Gin - Alles über Spirituosen mit Wacholder

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Gin - Alles über Spirituosen mit Wacholder
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Aperitif

Über die letzten Jahrzehnte hin betrachtet führte Gin weitestgehend ein Schattendasein gegenüber Spirituosen wie Wodka, Rum oder Whiskey, doch seit dem Jahrtausendwechsel bringt er sich wieder zunehmend in Erinnerung und hält seither verstärkt Einzug in die Bars. Daran hat nicht zuletzt die wieder auflebende Barkultur einen bedeutenden Anteil. Alten Cocktailrezepturen mit Gin wird wieder neues Leben eingehaucht und sowohl Cocktail-Connaisseure als auch die Bartenderzunft können sich dieser Tage an einem wesentlich breiteren Spektrum an Spirituosen, Likören, Bitters und Softdrinks aller Art erfreuen.

Sucht man jedoch nach wohlfundiertem Wissen über Gin, stellt sich ­alsbald heraus, dass Werke zu diesem Thema rar gesät sind. Ein Nachschlagewerk, das umfassend über Gin, Genever, Old Tom und zum Beispiel auch Wacholderbrände Auskunft geben könnte, fehlte bisher gänzlich. Dieser Mangel an einem Fachbuch über die Gesamtheit der Wacholderspiritu­osen ließ die Idee für dieses Buch entstehen, das sowohl die Lücke in den Büchersammlungen über Weine und feine Brände schließen als auch der neuen «E-Gineration» als ausgiebige Wissensquelle dienen soll.

Für jeden interessierten Genießer ist es zweifelsohne eine Bereicherung, mehr über das in Erfahrung zu bringen, was sich in den verschiedensten Wacholderspirituosen wiederfindet. Viele fragen sich irgendwann: Was kommt da außer Wacholderbeeren noch alles hinein? Woher kommen diese anderen Zutaten? Welche Geschichte steckt dahinter? Diese und viele andere Fragen sollen in diesem Buch beantwortet werden, denn es ist genau dieses Wissen, das bisher den Bartendern vorbehalten blieb. Es versetzt sie nämlich in die Lage, die jeweilige Spirituose besser zu verstehen und sie nicht nur entsprechend ihren Besonderheiten in Cocktails einzusetzen, sondern einfach besser zu «komponieren». Doch nun wird sich auch Ihnen die bislang geheime Welt des Gins mit all seinen Facetten öffnen.

Und über all dem weht ein Hauch von Geschichte, denn schließlich waren es Genever und später Gin, die die Cocktailära mit einläuteten und der Welt wahrhaft großartige Mixturen brachten. Man denke nicht nur an die große Zahl verschiedener Martini-Cocktails und die klang­vollen Klassiker, sondern dabei auch an die großen Filme Hollywoods – schließlich wäre wohl kaum ein Medium besser geeignet gewesen, um die glanzvolle Welt der Cocktails zum Schillern zu bringen.

Denken wir nur kurz zurück an die Zeiten, in denen Wodka unter den klaren Spirituosen völlig dominierte, während man den Gin fast gänzlich aus den Augen verloren hatte. Doch nun ist er der neue Star auf dem Parkett und präsentiert sich mit frischem Design sowie überraschender Vielfalt, sodass im Rückblick auf die letzten Jahre rückhaltlos von einer Gin-Renaissance gesprochen werden kann.

Von Letzterer profitiert übrigens auch der Genever. Ebenfalls über lange Zeit beinahe in Vergessenheit geraten, erstrahlt auch er wieder in neuem Licht und gibt heute Gelegenheit, alte Cocktailrezepturen mit Genever neu zu erleben. Höchste Zeit also für eine Hommage an die Wacholder­spirituosen!

Auf unserer Website www.gin-buch.de finden Sie aktuelle Neuheiten, Trends, erweiterte Informationen zum Buchinhalt sowie spezielle Anregungen. Doch nun umgeblättert und eingetaucht in die Welt des Gins!

