundherum hat er Bäume gezeichnet. Er hat gesagt, wir werden in einem Wald wohnen. Wir werden jeden Morgen zuerst die Vögel hören. Und jeden Abend das Rauschen des Windes in den Ästen.

Heute sind die Häuser größer. Es gibt mehrere Stöcke, Kinderzimmer, Abstellkammern. Unser Schlafzimmer wird kleiner. Emil sagt, wir brauchten nicht viel Platz, ich würde ihn sowieso nur vollstellen. Und ich hätte dann ein ganzes Haus zum Vollstellen. Aber nicht das Schlafzimmer. Er sagt es mit diesem Grinsen, das ich eigentlich mag.

Wir reden vom Wetter, von heute Abend. Ich räume den Tisch ab, Emil sieht mich an. Er packt meinen Arm, drückt mich gegen den Küchentisch, meinen Oberkörper auf die Platte, schiebt meinen Rock hoch und dringt in mich ein. Ich rieche Bolognese in dem Topf direkt neben meinem Gesicht, schaue auf das Glas, das gefährlich nah am Rand steht, und denke darüber nach, wie es aussehen würde, würde es zerbrechen, wie viele Scherben sich auf dem Boden verteilen würden, wie Emil für eine Sekunde erschrecken und doch weitermachen würde. Er fickt mich kurz. Und spritzt ab. Dann verharren wir so, vielleicht sind es fünf Minuten, in denen er sich knapp über meinen Körper stützt, und ich versuche, genau in seinem Rhythmus zu atmen. Emil zieht seinen Schwanz aus mir, es tropft an meinem Bein herab. Ich setze mich aufs Klo, beuge mich nach unten, um dabei zuzusehen, wie es aus mir herausplätschert, der Urin, das Sperma, und nehme ein Toilettenpapier, mit dem ich die Spur an meinem Oberschenkel abwische. Danach ziehe ich mich um, eine frische Unterhose, ein leichtes Oberteil, weil es kühl geworden ist, und lege mich ins Bett, um endlich zu schlafen.

Fünf Wochen sind seit dem Küchensex vergangen.

Wir sitzen am Gate H13. Emil und ich. Wir sind auf dem Weg nach Vietnam. Es riecht nach Frühlingsrollen, eigentlich nach Öl, das genauso gut dafür verwendet werden hätte können, Pommes zu frittieren. Trotzdem bin ich sicher, dass es nach Frühlingsrollen riecht und dass das mit unserem Ziel zu tun hat. Und da ist der Duft von Sonnencreme. Als hätten sie die Menschen vorsichtshalber aufgetragen, um vorbereitet zu sein. Auf die Sonne und den Urlaub, für den sie gearbeitet haben. Ich sauge alles ein, beobachte die Frau gegenüber, die einen großen Hut aufhat, dazu eine Jogginghose, die die Stunden im Flugzeug bequemer machen soll. Sie sieht nach All-Inclusive-Urlaub aus, nicht nach Abenteuer, nicht nach Dschungel oder einsamem Sandstrand, nicht nach abgeschiedenem Dorf ohne Handyempfang oder pulsierender Stadt. Vielmehr sieht die Frau nach einem farbigen Armband aus, das den Mitarbeitern im Hotel den Status ihrer Buchung anzeigt: nur Frühstück und Abendessen oder aber den ganzen Tag alles. Kuchenbuffet, Cocktails, Limo zwischendurch. Ich schaue auf Emil, schaue an mir herab, frage mich, wonach wir beide aussehen und ob wir für andere so enttäuschend sind wie diese Frau für mich.

Drei Wochen, denke ich. Emil sagt, das werde uns guttun. Wir könnten abschalten. Wir könnten tun, was immer wir wollen. Wir könnten in ein entlegenes Kloster gehen. Emil hat mir Reiseberichte vorgelesen. Eine Woche Meditation, Konzentration auf uns, jeder für sich. Gespräche nur abends. Ich habe mich gefragt, worüber sich die Menschen unterhalten, die den Tag ausschließlich mit sich selbst verbringen. Ob sie über ihre Fortschritte reden, und ob ich das will, mich den ganzen Tag mit mir selbst beschäftigen.

