Gommer Winter

Text
Aus der Reihe: Ein Fall für Kauz #2
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kaspar Wolfensberger

Gommer Winter

Der zweite Fall für Kauz

Kampa

Die Handlung dieses Romans ist reine Fiktion. Alle in der Erzählung auftretenden Figuren, auch wenn sie ortstypische Namen tragen, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und wahren Begebenheiten wären rein zufällig.

Einzelne Gebäude, Örtlichkeiten und Flurnamen, denen im Rahmen dieser Kriminalgeschichte eine Bedeutung zukommt, sind realen Objekten, Orten und Bezeichnungen im Goms nachempfunden, existieren in der beschriebenen Form jedoch nicht.

PROLOG

Der Galenstock glimmt im letzten Abendlicht. Noch wölbt sich der Himmel blau über der Furka. Im Westen aber türmen sich dunkle Wolken, das Weisshorn ist kaum noch zu sehen. Die verschneiten Lärchen und Fichten auf beiden Talseiten stehen längst im Schatten. Feiner Nebel liegt über dem Rotten, der jungen Rhone. Durch das bläuliche Weiß der Talsohle ziehen sich Loipe und Wanderweg. Sie sind zu dieser Tageszeit nahezu verwaist. Nur vereinzelte Langläufer und ein paar wenige Wanderer sind noch unterwegs und streben den Dörfern zu.

Eisiger Wind kommt auf.

Zwei Spaziergänger in Schneestiefeln ziehen die Kapuzen hoch. In ihren langen weißen Daunenjacken sehen sie aus wie Schneemänner. Einer zeigt mit ausgestrecktem Arm zur Holzbrücke, die abseits von Loipe und Winterwanderweg über den Rotten führt. Die beiden Gestalten verlassen den Wanderweg und stapfen durch den Schnee über die Ebene. Sie betreten die Brücke. In der Mitte des schmalen Stegs bleiben sie stehen, treten ans Geländer und wischen den Schnee von der Brüstung. Weit vorn übergelehnt schauen sie auf den Rotten. Um die mit Schneehauben bedeckten Steine im Fluss herum gurgelt das Wasser.

Plötzlich richtet sich der eine Schneemann auf. Der andere dreht sich, noch halb übers Geländer gelehnt, nach ihm um. Der erste hält auf einmal etwas in der Hand, holt aus und stößt heftig damit zu. Der zweite greift sich ans den Hals, an die Brust, taumelt und geht in die Knie. Er rappelt sich hoch und schleppt sich dem Geländer entlang zurück. Umsonst: Er wankt und stürzt neben der Brücke in die Tiefe.

VORSAISON
Mittwoch, 5. Dezember

Von seinem Schneespaziergang zurück, saß Kauz in der Schlafkammer im Oberbau seines kleinen Speichers und schaute zum Fenster hinaus. Die dunkeln Wolken im Westen türmten sich höher, das Weisshorn war jetzt gar nicht mehr zu sehen. Nah und fern gingen die Lichter an. Die Wetter-App auf seinem Smartphone kündigte für die Nacht weiteren Schneefall an.

Gut, dachte er. Wir haben lange auf den Winter gewartet.

Seit bald zwei Wochen war er nun wieder im Goms. Er hatte sich vorgenommen, den Gommer Winter von Anfang an auszukosten. Den Wettervorhersagen vertrauend, hatte er damit gerechnet, dass schon Ende Oktober Schnee fallen würde. Er hatte sich vorgenommen, gleich den ersten Langlaufkurs der Saison zu buchen. Mit Waldläufen, Krafttraining und Gleichgewichtsübungen hatte er sich schon im Herbst dafür abgerackert. Er brannte darauf, seine Langlauftechnik aufzufrischen und dann den ganzen Dezember auf den Brettern zu stehen. Noch bis Ende Jahr war er freigestellt. Dann musste er sich entscheiden. Sollte er seinen alten Posten bei der Zürcher Kriminalpolizei wieder antreten oder nicht? Seine ehemalige Vorgesetzte, die ihn im Sommer gefeuert hatte, war auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Ihr Nachfolger ad interim, Senn, hatte ihn fast auf Knien gebeten zurückzukommen und ihn mit einem großzügigen Angebot geködert. Aber auch Bonvin, der Chef der Walliser Kriminalpolizei, hatte ihm eine Anstellung angeboten. Sollte er den Sprung ins Wallis wagen?