Karsten Sgominsky und Thilo Brauer

Kapitel 1:
Historie

Der Gin verdankt sein Dasein dem holländischen Genever und dessen Geschichte reicht wiederum zurück bis ins 16. Jahrhundert. Aber wie kamen nun einstmals Wacholder und Spirituose zusammen und was geschah von da an weiter, was letztlich den Gin unserer Tage hervorbrachte? Diese Frage soll in diesem Kapitel beantwortet werden.

Destillation – die Anfänge

Schon in der Antike war die Wacholderbeere (lateinisch: Juniperus) als vielseitig einsetzbares Heilmittel bekannt und gehörte zum Repertoire der praktizierenden Ärzte, allen voran des Hippokrates (ca. 460 – 370 v. Chr.). Das erste komplexe europäische Werk über Medizin ist das griechische «Corpus Hippocraticum», eine Sammlung von Texten, die zu Lebzeiten von Hippokrates beginnend über die nachfolgenden Jahr­hunderte erweitert wurde und unter anderem Hinweise sowohl zur ä­ußeren Applikation als auch zur Einnahme von Beerenzubereitungen enthält, darunter solche mit Wacholder.

In den Jahrhunderten nach Christi Geburt wurde in Europa Medizin als Wissenschaft, abgesehen von einigen wenigen Einzelpersonen, fast überhaupt nicht beachtet, was im Hinblick auf die Bildung und allgemeine Versorgung auf diesem Gebiet nicht ohne Folgen blieb. Man halte sich das Europa der ausklingenden Spätantike (ca. 8. Jahrhundert n. Chr.) vor Augen: Ein Großteil der vorhandenen Schriften und Bücher fiel reli­giös motivierter Vernichtung und kriegerischer Zerstörung im Verlauf der Völker­wanderungen jener Epoche zum Opfer. Das dann nur noch spärlich vorhandene Kulturgut in Form von Schriftsammlungen über Medizin und Heilkunde war überwiegend in den Händen des Klerus. Kompetente Ärzte waren rar, denn diese wurden fast ausschließlich im arabisch-persischen Raum ausgebildet und deren Dienste konnten sich nur Herrscher, Adlige oder Reiche leisten. Das einfache Volk war also auf Wander­ärzte und örtliche Bader angewiesen, die Knochenbrüche ­richten konnten, kleinere chirurgische Eingriffe vornahmen, Zähne zogen und andere Heilpraktiken wie die Zubereitung von Mixturen und Elixieren anwandten. Das ließ natürlich viel Raum für zahlreiche Quacksalber und Scharlatane, die nichts weiter kannten als Aderlass und Scheinbehan­dlungen, ihre «Wundermedizin» verkauften und sich dann schnell aus dem Staub machten, sofern sie nicht schon vorher enttarnt und ­erschlagen wurden.

Erst im frühen Mittelalter regte sich neues Interesse am umfangreichen Wissensschatz von einst und es entstanden zwei Zentren der Natur­wissenschaften: Salerno im Südwesten Italiens am Tyrrhenischen Meer gelegen und Toledo im Zentrum der Iberischen Halbinsel.

Toledo profitierte von der Vielsprachigkeit seiner Bevölkerung und entwickelte sich dadurch zu einem Übersetzungszentrum arabischer und griechischer Schriften, die von den verschiedensten Wissenschaften handelten. Vornehmlich wurden sie ins Lateinische übersetzt und eine der namhaftesten Persönlichkeiten in diesem Genre war Gerhard von Cremona (1114 – 1187), dessen zahlreiche Arbeiten noch Jahrhunderte später Grundlage wissenschaftlicher Studien waren. Er war es auch, der das wohl bedeutendste medizinische Werk des Mittelalters dieser Region übersetzte: das bei Cordoba entstandene «al-Tasrif» des Abu ­I-Qasim Chalaf ibn al-Abbas az-Zahrawi (936 – 1013), alias Abulcasis, das dreißig Bände umfassend die arabischen und klassisch griechisch-­römischen Lehren kombinierte und die europäische Medizin bis zur ­Renaissance mitprägte.

Das kosmopolitische, wissenschaftlich aufgeschlossene maurische Spanien war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Medizin neben anderen Naturwissenschaften in Europa zunehmend nach dem Vorbild morgenländischer Schulen akademisiert wurde.