Oder wir fahren nach Sa Pa in die Berge. Wir könnten durch die saftig grünen Reisfelder spazieren, frühmorgens aufstehen und durch die Nebelschwaden wandern. Ich sehe uns beide, Emil und mich, wie wir hintereinander herstapfen, wie Emil vor mir aufwärts steigt, ich seinen Atem hören kann, weil alles noch still ist, wie ich versuche, im Gleichschritt zu gehen, bis wir über die Plantagen an den höchsten Punkt kommen und der Nebel sich lichtet. Wie das Land sich gemeinsam mit der aufgehenden Sonne anfängt zu bewegen, wie die Menschen lauter werden, wie wir beide langsam in den Geräuschen untergehen.

Wir könnten ein Moped ausleihen und auf kurvigen Straßen das Landesinnere erkunden. Ich kann den Fahrtwind spüren, sehe die Häuser aus Holz, die auf Stelzen gebaut wurden, um sie gegen das hochstehende Wasser zu schützen, das in der Monsunzeit alltäglich ist. Ich stelle mir vor, dass es anfängt zu schütten, wie wir uns irgendwo unterstellen müssten, wie hart meine Nippel von dem Warten in der Kälte werden würden, wie ich am ganzen Körper zittern würde und wie Emils Wimpern aus seinem Gesicht herausstechen würden. Weil sie das aus irgendeinem Grund so sehr tun, wenn er nass ist.

Es klingt, als wären drei Wochen ein ganzes Leben.

Ich denke an Leo. Ich schaue aus dem ovalen Fenster auf die Startbahn und die orange gekleideten Figuren, die klein wirken, während sie die Koffer in den Frachtraum werfen. Und jetzt kommen mir die drei Wochen auch wie ein ganzes Leben vor. Ich denke daran, wie Leo gestern seine Zunge in mich gesteckt hat. Ich denke an unser Lachen, das zu einem wird. Daran, wie er mir erzählt hat, wie ich aussehe, von den Zehen aufwärts. Ich habe die Augen geschlossen und ihm zugehört. Er hat meine Schienbeine beschrieben, die blauen Flecken darauf, die weiß gefärbten Narben auf meinen Knien, die Haut in meinen Kniekehlen, weil es die samtigste Haut an meinem Körper ist, die Haare auf meinen Oberschenkeln und die zwischen meinen Beinen, die Falten meiner Muschi, so detailliert und genau, dass ich sie mir anschließend mit einem Handspiegel ansehen musste. Um seine Schilderung zu überprüfen. Ich denke daran, wie wir gegessen haben. Wie Leo dasitzt, wie er aussieht dabei, beim Dasitzen. Wie seine Augen mich mustern, um sich mich einzuprägen für die nächsten drei Wochen. Als würde ich mich auflösen, könnte er sich nicht richtig erinnern. Und jetzt fühlt es sich ein wenig so an. So als könnte das alles, wir beide, eine Erfindung sein.

Ich schaue auf die Felder neben der Startbahn, die Maschine fängt an zu rollen. Und ich überlege, wieso ich das tue. Wieso es Leo gibt, wieso nicht nur Emil. Wieso plötzlich tausende Abzweigungen auftauchen, aber kein Wegweiser mehr da ist. Ich versuche, den Kloß, der in meinem Hals steckt, hinunterzuwürgen und bestelle eine Cola.

Wir fliegen nach Vietnam, drei Wochen, denke ich, und sehe die Leute vor mir, die blinkenden Lichter von Ho-Chi-Minh-Stadt. Ich schaue zu Emil und glaube, er freut sich. Ich glaube, ich freue mich auch.

Meine Kopfhaut ist voller Salz, und Emils halblange Haare stehen schräg nach oben. Wir liegen im Sand. Hier gibt es nichts anderes, auf dem man liegen könnte, und trotzdem sagt er: „Ich bin zu alt für so was.“

Das hört sich an, als wäre der Sand eine zu tief sitzende Hose, die knapp unter der Arschfalte endet und aus der die viel zu großen, seidenen Boxershorts lugen, eine, die man in der Zeit von fünfzehn bis siebzehn tragen darf, ohne bescheuert zu wirken. Als würde man über das „Im-Sand-Liegen“ hinauswachsen.

Ich schaue mich um. Es sind wenige Menschen hier, wir haben fast den ganzen Strandabschnitt für uns allein. Hundertfünfzig Meter weiter reihen sich Strandliegen aneinander. Sie sind rot und pink gestreift, knallige Farben und hohe Polsterungen, die den Ort menschlich machen. Auf der anderen Seite dagegen herrscht Leere. Ich lasse meinen Blick langsam den Sandstreifen entlanggleiten. Der Sand ist weiß und fein. Ich streiche mit meinen Händen darüber, vor und zurück, und grabe meine Füße darin ein. Ein paar Palmen stehen dort, wo der Sand in das hintere Gelände übergeht. Wo Pflanzen sich über den Boden ranken und noch weiter hinten in den Dschungel hineinwachsen. Es ist unwirklich schön, denke ich, während ich meinen Kopf zurückdrehe.