»Einen erfahrenen Kriminalpolizisten können wir immer brauchen, erst recht einen Walpen«, hatte Bonvin noch im Sommer gesagt, obwohl ihm Kauz’ siebenundfünfzig Jahre bekannt sein mussten. Bonvin hatte ihm für die Hilfe bei der Aufklärung des Mordfalls Imfang gedankt. Einen Walpen, damit hatte er auf Kauz’ Herkunft angespielt. Sein Vater war ein Gommer gewesen. Kauz selbst war im Herzen mindestens zur Hälfte einer, aber von der Sprache her unüberhörbar ein Zürcher. Ob man einen Üsserschwiizer im Walliser Polizeikorps überhaupt akzeptieren würde?

Alle Wettervorhersagen hatten Schnee in großen Mengen für die letzte Novemberwoche angekündigt. Doch als Kauz am letzten Sonntag des Monats im Goms eintraf, präsentierten sich die Berghänge in tristem Braun, die Felder in schmutzigem Grün. Die rosarot bemalten Markierungsstangen, die im Tiefschnee den Winterwanderweg weisen sollten, standen unnütz in der Landschaft. Eine Loipe, im Oktober eilig präpariert, als wirklich etwas Schnee fiel, hielt sich dank eisiger Nächte noch immer. Doch die Schneedecke wurde dünner und dünner. In der Nähe der ehemaligen Flugfelder standen zwei Schneekanonen, die tonnenweise Kunstschnee produzierten. Auf Lastwagen verfrachtet, wurde damit die Loipe ausgebessert. Bauern schoben mit ihren Traktoren Schneereste von den Feldern auf das schmale weiße Band, das sich durch die Talsohle zog, und halfen ebenfalls mit, die dürftige Loipe zu konservieren.

Sonderbare Welt, dachte Kauz. Was die Gommer Bauern vor fünfzig Jahren wohl zu diesem Treiben gesagt hätten?

Mit Max, seinem schwarzen Collie-Mischling, war er in den Tagen nach seiner Ankunft durch Münster und die Nachbardörfer gestreunt. Statt über Schneefelder waren sie über dürres Gras gewandert. Die Lärchen an den Bergflanken hatten ihr goldenes Herbstkleid schon abgestreift, doch war es tagsüber frühlingshaft mild. Hätte er das geahnt, wäre er mit seiner alten BMW statt mit der Bahn ins Goms gefahren.

Die Ellbogen auf dem Fensterbrett, den Kopf in die Hände gestützt, beobachtete Kauz das faszinierende und etwas unheimliche Wetterschauspiel im Westen. Was sich da ankündigte, war heftiger Schneefall, vielleicht gar ein Sturm. Er löste den Blick vom Horizont und streichelte Max, der unter dem Fensterbrett hervorgekrochen kam und ihn mit seiner feuchten Schnauze anstupste.

»Guter Kerl«, sagte Kauz und schnippte mit den Fingern. Er stand auf und ging mit ihm in den Unterbau des Speichers.

Drei Tage zuvor, am Sonntag, war ihm um den Hund angst und bange gewesen. Er hatte sich auf der Sonnenterrasse der Alpenrose niedergelassen, auf der er im Sommer oft gesessen hatte. Es roch nach welkem Gras. Denn die Sonne wärmte die schneelose Erde und entlockte ihr einen alles andere als winterlichen Duft. Es hätten nur die Gleitschirmsegler am Himmel und die gepressten Heuballen auf den Feldern gefehlt, und Kauz hätte sich wie im Sommer gefühlt.

Er krempelte die Ärmel hoch und nahm einen Schluck vom kalten Bier. Und das am zweiten Dezember! Es war irgendwie unwirklich.

Er bemerkte den Jungen nicht, bis er direkt vor ihm stand.

»Salü«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen.

»Damian?!«, rief Kauz erfreut. Mit dem Jungen verband ihn seit dem Sommer eine besondere Geschichte. »Du möchtest sicher Max ausführen«, sagte Kauz schmunzelnd und gab ihm die Hundeleine in die Hand. Stolz zog der Junge davon.

Kauz schaute ins Tal hinunter. Das Einzige, was aus dem Rahmen des sommerlich anmutenden Bildes fiel, war das weiße Loipenband, das sich durch die halbverdorrte Rottenebene schlängelte.

Grotesk, dachte Kauz.