Salerno sah ebenfalls keine Universitätsgründung an sich, aber die Einrichtung eines Benediktinerklosters im nahe gelegenen Montecassino, in dem die Schriften griechischer Ärzte wie Hippokrates und Galenos sowie Texte aus arabischen Kulturen zusammengetragen, übersetzt und angewandt, jedoch größtenteils vorerst nicht weiterentwickelt ­wurden. Konstantin der Afrikaner (Constantinus Africanus, 1017 – 1087) war einer der Protagonisten, die für den Aufstieg Salernos als medizin­wissen­schaft­liches Zentrum durch Übersetzungen ins Lateinische als Kompendien verantwortlich zeichneten. Salerno wurde mit der Zeit durch Zuzug von Gelehrten und weiterer Anhäufung medizinischen Wissens zu einer bedeutenden Adresse für angehende Ärzte und Genesungsuchende. Hier entstand um 1150 eines der frühesten und bedeutendsten medizinischen Werke des Mittelalters aus europäischer Feder, das «Circa instans», das die Anwendung, Verarbeitung und ­Wirkung von fast 300 Arznei­pflanzen – darunter auch Wacholder – beschreibt und dem Arzt und Lehrer Matthaeus Platearius (gest. 1161) als Verfasser zugeschrieben wird, was aber nicht gesichert ist.

Für unsere Thematik von größerer Bedeutung ist jedoch das «Compendium Salerni» des Magister Salernus Aequivocus (gest. 1167), das er während seiner Schaffensperiode in Salerno (ca. 1130 – 1160) verfasste, denn es enthält einen der frühesten Nachweise einer Weindestillation, die «aqua ardens» – «brennendes Wasser» – ergab, das noch verhältnismäßig schwach alkoholisch und wohl kaum genießbar war.

Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250) des Heiligen Römischen Reiches war ein großer Förderer der Naturwissenschaften und erhob Salerno zu ­einer strukturierten Ausbildungsstätte, an der auch Frauen als Schüler, Lehrer und praktizierende Ärzte zugelassen waren.

Die Bedeutung von Toledo und Salerno besteht also darin, dass eine Vielzahl von Naturwissenschaften dem europäischen Raum zugänglich gemacht wurden, was dem Fortschritt auf vielen Gebieten zuträglich war. In Bezug auf das hier vorliegende Thema hat Salerno eine besondere Stellung, weil man sich dort über Jahrzehnte mit der Destillation befasste und die gewonnenen Erkenntnisse dem medizinischen Fortschritt zugutekamen.

Wacholder & aqua vitae

Das erlangte Wissen blieb nicht allein und exklusiv in Salerno, sondern verbreitete sich rasch nordwärts. Es erschienen mehrere Werke von Autoren, die nichts mit Salerno oder Toledo zu tun hatten, wie zum ­Beispiel das «Liber de natura rerum» («Buch der natürlichen Dinge») von Thomas von Cantimpré , einem in Brabant (im ­heutigen Belgien) geborenen geistlichen Gelehrten, der unter anderem die medizinische Wirkung von Wacholderbeeren und Wacholderöl beschrieb und sich hauptsächlich antiker Quellen bediente.

 

Ohne explizit genannt zu werden, diente von Cantimprés Werk dem ­Niederländer Jacob van Maerlant (ca. 1230 – 1300) als Hauptquelle, als dieser seine in Versform verfasste Naturenzyklopädie «Der naturen bloeme» zwischen 1266 und 1269 in Damme (bei Brügge) schrieb. Es handelt sich hierbei um die älteste Referenz in niederländischer ­Sprache, die Wacholder behandelt. Jüngsten Forschungen zufolge bezweckte er damit, den auf Griechisch und Latein begrenzten Kreis der für Wissenschaften verwendeten Sprachen um das Niederländische zu erweitern. In seinen Versen beschreibt van Maerlant, dass Wein oder Regen­wasser, in denen Wacholderbeeren gekocht wurden, gegen Bauchschmerzen und Magenkrämpfe hülfen. Destillation wird hingegen im ganzen Buch nur einmal genannt: Aus Wacholderholz destilliertes Öl sei eine reichhaltige Medizin, die zur Bekämpfung einer Vielzahl von Krankheiten, wie z. B. Fieber, Epilepsie oder Arthritis, tauge.