Emil sieht noch immer Richtung Beach Club, eher wehmütig, denke ich, und dann schaut er mich an, als würde er sagen wollen: Wieso wirst du nicht endlich erwachsen? Wieso muss ich mit dir in diesem verfickten weißen Sand auf einem Handtuch sitzen und warme Fanta trinken?

Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Man kann sich attackieren mit einem Lächeln, denke ich. Man kann damit die eigene Überlegenheit ausdrücken, und das hier ist so eines. Nicht nur seines, auch meines. Ich weiß, dass Emil nicht streiten will, weil Streit bedeutet, etwas läuft aus dem Ruder. Ich wünsche mir, wir könnten uns anschreien, wie andere es tun. Ich stelle mir vor, dass es leichter wäre, dass es uns leichter machen würde, würden wir uns fünfzehn Minuten lang anschreien, um dann erschöpft auf den Boden zu

sinken.

Ich sehe Emil an, der seinen Blick jetzt auf das Meer gerichtet hat, und denke an die Reise am Anfang unserer Beziehung. Dass wir an einen ähnlichen Strand wie diesen hier gefahren sind, nur in einem anderen Land. Es war Abend und schon fast dunkel, obwohl Sommer war, vielleicht einundzwanzig Uhr, und wir haben uns zwei Bierdosen in der Tankstelle besorgt, haben in die Pedale getreten, bis wir dort waren. Der Strand schien endlos lang, dabei haben wir kaum etwas gesehen, nicht wie das Wasser ausgesehen hat, nicht welche Farbe der Sand hatte oder die Pflanzen rundherum. Wir haben uns hingelegt und den Wellen zugehört. Nur zugehört, ohne etwas zu sagen. Bis Emil mich nach oben gezogen hat, meine Kleidung aus, seine Kleidung aus, und meine Hand genommen hat, um mit mir ins Wasser zu laufen. Es war kitschig, und wir waren verliebt, es war, als wäre alles um uns für uns gemacht worden. Zurück am Strand habe ich mich auf ihn gesetzt und ihn gefickt. Seine Lippen schmeckten intensiv, nach Bier und nach ihm, und ich habe mich flach auf ihm ausgestreckt, sein Schwanz in mir, und habe mich so lange vor- und zurückgeschoben und meine Klitoris an ihm gerieben, bis ich einen Orgasmus hatte. Danach sind wir eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Einfach so bis zum nächsten Morgen.

 

Jetzt kommt mir das weit weg vor. Ich frage mich, wieso. Ich frage mich, wieso eine Nacht am Strand unmöglich wirkt, wo wir doch an einem Strand sitzen. Anstatt etwas zu sagen, stehe ich auf und renne los und wünsche mir, dass Emil mir nachläuft und ich mit ihm gemeinsam in das türkise Wasser eintauche. Glasklar ist es. Kurz glaube ich, dass er hinter mir ist, dass ich den Sand unter seinen Schritten knirschen hören kann. Dann drehe ich mich um und sehe ihn am selben Fleck sitzen.

Früher haben wir darüber gelacht, denke ich, über diese Menschen, die tausende Kilometer fliegen, um sich an einem austauschbaren Sandstreifen zu entspannen. Über die Abdrücke der Bikinis und Badehosen auf den braungebrannten Körpern. Über die All-Inclusive-Cocktails. Und darüber, dass sie sind, wie sie sind. Anders, waren wir uns sicher. Ich frage mich, ob es das ist, was Emil will. Ob es das ist, was ich will. Die nächsten Jahre einmal jährlich in ein Flugzeug steigen, uns in eine Hotelburg einbuchen, uns mit den anderen Pärchen in unserem Alter anfreunden, uns austauschen über Kredite, Hausbaupläne, Karriere und Kinder.

Dann hebt Emil seine Hand und winkt mir zu. Ich strecke meinen Arm aus, winke zurück und lasse mich fallen, um nur noch Wasser zu sehen.