Aber wem wollte man es verübeln? Das Goms war auf die Wintersportgäste angewiesen. Andernorts wurden Rennpisten mit weit mehr Aufwand aus dem Boden gestampft, damit ein Skirennen durchgeführt werden konnte, nach dem die Fernsehwelt gierte. Hier waren nur zwei Schneekanonen und ein paar Lastwagen im Einsatz. Auf einem kurzen Loipenabschnitt war eine Beschneiungsanlage installiert. Das Resultat ließ sich sehen, wenn man vom ungewohnten Anblick einmal Abstand nahm: Die Langläufer kamen allmählich, die Hotels begannen sich zu füllen, Loipenpässe wurden verkauft. Als ob richtig Winter wäre, glitten die Sportler über die Loipe, trotz sommerlicher Temperatur in voller Langlaufmontur.

Ein Zug der Matterhorn-Gotthardbahn fuhr in den Bahnhof von Münster ein. Fahrgäste stiegen aus und ein, auf dem Feldweg zwischen Straße und Bahngleis schlenderten Spaziergänger. Eine gute halbe Stunde war vergangen, seit Damian mit Max davongezogen war, da ertönte plötzlich wildes Gebell.

»Verdammter Köter!«, schrie eine Männerstimme.

Kauz hörte seinen Hund bellen, dann winseln, als ob er geschlagen würde. Jetzt hörte er Damian brüllen. Kauz schoss aus seinem Stuhl hoch und blickte in die Richtung des alarmierenden Lärms. Er sah den Jungen, keine fünfzig Meter entfernt, in der Biegung des Feldwegs stehen. Ein stämmiger Mann hatte Hund Max am Halsband gepackt und schlug auf ihn ein. Ein zweiter Hund, ein Rottweiler, umkreiste kläffend den Fremden, den Jungen und Max. Mutig fiel Damian dem Mann in den Arm, damit er den Hund losließ. Es gelang. Dafür erhob der Fremde jetzt die Hand gegen den Jungen. Der Rottweiler fletschte die Zähne.

Kauz rannte über die Straße, auf die kleine Gruppe zu.

»Was ist da los?!«, rief er.

»Verdammter Bengel!«, schrie der Mann jetzt den Jungen an, ohne von Kauz Notiz zu nehmen. »Das ist mein Hund!«

»Nein! Meiner!«, schrie Damian zurück. Er versuchte tapfer, sich dem Erwachsenen gegenüber zu behaupten, war aber den Tränen nah.

»Was fällt Ihnen ein?!« Kauz packte den Rüpel am Arm. Der Mann war stämmiger, aber nicht größer als Kauz.

»Was geht Euch das an?!«, schrie der Fremde mit hochrotem Kopf und riss sich los. »Der Bengel da hat meinen Hund gestohlen!«

»Der hat gar nichts! Das ist mein Hund!«

 

Verflixt. Der Fremde musste Max’ ursprünglicher Besitzer sein. Der Collie-Mischling war Kauz im Sommer zugelaufen. Er hatte länger nach seinem Besitzer gesucht, doch umsonst. Schließlich hatte er den Hund zum Tierarzt gebracht. Der hatte festgestellt, dass das Tier nicht gechippt und somit herrenlos war. Er implantierte ihm einen Chip, und Max war von Kauz adoptiert.

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Kauz den Jungen, um ihn aus seinem Schock zu holen. Damian war noch ganz außer sich.

»Der ist mir mit seinem Rottweiler auf dem Feldweg entgegengekommen«, erzählte er atemlos. Er schaute dabei nur Kauz an, nicht den Fremden, und musste beim Reden ein Schluchzen unterdrücken. »Max ist auf dem Feld herumgetollt. Der da hat ihn gesehen und gleich zu schreien angefangen. Max hat sich geduckt und ist langsam mit eingezogenem Schwanz zu dem Mann gegangen.«

»Eben!«, schaltete sich der Mann ein. Seine Sprache konnte Kauz nicht einordnen. Ein Gommer war er auf jeden Fall nicht. »Ist doch klar! Der Köter hat ein schlechtes Gewissen. Das soll er auch! Er ist mir auf einer Bergwanderung abgehauen!«

»Er hat Max am Halsband gepackt und auf ihn eingeschlagen!«, berichtete Damian empört.

»Ach, halt die Klappe!«, schnappte der Mann. »Du hast meinen Filou geklaut. Irgendwann im Sommer. Entführt hast du ihn! Aber jetzt habe ich dich erwischt, du Bengel! Meinen Filou nehme ich sofort mit. Und du kannst was erleben! Dich zeige ich an!«

Damian suchte verdattert Kauz’ Blick. Der Junge war ein gebranntes Kind. Sein Vater, Fritz Pfefferle, genannt dr Güggäl, war ein notorischer Choleriker. Mit ihm hatte Kauz im Sommer so seine Erfahrungen gemacht. Aber mittlerweile hatte er ihn fast schon ins Herz geschlossen. Und seinen Sohn Damian erst recht.