Interessant ist auch das Buch «Liber ignium ad comburendos hostes» («Buch des Feuers zum Verbrennen der Feinde»), über dessen Ent­stehungs­datum keine Einigkeit herrscht und als dessen Verfasser ein Marcus Graecus vermutet wird, über den historisch jedoch nichts ­bekannt ist. Im Grundtenor ins 12./13. Jahrhundert eingeordnet, ­beschreibt es hauptsächlich die Herstellung von Sprengpulvern und ­erwähnt ein aus Wein destilliertes «aqua ardens», dessen Entflammbarkeit durch das Hinzufügen von Schwefel erhöht werden kann und das die damals (und auch heute noch) bemerkenswerte Eigenschaft hatte, dass es, wenn man es auf ein Tuch träufelte und anzündete, brannte, ohne dabei den Stoff zu verbrennen.

Federführend bei der Verbesserung der Destilliertechniken war der ab 1264 in Bologna unterrichtende Arzt Taddeo Alderotti (auch als ­Thaddäus Florentinus bekannt), der diese insbesondere in seinem Werk «De ­virtutibus aquae vitae et eius operationibus» («Von den Tugenden des Lebenswassers und seinen Anwendungen») darlegte. Er entwickelte ein Kühlungssystem, was es ihm ermöglichte, hochprozentigen Alkohol zu ­gewinnen. ­Was bewirkte diese Kühlvorrichtung? Die Siedepunkte für Wasser und Alkohol sind unterschiedlich hoch. Will man aus dem zu destillierenden Wein den Alkohol herausfiltern, muss die Siedetemperatur von Alkohol (78,3 °C) erreicht werden, ohne aber die des Wassers (100 °C) zu erreichen, sonst steigen beide Dämpfe gleichzeitig auf, vermischen sich und kondensieren gemeinsam. Etwas mehr als 100 ­Jahre zuvor arbeitete Magister Salernus ohne Kühlung, weshalb ihm «nur» das «aqua ardens» gelang. Alderotti hingegen fand heraus, dass es ­unerlässlich ist, das Ablaufrohr ständig zu kühlen, um den Alkohol rasch kondensieren zu lassen, bevor er sich mit später aufsteigenden Wasserdämpfen vermischen kann. Nur das kontrollierte Zusammenspiel von Hitze und Kühlung lässt durch mehrfache Destillation reinen Alkohol entstehen und dieses Verfahren, das bis heute Grundlage der Alkoholdestillation ist, hat Alderotti entwickelt.

Taddeo Alderotti nannte sein destilliertes Wasser «aqua vitae» – ­Lebens­wasser –, welches nach mindestens vier Destillationen «perfecta» sei. Im Gegensatz zum «aqua ardens» verbrannte es ein darin ­getränktes Tuch vollständig. Er unterschied zwischen einfachem ­(«simplex» – also dem puren Destillat) und zusammengesetztem ­(«composita») ­Lebenswasser. Letzteres ging aus der Erkenntnis ­hervor, dass «aqua vitae» die Eigenschaft aufwies, die Heilkraft von Kräutern, Blüten und Wurzeln aufzunehmen, wenn man diese ins «aqua vitae» einlegte.

Es entstand also Wasser, das einen von innen wärmte; Wasser, das Heilkräfte besaß; Wasser, das von Feuer vertilgt wurde (und nicht ­umgekehrt!). War das der Weg zum Elixier der Unsterblichkeit? Leider nein. Alderotti pries zwar außerordentlich die vielseitige Wirkung der verschiedensten «compositas» auf die Gesundheit des Menschen und erachtete sie als lebensverlängernd, mahnte aber zu einem bedachten, dosierten, am besten mit Wein verdünnten Gebrauch dieses kraftstrotzenden Heilmittels.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Taddeo Alderotti mit seiner Entwicklung und dem daraus entstandenen Resultat eines hochprozent­igen Branntweins mit Heilwirkung sowohl der Medizin und Chemie ­entscheidend zum Fortschritt verhalf, als auch den Grundstein der Pharmazie und – im erweiterten Sinne – der Destillationsindustrie legte.