Abends schlendern wir durch die Straßen des kleinen Ortes, vorbei an den wenigen Ständen, die etwas zu essen anbieten. Seit sieben Tagen sind wir hier und können uns nicht aufraffen weiterzufahren. Der Ort hält uns fest, Emil und ich reden darüber, ob wir uns am nächsten Tag in einen Bus oder einen Zug setzen, vielleicht in einen Flieger, der uns vom Süden in den Norden bringt. Stattdessen packen wir unsere Sachen und legen uns an den Strand. Irgendwie tut es gut, sich für nichts zu entscheiden. Es ist, als würden wir uns treiben lassen, zum ersten Mal seit langem. Ab und zu laden uns Einheimische ein, so wie heute. Wir trinken mit ihnen und grillen mit ihnen und erzählen von daheim. Es riecht nach Fisch und Zitronengras.

Sie fragen uns, wie wir leben, und wir sie dasselbe. Wir singen gemeinsam. Sie lachen über unsere weißen Zähne und über unsere Trinkfestigkeit. Die Nacht ist gefüllt mit Klängen und funkelnden Lichtern. Jemand legt eine CD auf. Ehrlich, ein CD-Player, denke ich.

Ich stehe auf und tanze. Ich fühle mich, wie ich mich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Ich denke, hier und jetzt könnte alles passieren. Vielleicht könnte ich anfangen zu laufen, immer weiter, einfach den Strand entlang, und mich nicht mehr umdrehen.

Emil sieht mir zu, das weiß ich. Er möchte auch tanzen, hat aber noch nicht genug getrunken. Es fehlen noch ein, zwei Whiskey Coke, bevor Emil anfängt, sachte zu zucken, und noch einer, damit das Zucken zu einer Bewegung wird, die fließt und seinen gesamten Körper bestimmt. Ich denke auch an zuhause. Ich denke, wie es wäre, wenn ich nicht mit Emil hier wäre. Ich frage mich, ob dann jemand mit mir tanzen würde. Mich über den Strand wirbeln und mich drehen, bis mir schwindelig wird.

Wir sitzen in Hanoi. Vor drei Tagen sind wir angekommen und haben den Tagesausflug zur Halong-Bucht gemacht. Ich sehe die breiten Felsen vor mir, die hoch aus dem Wasser ragen. Das Wetter war nebelig, so wie ich mir den Himmel in Sa Pa ausgemalt habe, nur über dem Meer. Als hätten wir eine Fahrt in eine Filmkulisse gebucht. Jetzt hocken wir auf bunten Plastikstühlen und warten auf Suppe, die wir mit ins Hotel nehmen werden. Wir sind müde. Zu müde, um aufrecht zu essen. Ich weiß nicht, was uns erschöpft hat. Wir sind so, seit das Flugzeug in Vietnam gelandet ist. Zuerst dachte ich an den Jetlag, jetzt habe ich keine Erklärung mehr.

Bevor wir uns ein Hotelzimmer in Hanoi gebucht haben, waren wir in der Mitte von Vietnam. Das Land ist lang, und im Norden und Süden herrscht ein anderes Klima. Hier ist es kälter und nässer. Die Menschen sitzen und stehen weniger auf den Straßen und in den kleinen Gassen. Vor den vielen Fenstern hängen Käfige mit Vögeln. Singvögel, die zwitschern und piepsen, während man darunter vorbeigeht. Ich rieche die warme Suppe, die uns die Verkäuferin in eine Plastiktüte schüttet, schließe die Augen und sehe die blinkenden Reklamelampen und tausenden Motorräder von Ho-Chi-Minh-Stadt. Ich sehe uns, wie wir aus der Flughafentür treten, merke, wie die Luftfeuchtigkeit uns kurz einnimmt und innehalten lässt. Das liegt vierzehn Tage zurück. Jetzt haben wir noch eine Woche.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragt Emil und holt mich aus meinen Gedanken.

„Weiter“, sage ich, und Emil nickt. Hanoi liegt im Norden. Der Norden ist nicht nur kälter, er ist geschäftig, auf seine Weise geschäftig, und es ist, als wäre Hanoi schüchterner, als wäre das Leben besser versteckt. Als müssten wir erst danach suchen. Ich würde gerne zurückfahren, um die restliche Zeit in Ho-Chi-Minh-Stadt zu verbringen. Ich würde mich auf einen der engen Balkone setzen, von denen aus man die Stromleitungen, die nur ein paar Meter über dem Asphalt befestigt sind, so genau sehen kann. Man kann dort stundenlang sitzen, die Stadt beobachten, versuchen herauszufinden, in welchem Knäuel die Stromleitungen münden. Ich würde durch die Gassen laufen, in die Wohnzimmer der Menschen linsen, die zur Straße liegen und ihr Leben öffnen. Ich würde die Stadt fressen wollen, in mich aufnehmen, um das Gefühl, das sie auslöst, in mir zu speichern.