»Nun mal langsam«, sagte Kauz ruhig und bestimmt. »Wie gesagt, das ist mein Hund …«

»Nichts da!«, rief der Mann aufgebracht, »der gehört mir!«

Derweil kläffte der Rottweiler wild und sprang an seinem Herrn und Meister hoch. Der trat ihn nur kurz in den Bauch. Der Rottweiler verdrückte sich winselnd. Kauz und Damian trauten ihren Augen nicht. Aber noch ehe sie etwas zu dem Kerl sagen konnten, fuhr der fort:

»Soll ich es beweisen?«

»Bitte schön!«, sagte Kauz, äußerlich gelassen, aber ihm wurde langsam mulmig.

»Also gut. Sehen Sie selbst!«, sagte der Mann, schon im Voraus triumphierend. Und damit entfernte er sich, seinen Rottweiler bei Fuß nehmend, von den beiden. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und drehte sich um.

»Filou!«, rief er barsch.

Max, der hinter Kauz und Damian in Deckung gegangen war, spitzte die Ohren, blieb aber stocksteif stehen und fixierte furchtsam den Mann.

»Hier!«, befahl der. Und da Max sich nicht gleich rührte, schrie er: »Ich will dir gleich …! Sitz! Aber sofort!«

Der Hund gehorchte aufs Wort.

Kauz konnte es kaum glauben.

»Platz!«, rief der Mann.

Max legte sich platt auf den Boden.

Kauz schnürte es den Hals zusammen.

»Und jetzt: Bei Fuß!«

Max stand auf und begann in geduckter Haltung und mit eingezogenem Schwanz auf den Mann zuzuschleichen, den Bauch fast am Boden. Dem Mann ging das zu langsam. »Wird’s bald?«, schimpfte er. »Fuß hab ich gesagt! Bei Fuß!«, rief er erneut und schlug sich mit der flachen Hand auf den linken Oberschenkel. Max duckte sich tiefer und schlich zögernd auf den Mann zu. Er war jetzt genau in der Mitte zwischen den beiden Männern.

»Max!«, rief da Kauz.

Max hielt an und sah sich nach ihm um.

»Filou!«, brüllte der Mann.

Mit Max geschah etwas Eigenartiges. Er schien in große Not zu geraten. Eine Weile sah es aus, als zerreiße es ihn. Er drehte sich nach dem jeweiligen Rufer um und setzte dazu an, entweder mit erhobenem Kopf stracks zu Kauz zurückzukehren oder unterwürfig zu dem Mann hinüberzukriechen. Jedes Mal, wenn Kauz rief, richtete er sich auf und setzte zu einem Galopp an. Schrie aber der Mann, so brach er seinen Lauf ab, machte kehrt, duckte sich von Neuem und klemmte den Schwanz noch stärker zwischen die Beine. Er konnte dem alten Reflex nicht widerstehen, dem Mann zu gehorchen und sich ihm zu unterwerfen. Trotz oder wegen seiner Angst vor Schlägen.

»Max«, sagte Kauz. Laut, aber ruhig. »Komm her!«

Er ging in die Knie und streckte die Hand aus. Wie bei seiner allerersten Begegnung mit dem damals verdreckten und verschreckten Tier oben am Berg. Max, völlig verunsichert, kam vorsichtig näher. Genau wie damals.

Kauz’ Widersacher nahm eine drohende Haltung ein.

»Filou!«, brüllte er, außer sich. Er hob den Arm und holte aus, als werfe er mit einem Stein nach dem Hund. Max hatte sich wieder gedreht, blieb im Kriechen stehen, schaute den Mann an, winselte leise und wich zurück, traute sich aber nicht wegzulaufen.

»Filou! Fuß! Marsch jetzt! Aber dalli!«

»Max!«

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, wandte sich Max mal nach hüben, mal nach drüben, begann zu laufen oder winselnd zu kriechen. Gleich darauf brach er die Bewegung wieder ab. Das ging immer schneller, bis er sich wie verrückt um sich selber drehte. Auf einmal hockte er sich, genau in der Mitte zwischen den zwei Männern auf den Boden und kratzte sich am Kopf. Als habe er eine Entscheidung gefällt, gab er sich plötzlich einen Ruck: Er sprang auf die Beine – und rannte aus voller Kraft auf Kauz zu. Die wütenden Befehle des Mannes kümmerten ihn mit einem Mal nicht mehr. Er sprang an Kauz hoch, dann an Damian. Enthusiastisch versuchte er, jedem der beiden das Gesicht zu lecken, und da die es nicht zuließen, leckte er ihnen die Hände. Dann hockte er sich zwischen die beiden und schaute hechelnd mal zum einen, mal zum anderen hoch. Schließlich drückte er sich mit der Schulter fest an Kauz’ Bein und verharrte, heftig atmend, auf der Stelle.