Pest und Medizin

Als die große Pestepidemie – der «Schwarze Tod» – von 1347 bis 1353 in Europa grassierte und ein Massensterben verursachte, dem ein Drittel der Bevölkerung Europas (ca. 25 Millionen Menschen) zum Opfer fiel, wurde fieberhaft nach Heilmitteln gesucht, denn selbst Gelehrte und Mediziner standen dieser Seuche hilflos gegenüber. Alte Schriften ­wurden konsultiert und unzählige Pflanzen zur Bekämpfung ausprobiert, darunter auch Wacholder, der in den verschiedensten ­Formen Anwendung fand. Man entfachte z. B. große Wacholderfeuer, die die Luft von Krankheitserregern reinigen sollten. In den Räumen mit Erkrankten wurden Wacholderzweige verräuchert, um zu desinfizieren und «böse Geister zu vertreiben». Elixiere aus Wacholderbeeren ­wurden gleichsam Pestkranken und den noch Gesunden gereicht, denn obwohl der Wacholder keine heilende Wirkung erzielte, so erwies er sich doch als probates Mittel zur Vorbeugung und Linderung. Während der nun über die Jahrhunderte in weiten Teilen Europas immer wieder ausbrechenden Pest wurde stark auf Wacholder zurückgegriffen.

Unter den Ärzten und Heilkundigen entwickelte sich eine neue Form der Prävention: Um sich vor Ansteckung zu schützen, trugen sie einen ­Komplettschutz in Form von langen Mänteln, Handschuhen, einem Stock (um die Erkrankten nicht direkt berühren zu müssen) und Kapuzen mit Schutzmaske, in die häufig ein «Schnabel» eingebaut war, der mit einer Mischung aus wohlriechenden Kräutern und Wacholderbeeren gefüllt war, um die pestilenzartigen Ausdünstungen der Erkrankten zu über­tünchen und antiseptisch zu wirken. Der Kupferstich «Doctor Schnabel von Rom» (1656) von Paul Fürst stellt diese Maskerade sehr anschaulich dar.


«Doctor Schnabel von Rom» Kupferstich über Schutz­bekleidung, Paul Fürst, 1656

Im Buch «Ein guts nuczlichs buchlin von aussgeprenten wassern» von Michael Puff von Schrick (ca. 1400 – 1473) wird die Eigenschaft des Weindestillats als Träger medizinischer Wirkstoffe wegweisend manifestiert, da der Autor nicht nur die Rezepturen nach Anwendung ordnet, ­sondern auch vielseitig den Branntwein und dessen Wirkung auf den Körper lobpreist: «Wer alle Morgen trinkt in halben Löffel vol gepranten weins der wird nimmer krank.» Er bemühte sich um die ­Vervielfältigung und Zugänglichkeit des in seinem Buch übersichtlich zusammengetragenen medizinischen Wissens, um damit den Ruf des Berufsstandes Arzt und das Volk vor Kurpfuschern zu schützen. Dieser Wunsch sah sich ­allerdings erst kurz nach seinem Tode erfüllt, als sein Buch – begünstigt durch den von Johannes Gutenberg um 1450 erfundenen maschinellen Buchdruck mit beweglichen Lettern – erstmalig gedruckt und mehrfach neu verlegt wurde.


«Das buch der waren kunst zu distillieren» Hieronymus Brunschwig, Straßburg 1512

Ein beachtlicher Meilenstein sind zweifelsohne die beiden Werke des Straßburger Wundarztes Hieronymus Brunschwig (ca. 1450 – 1512), «Das Buch der rechten kunst zu distilieren die eintzige ding» («Kleines Destillierbuch», 1500) und «Das buch der waren kunst zu distillieren» (1512). Hier schreibt er ausführlich über die «fünfte Essenz» und «aqua vitae composita», für das man Kräuter und Beeren in mehrfach destillierten Wein einlegt (mazeriert) und anschließend destilliert. Seine Werke wurden in der Folge oft ­kopiert und übersetzt, da sie in vielerlei Hinsicht als fundamentale Vorlage über das Destillieren und Extrahieren pflanzlicher Wirkstoffe zu medizinischen Zwecken dienten.