Emil würde lieber raus. Raus aus Hanoi und nicht wieder zurück nach Ho-Chi-Minh-Stadt. Er will weniger Leben, weniger Menschen, mehr Ruhe und Einsamkeit. Ich denke an das Kloster. Und daran, warum es uns schwerfällt, eine Entscheidung zu treffen. Wir wägen ab, reden, planen. Früher hätte sich alles ergeben. Uns wäre egal gewesen, wo wir bleiben oder hinfahren. Ich weiß, dass Emil eine Antwort braucht, dass ihm die Tage am Strand zu lang waren. Zu lang ohne nächstes Ziel. Wir müssten die Zeit nutzen, hat er gesagt. Wir könnten nicht ewig reisen, nicht so wie vor Jahren. Ich weiß, dass das stimmt, denke ich, und trotzdem möchte ich ihn packen und rütteln und ihn fragen, wohin sich dieser andere Teil von ihm verkrochen hat.

Kurz darauf streicht er mit den Fingern über meinen Kopf. Er beugt sich nach unten, küsst mich auf den Scheitel und hält seinen Mund ein paar Sekunden in dieser Position. So lange, dass der Kuss eine Bedeutung erhält, so lange, dass es nicht bloß eine flüchtige Handlung ist oder ein Automatismus. Ich drehe meinen Kopf nach oben, um ihn anzusehen. Ich sehe seinen Blick, richte meinen auf seinen Körper, der warm ist und mir nahe. Die Plastiktüten mit der Suppe baumeln in Emils Händen, und wir machen uns auf den Weg zurück ins Hotel.

Ich lasse mich ein Stück zurückfallen, schaue mich in der Straße um, die nur wenig beleuchtet ist. Die Geschäftsrollos im Erdgeschoss der Häuser sind nach unten gezogen, und ich frage mich, was dahinter verborgen ist. Emil redet, aber ich höre ihn nicht richtig, höre ihn nur murmeln und versuche aufzuschließen.

Und dann sagt er: „Ich will Vater werden.“

Ich bleibe stehen, und Emil geht weiter. Er geht weiter, als könnten wir dieses Gespräch während eines Spaziergangs führen, als würden wir dabei nicht unsere Augen oder die Körpersprache des anderen brauchen, als wäre die Antwort so einfach. Als müssten wir uns mit den Sätzen beeilen, damit die Suppe nicht kalt wird. Ich höre seine Stimme, aber kann die Wörter nicht verstehen. Kurze Zeit später hält Emil an und dreht sich um.

„Was machst du?“, fragt er mich.

Ich frage mich dasselbe. Ich bin erstaunt über mich selbst, über Emil, über diesen Moment und das Gesagte, das mir so unpassend erscheint. Und trotzdem, keine Reaktion, die nach außen dringen würde.

„Wieso kommst du nicht?“

Mit einem Mal tut mir Emil leid. Mir tut leid, wie er vor mir steht, mit der Suppe, die in den Plastiktüten schwappt, wie er dort steht, mit diesem Abstand zwischen uns, und mir tut diese Annahme leid, die Annahme, dieses Gespräch würde so ablaufen. Die Vorstellung, wir würden zwischen Essensstand und Hotel beschließen, ein Kind zu bekommen. Mir tut leid, dass ich keine Antwort herausbringe, mir tut leid, dass ich keine Antwort habe, weil ich nicht weiß, was ich tun soll. Wie ich Emil erklären soll, dass ich nicht sicher bin, ob das das Leben ist, das ich führen will. Nach neun Jahren. Dass ich weiß, dass er mir fehlen würde, dass mir seine Haut fehlen würde, sein Körper, seine Stimme, sein Fokus, seine Sicherheit. Aber nicht, ob ich in einem Haus auf dem Land wohnen will, mit dem Rauschen des Windes und den Schatten der Bäume, weg von den Menschen, weg von dem Trubel. Dass ich mir nicht vorstellen kann, zuhause zu bleiben. Dass ich nicht weiß, ob ich ein Kind bekommen will. Mutter werden, denke ich. Dass ich nicht sicher bin, ob wir uns reichen werden. Ob zwei Menschen sich reichen müssen.