Der Grobian konnte befehlen und schreien, soviel er wollte, Max ignorierte ihn ab da, als wäre er ein vollkommen Fremder.

»Das mit der Anzeige lassen Sie besser bleiben«, sagte Kauz, als der Mann sich an ihnen vorbeidrückte.

»Ich denke ja nicht dran!«

»Wie Sie meinen. Aber dann müssen Sie mich anzeigen, nicht den Jungen. Walpen ist mein Name. Ich wohne hier in Münster an der Langen Gasse. Und Ihr Name ist?«, fragte er schroff. Er schlug absichtlich einen autoritären Ton an.

»Hinz«, antwortete der Mann wie aus der Pistole geschossen. Dann schien er zu merken, dass er Kauz gerade gehorcht hatte. »Walliser Grossrat, falls es Sie interessiert«, schob er nach, um etwas an Statur zurückzugewinnen.

Interessiert mich einen Dreck, dachte Kauz.

»Soso«, sagte er stattdessen. »Respekt!«, aber sein Sarkasmus war nicht zu überhören.

»Komm, Macho, wir gehen!«, sagte Hinz zu seinem Rottweiler und ging ohne weitere Worte davon.

»Was ist das für einer?«, fragte Kauz. »Kennst du den?«

»Kenä va hiä«, antwortete Damian. Das sei keiner von hier. »Än Hoornoggs, än värrukktä«, lautete sein Schluss.

»Gut, dass du dich gewehrt hast! Sonst hätte ich jetzt keinen Max mehr. Danke«, sagte Kauz, drückte dem Jungen die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Der wischte sich verstohlen eine Träne weg.

Eine kleine Menschentraube, die sich zehn, zwanzig Meter entfernt gebildet hatte, löste sich wieder auf.

Glücklich ging Kauz mit Max in den Speicher.

Der schöne, uralte Holzbau an der Langen Gasse hatte seinem Freund Wendel Imfang gehört, der im Sommer ermordet worden war. Kauz spürte immer noch Traurigkeit und einen Anflug von schlechtem Gewissen, wenn er den Speicher betrat. Aber Mutter Imfang meinte, es wäre bestimmt ganz im Sinne Wendels, wenn er den Speicher bewohne. Im Unterbau hatte Kauz im Herbst vorsorglich einen kleinen Stahlholzofen mit Backfach und Kochstelle aufgestellt. Frau Imfang war bereit, die Kosten für das Kaminrohr zu übernehmen, das dafür eingebaut werden musste. Im Oberbau war an einer Wand der Schlafkammer seit je ein elektrischer Heizstrahler montiert. Vor dem Speicher war genügend Brennholz gestapelt. Er war also wintersicher eingerichtet.

Wenn Kauz mit Einheimischen plauderte – doorffä nannte man das im Goms –, kam man unweigerlich aufs Wetter zu sprechen. Da hörte er die widersprüchlichsten Kommentare. Die einen sagten voraus, weiße Weihnachten könne man vergessen. Es sei gut möglich, dass in diesem Winter überhaupt kein Schnee mehr falle. Das wäre eine Katastrophe, nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Erde, der Boden sei vollkommen ausgetrocknet. Aber was wolle man machen? Man müsse es nehmen, wie es komme. Es wäre ja nicht das erste Mal. Auch anno 1964 habe es kein einziges Mal geschneit. Papperlapapp, sagten andere, der Schnee komme bestimmt, sogar der ganz große Schnee! Man müsse sich auf alles gefasst machen. Es könne durchaus so kommen wie im Lawinenwinter 1999. Oder im fatalen Jahr 1970. Das wäre dann eine Katastrophe.

Katastrophe, so oder so?, dachte Kauz. War das Gommer Pessimismus? Oder bäuerliches Jammern auf Vorrat?