Aus Büchern, Traktaten, Rezeptsammlungen und der eigenen Erfahrung lernend, nutzten nun viele Alchimisten, Ärzte und Heilpraktiker «aqua vitae» unter Zugabe von Kräutern und Gewürzen zur Herstellung ihrer Heiltränke, was eine schrittweise Verbesserung der Behandlungs­möglichkeiten für jedermann – inklusive des einfachen Volkes – mit sich brachte.

Weindestillat kontra Korndestillat

1507 wurde im thüringischen Nordhausen erstmals eine Branntweinsteuer urkundlich erwähnt. Dieser Branntwein («bornewyn») wurde ­jedoch noch nicht aus Korn, sondern üblicherweise aus Bier und Met destilliert. 1545 wurde ebenda das erste Kornbrennverbot per Rats­dekret verhängt.

Im 500 Kilometer weiter westlich gelegenen Antwerpen sprach sich 1552 der dort ansässige Mediziner Philippus Hermanni in seinem Buch «Een constelijk Distileerboec» deutlich gegen die zunehmende Ver­wendung von Bier zur Herstellung von Branntwein (niederländisch: brandewijn) aus. Doch nicht allein jenes Aufbegehren machte ihn bekannt, sondern vielmehr ließen die ausführlich beschriebenen Destillierverfahren und -apparate plus zahlreiche Rezepturen sein Werk in den Niederlanden zu dem Handbuch für Destillateure werden.

Hierdurch wird deutlich, dass schon im frühen 16. Jahrhundert nicht mehr nur Wein destilliert wurde, der das feine «aqua vitae» ergab, sondern auch Branntwein aus Bier, Met und schon bald darauf direkt aus Getreide gebrannt wurde. Letztere Methode verbreitete sich rasch im deutsch-niederländischen Raum, in dem sich die Destillierzentren Westeuropas befanden.

Grund dafür ist der Unterschied in den Kosten, denn Getreide gab es überall und vergleichsweise preiswert, wohingegen Weinanbau durch schlechte Ernten und lange Kälteperioden im Norden immer seltener anzutreffen war. Die Einfuhr von Wein war natürlich ungleich teurer und der dezimiert noch lokal angebaute Wein gewiss nicht wesentlich ­billiger. Somit vollzog sich auf dem Gebiet der Branntweine bald ein Klassen­unterschied: Während die oberen Schichten, Ärzte und Apotheker ­weiterhin auf sanfteren, reineren aromatisierten Branntwein aus Wein­destillat schworen, nahmen die unteren Bevölkerungsschichten mit ­billigerem, nicht aromatisiertem Kornbranntwein vorlieb.

Diese Entwicklung des frühen Widerstandes gegen die Getreidedestillation setzte sich durch Verbote in weiteren deutschen Städten fort. In Augsburg wurde 1570 eine Verordnung verfügt, die die Produktion von Weizenspirituosen für andere als medizinische Zwecke verbot, weil sich eine Hungersnot abzeichnete, die zwei Jahre später ihren Höhepunkt erreichte. Zu diesem Verbot kam es, als einige Stadtväter Branntweine als «gesundheitsschädlich und eine nutzlose Verschwendung von Weizen» verurteilten und diesbezüglich bereits in Kraft getretene Verordnungen der Städte Nürnberg und Frankfurt als Vorbilder ins Feld führten. Doch nicht nur Zweckentfremdung von Getreide war ihr Motiv, sondern sie warfen gleichzeitig den Branntweinherstellern vor, sie würden Weizenbrand mit legitimem, gutem Branntwein aus Wein ver­mischen und bezichtigten sie somit der Panscherei.

Betrachten wir an dieser Stelle kurz die politische Lage Mitteleuropas in der zweiten ­Hälfte des 16. Jahrhunderts: Die Länder Niederlande, ­Belgien und Luxemburg gibt es zu jener Zeit noch nicht, sie bestehen stattdessen aus siebzehn niederländischen Provinzen, die bis nach Nordfrankreich hineinreichen und allesamt zur spanischen Krone gehören. Durch ihre Handelshäfen und Handelsflotte sind die Niederlande eine starke Wirtschaftsmacht und auch strategisch wichtig für das ­erzkatholische Spanien. Die sich durch die Reformation in den Niederlanden ausbreitende protestantische Glaubensrichtung des Calvinismus wird von der spanischen Inquisition brutal unterdrückt, was zu einer Massenflucht nach Osten in deutsche Fürstentümer und gen Westen nach Frankreich, zu starken Unruhen und 1568 schließlich zum Achtzigjährigen Krieg führt, in den sich ab 1618 der hierzulande weitaus mehr bekannte Dreißigjährige Krieg auf deutschem Boden einfügt.

1581 kommt es zur Unabhängigkeitserklärung der nördlichen Nieder­lande unter der Führung von Wilhelm I. von Oranien, die sich zur Republik der Sieben Vereinigten Provinzen ausruft. Die südlichen Staaten bleiben die Spanische Niederlande.

Im August 1585 unterzeichnet Queen Elizabeth I den «Vertrag von ­Nonsuch», in dem sie den rebellierenden protestantischen Provinzen der Niederlande militärische und finanzielle Hilfe zusichert. Noch im ­selben Jahr segelt eine Streitmacht von ca. 6.000 Soldaten und 1.000 Reitern unter der Führung von Robert Dudley, 1st Earl of Leicester, in die Niederlande.

 

So kamen englische Truppen erstmals mit Kornbranntwein in Berührung, den die niederländischen Soldaten vor der Schlacht tranken und der ihnen extra Kampfeskraft verlieh. Obwohl nicht zweifelsfrei belegbar, lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass die englischen ­Soldaten diesem Getränk den Namen «Dutch courage» («Holländischer Mut[macher]») jetzt schon gaben, wo sie noch Waffenbrüder waren, und nicht erst – wie in manchen Quellen zu lesen ist – in späteren ­Kriegen des 17. Jahrhunderts, als sie nicht mehr gemeinsam, sondern gegeneinander fochten. Fakt ist jedoch, dass dieser Branntwein durch die heimkehrenden Soldaten nach England kam, dort aber mangels Destillierwissens nicht reproduziert werden konnte und «Dutch courage» zu einem geflügelten Wort im englischen Sprachgebrauch wurde.

In diese Periode des ausklingenden 16. Jahrhunderts fällt der für uns entscheidende Teil der Lebensgeschichte des in Köln geborenen Caspar Janszoon Coolhaes (1536 – 1615). Einst Kartäusermönch, fungierte er vielerorts im deutsch-niederländischen Raum als Minister in kirchlichen Ämtern. Mit 38 Jahren zog er in die Stadt Leiden in die ­Rapenburch (heutige Nr. 22), wo er im Februar 1575 die Eröffnungs­rede bei der Einweihung der ersten Universität der nördlichen Niederlande hielt und dort als erster Professor Theologie unterrichtete. 1582 wurde er unter Kontroversen von der Reformierten Kirche Hollands exkommuniziert und in der Folge auch von seiner Lehrtätigkeit an der Universität entbunden, da er zu liberale politische Ideen vertrat, die zu Konflikten zwischen Kirche und Kommunalregierung führten. Er ­erhielt daraufhin zwar ­weiter vom städtischen Magistrat ein Gehalt, suchte sich aber ­einen neuen Lebensunterhalt und entschied sich, ­Destillateur und ­Apotheker zu werden. Dazu belas er sich über Kräuter, über die Kunst des Destillierens und konsultierte darin Erfahrene. 1588 erschien sein Buch «Van seeckere seer costelijcke wateren» («Von ­sicher sehr köstlichen Wässern»), das in bestimmten Aspekten außerordentlich interessant ist.