Wenn einer den Winter 1970 erwähnte, spürte Kauz eine Beklemmung in der Brust. Bei dem gewaltigen Lawinenniedergang auf Reckingen waren viele Menschen ums Leben gekommen, darunter zwei entfernte Verwandte von ihm. Das Unglück hatte das ganze Land erschüttert. Er war damals fünfzehn, sein Vater lebte schon nicht mehr. Für Jahre war das Goms danach tabu gewesen, denn Mutter hatte ihm verboten, je wieder Ferien bei den Großeltern in Reckingen oder bei Onkel und Tante in Ernen zu verbringen. Im Goms hole man sich den Tod, hatte sie gesagt. Der Bann verlor erst Jahrzehnte später seine Kraft.

Noch bevor der Schnee kam, war Kauz mit Hund Max nach Reckingen marschiert. Im Sporthotel Galenblick herrschte schon reger Betrieb. Denn dort waren die Teilnehmer des Saisoneröffnungskurses einquartiert. Die mit dem bescheideneren Budget wurden in der Alpenrose in Münster untergebracht, das eigens auf diesen Zeitpunkt hin öffnete. Der Galenblick stand im Dorfteil Uberrotten, also jenseits des Rotten. Das Haus war dem traditionellen Gommer Holzbaustil nachempfunden, ein komfortables Sporthotel mittlerer Größe mit erstklassigem Restaurant. Vor zwei Jahren war ein Erweiterungsbau mit Wellnessbereich und Fitnessraum eröffnet worden, ein für Gommer Verhältnisse geradezu avantgardistischer kubischer Bau, der viel zu reden gab. Gleich daneben lag das Sporthaus Steffen mit der Langlaufschule. In fast jedem Dorf des Obergoms gab es ein Sportgeschäft, und die meisten boten auch Langlaufunterricht an. Aber nur die Langlaufschule Steffen hatte schon in der Vorsaison Kurse im Programm. Kauz ging zu Steffen Sport, um sich eine Langlaufausrüstung zu besorgen und für den ersten Kurs einzuschreiben.

Carlo Steffen bediente ihn persönlich.

»Klassisch oder Skaten?«, fragte er als Erstes.

»Wie bitte?«, fragte Kauz zurück.

Carlo Steffen schaute ihn verdutzt an und kratzte sich am Hinterkopf. Dann nahm er die Kursausschreibung zur Hand und öffnete sie auf der Doppelseite mit den Fotos.

»Laufen Sie so?«, fragte er und zeigte auf den Sportler, der sich auf seinen Brettern elegant in der Loipenspur fortbewegte. »Oder so?«, und jetzt tippte er auf die junge Frau, die mit gegrätschten Beinen vollkommen neben der Spur daherflog.

»Ach so«, machte Kauz. Jetzt entsann er sich, dass er am Fernsehen einmal ein Langlaufrennen verfolgt hatte, in welchem sich die Läufer in diesem modernen Stil abrackerten. Er war seit seiner Kindheit nicht mehr auf Langlaufskiern gestanden. Dieses Skaten war vollkommen an ihm vorbeigegangen, das hatte in seiner Jungend kein Mensch praktiziert.

»Nein, nein«, erklärte er. »So«, und zeigte auf den Mann. »Einfach langlaufen, ganz normal.«

»Alles klar«, lachte Steffen.

Carlo Steffen war ein Mann um die fünfzig, der vor Kraft und Frohmut nur so strotzte. Er war einst ein Elitesportler gewesen, der fast alle Langlaufwettkämpfe im In- und Ausland gewonnen hatte, die es zu gewinnen gab. Die Langlaufwelt kannte und bewunderte ihn. Man riss sich darum, von ihm trainiert oder im Laden von ihm beraten zu werden.

Eine halbe Stunde später hatte Kauz Langlaufjacke, Hose und Handschuhe gekauft und alles, was es sonst noch brauchte. Ein Paar klassische Langlaufskier samt dazugehörigen Schuhen gab ihm Steffen zum Ausprobieren mit.

»Wir sehen dann im Kurs, ob du damit zurechtkommst«, erklärte er. Nachdem Kauz ihm gesagt hatte, dass er sich für einen Kurs einschreiben wolle, war Carlo Steffen sofort zum Du übergegangen.

 

»Kauz heißt du?« Dann ging ihm ein Licht auf: »Ach so, dann bist du dr Chüzz«, lachte er. »Von dir habe ich gehört. Thomas hat mir von dir erzählt.«

Kleine Welt, dachte Kauz. Hier oben kennt jeder jeden.

Thomas Abgottspon war der Mann der Polizistin Ria Ritz. Mit ihm hatte er im Sommer Freundschaft geschlossen. Schon im Herbst hatte Thomas angekündigt, er werde regelmäßig auf der Loipe anzutreffen sein. Nicht wenige Paraplegiker frönten im Goms dem Langlaufsport.

Mit Chüzz, Gommertitsch für Kauz, sprachen ihn nur Ria und Thomas an. Dass man ihn seit frühester Jugend Kauz nannte, hatte mit seinem eulenartigen Blick zu tun: Er litt an einer angeborenen Schwäche der Lider, weshalb er die Augen nicht ganz öffnen konnte. Das verlieh ihm einen verschlafenen Gesichtsausdruck, selbst wenn er hellwach war. Seinen Taufnamen konnte er nicht ausstehen. Er stellte sich deshalb stets mit dem Spitznamen vor, der ihm bei den Pfadfindern verpasst worden war: Kauz. Auch für alle seine Polizisten war er einfach »der Kauz« gewesen.

In der Nacht nach der denkwürdigen Begegnung mit dem Walliser Grossrat Hinz gab es einen Temperatursturz. Am Montag, nach zehn Tagen frühsommerlicher Wintervorsaison, begann es sachte zu schneien. Zwar waren es bloß einige Zentimeter, aber das Goms war weiß überzuckert. Die Menschen freuten sich wie die Kinder, als sie am Dienstagmorgen aus den Fenstern sahen. In der Nacht auf Mittwoch fiel nochmals Schnee, insgesamt waren es jetzt schon gut und gern zwanzig Zentimeter. Schneepflüge räumten die Straßen, Pistenfahrzeuge waren unterwegs. Jedermann schippte vor der Haustür Schnee. Für Gommer Verhältnisse handelte es sich um eine bescheidene Menge, aber für die kommenden Stunden war nochmals Schneefall angesagt, und das nicht zu knapp. Der Winter war da!

Kauz streichelte Max den Kopf. Dann kraulte er seine Brust, dort, wo der weiße Fleck war. Er schaute auf die Uhr. Der Apéro für die Kursneulinge war auf sieben Uhr im Galenblick angesagt. Daran wollte er teilnehmen, auch wenn er auf so was sonst nicht scharf war. Denn bei diesem Anlass wurden die Informationen zum Langlaufkurs gegeben, der morgen anfing.

Er führte Max Gassi. Als er mit ihm zurück war, sagte er: »Ich geh weg«, und hob den Zeigefinger, was so viel hieß wie: Und du bleibst da! Max legte den Kopf schief, spitzte die Ohren und sah sein Herrchen aufmerksam an. Kauz füllte den Futternapf und stellte frisches Wasser hin. Dann ging er zum Bahnhof und nahm den Zug nach Reckingen.

Es war kein Problem gewesen, statt am allerersten erst am dritten Kurs des Winters teilzunehmen. Im Grünen Langlaufen zu gehen, hatte Kauz nicht gereizt. Die Frau, die die Administration der Langlaufschule besorgte, hatte ihn zwei Tage zuvor ganz unkompliziert umgebucht.

»Kein Problem, Herr Walpen«, hatte sie gesagt. »Sie haben das Kursgeld ja schon bezahlt. Kurs ist Kurs, das Datum können Sie frei wählen. Kursteilnehmer und Belegschaft sagen sich übrigens Du. Einverstanden?«

»Klar.«

»Zara«, sagte sie. Mit ernstem Gesicht streckte sie die Hand aus.

»Kauz.«

»Kauz?«

So ging es immer. Er hatte sich längst daran gewöhnt.

»Ja.«

»Witziger Name«, sagte sie, hob den Blick und musterte ihn. Sie musste sich ein Lächeln verbeißen. »Dein Spitzname?«

Kauz nickte.

Zara war eine brünette, sportliche Frau mit einem aparten, etwas kantigen Gesicht. Sie mochte knapp vierzig sein. Ihr Mund war voll und breit, doch sie zog die Mundwinkel, wenn sie auf den Bildschirm blickte, nach unten. Das verlieh ihr einen seltsam beleidigten Ausdruck. Ihre braunen Augen mit den kräftigen Brauen standen eher nah beisammen. Zara schielte ein ganz klein wenig; Kauz fand das irgendwie reizvoll.

»Machst du nur die Administration oder …?«

»Was heißt da nur?«, unterbrach sie ihn. Sie sah vom Bildschirm auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Nein, ich arbeite auch im Laden. Verkauf, Vermietungen, Bestellungen und so. Aber du liegst nicht falsch, mein Hauptjob, das sind die Kurse. Da ist recht viel los, glaub mir. An jedem Kurs nehmen fünfzig, sechzig Schwänze teil, in der Hochsaison hundert und mehr.«

Kauz staunte. Und fragte sich, ob er richtig gehört habe. Hatte sie wirklich Schwänze gesagt?

»Wieso fragst du?«, fragte sie.

»Ich wollte bloß wissen, ob du auch Langlaufunterricht gibst«, erklärte er und versuchte charmant zu lächeln. Er hätte sie sich gut als Sportlehrerin vorstellen können.

»Schön wär’s«, sagte sie und warf ihm, über einen Papierausdruck neben dem Computer gebeugt, von unten herauf einen Blick zu. »Würde ich gern«, meinte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber leider nein.«

»Schade«, sagte er augenzwinkernd.

Für Kauz’ Verhältnisse war das schon fast eine Anmache. Die Frau hatte etwas sonderbar Verführerisches an sich. War es ihr herber und melancholischer Gesichtsausdruck, der ihn an eine französische Filmschauspielerin erinnerte? Wie hatte die schon wieder geheißen?

Na, egal!, stellte er sogleich fest und schob allfälligen inneren Regungen einen Riegel vor: Ein Kapitel Zara würde es in seinem Leben nie geben. Auch wenn sie ihm einen Blick zugeworfen hatte, auch wenn er zurückgezwinkert hatte. Nach seiner Scheidung hatte er den Frauen, und damit auch jeder Art von Liebelei, abgeschworen. Sein Leben als Mönch, wie er es manchmal nannte, war denn auch entschieden einfacher, als es das mit Chantal gewesen war. Und mit all den anderen davor. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren konnte er das Kapitel Frauen getrost seinem Sohn überlassen. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte Xaver seit Herbst eine Freundin. Die gönnte er ihm von Herzen. Und zwar neidlos.

Nun ja, Frauenfreundschaften wollte er nicht ausschließen. Das war etwas anderes. Ria Ritz, die Chefin des Polizeiposten Goms in Fiesch, war ja auch eine Freundin geworden.

Der Papierkram war rasch erledigt gewesen. Zum Schluss sagte Zara: »Verpass den Apéro nicht! Der findet am Vorabend des Kurses im Hotel Galenblick statt. Dort hörst du alles, was du wissen musst.«

*

Zara war immer noch etwas außer Atem. Als im Laden und im Schulbüro Flaute herrschte, war sie an die frische Luft gegangen und hatte sich ausgetobt. Sie hatte gedacht, sie würde sich danach besser fühlen. Es war ein langer, ein nervenaufreibender Tag gewesen. Der zweite Kurs des Winters war am Mittag zu Ende gegangen, morgen würde der dritte beginnen. In einer Stunde musste sie beim Apéro für die Neuen assistieren. Ihr Arbeitstag war noch nicht zu Ende.

Sie stand am Waschtisch im Badezimmer ihrer kleinen Wohnung und wusch sich gründlich die Hände. Dann strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn und musterte im Spiegel ihr Gesicht. Glücklich machte sie der Anblick nicht.

Manconi hatte recht, dachte sie: Ich sehe verbittert aus! Ist ja wohl kein Wunder. Aber sie entdeckte nichts, was hätte in Ordnung gebracht oder kaschiert werden müssen. Schminke und solches Zeug hatte sie sowieso nicht. Sie richtete Zahnbürste, Kamm und alle anderen Toilettenutensilien peinlich genau aus, sodass jedes Stück senkrecht zur Waschtischkante und zum Spiegel lag oder stand, strich das Handtuch über der Stange glatt und wusch sich ein weiteres Mal gründlich die Hände.

In Gegenwart von andern konnte sie sich recht gut zusammennehmen. Aber wenn sie allein war, nahm ihr Tick, der ihr seit ein paar Wochen zu schaffen machte, überhand. Heute war er noch stärker als sonst. Eine ausgewachsene Zwangsstörung sei es nicht, hatte Manconi gesagt, aber es könnte sich eine daraus entwickeln, wenn sie nicht lerne, den Impulsen zu widerstehen.

Sie trocknete sich die Hände und zog dann resolut ihre Trainingskleidung aus. Sie schob alles, was sie getragen hatte, in die kleine Waschtrommel neben der Badewanne und ließ die Maschine laufen. Dann stellte sie sich unter die Dusche und seifte sich energisch von Kopf bis Fuß ein. Bald fühlte sie sich wie neu geboren.