Freimütig gibt er die Autoren und Gelehrten an, deren Werke er studierte bzw. von denen er sich persönlich Rat und Hilfe holte. Im Vorwort und an weiteren Stellen im Text schreibt er, dass die meisten seiner Wässer in der Region wenig bekannt sind, weshalb man denken könnte, es seien einfache Branntweine und keine Wässer. In diesem Zusammenhang warnt er ausdrücklich vor Branntweinen, die aus den verschiedensten Getreidearten, schalem Bier und nicht mehr trinkbarem Wein destilliert werden. Diese Sorte sähe nur aus wie richtiger Branntwein, ist es aber nicht; trotzdem werden die Leute dafür zur Kasse gebeten, als wäre es welcher. Wahren Branntwein («aqua vitae») könne man nur aus gutem Rheinwein oder anderen guten Weinen machen, aber nicht aus Getreide. Der Leser solle selbst entscheiden, ob man aus einer unreinen, ungesunden Basis ein gutes, gesundes Getränk bereiten könne. Im Kapitel «Observationen» weist er auf die Bedeutung der eigenen Erfahrung hin. Seit 14 Jahren hätte er einen sehr schlechten Magen und probiere eine Unmenge an Medizin und Ratschlägen aus, aber nichts half. Seine Frau war sechs Jahre lang derart krank, dass es stadtbekannt war. Doch dank der Heilkraft seiner Wässer seien sie beide jetzt bei bester ­Gesundheit und er möchte mit seinem Buch ausführen, wie man diese Wässer mittels Destillation herstellt. Unter der Kapitelüberschrift «Aqua Iuniperi: Weecholter, ofte Genever water» («Aqua Juniperi: ­Wacholder- oder auch Genever-Wasser») beschreibt er die Wirkungs­weise dieses Wacholder­branntweins und fortführend die des «edlen, sehr kostbaren Wacholder­öls – Oleum Juniperi».

Das Bemerkenswerte an Caspar Coolhaes ist, dass er die Nutzung von Kornbranntwein nicht aus agrarökonomischen Gründen anprangert, sondern aus einem ausgeprägten Qualitätsbewusstsein heraus. Er war auch derjenige, der als Erster seine Wässer aktiv in Druckform vermarktete, und konnte auf diese Weise überregionale Klientel für seine Qualitätsprodukte erreichen, was ihm am Ladentisch allein nur schwerlich möglich gewesen wäre. Des Weiteren erbrachte er wohl als Erster in der Fachliteratur einen ausführlichen Quellennachweis und sein Buch ist die erste uns bekannte Publikation überhaupt, die die Bezeichnung «Genever» für einen Wacholderbrand wiedergibt (vgl. dazu das ­Kapitel «Genever»).

Nimmt man sein propagiertes Qualitätsbewusstsein, die aktive Produkt­vermarktung durch sein Buch und seinen nicht zu unterschätzenden Bekanntheitsgrad zusammen, so könnte man Caspar Coolhaes durchaus als den Pionier für die Verbreitung des Begriffs «Genever» für einen mit Wacholder aromatisierten Branntwein bezeichnen.


Mitteleuropa um 1618

Das Korndestillat setzt sich durch

Im Laufe der 80er-Jahre des 16. Jahrhunderts wurde in den Nieder­landen die Korndestillation immer stärker betrieben und überwog bald deutlich die Weindestillation, die auch weiterhin anzutreffen war. Einer der gewichtigen Gründe dafür war der Nebeneffekt, dass die Rückstände aus der Korndestillation als nahrhaftes Viehfutter verwendet werden konnten.

Ab 1598 wurden die südlichen Niederlande von Erzherzog Albrecht VII. von Österreich und Erzherzogin Isabella Clara Eugenia von Spanien ­regiert, die sich um Frieden und Erholung von den Folgen des jahrelangen Krieges bemühten. Aufgrund schlechter Ernten wurde 1601 ein Edikt verfasst, das die Herstellung, den Verkauf und den Konsum von Branntwein aus Korn verbot.


Edikt zum Destillierverbot 1601

Wer von den Destillateuren nicht schon vorher aus religiösen Gründen geflohen war, der packte jetzt seine ­Sachen und zog vornehmlich in die nördlichen Niederlande um, wo ­dieses Verbot nicht galt. Diejenigen, die trotzdem blieben, destillierten Getreide illegal weiter, sodass dieser Erlass 18 Mal wiederholt werden musste.

Dass sich der Genever offensichtlich zunehmender Beliebtheit erfreute, wird durch ein niederländisches Staatsdekret von 1606 untermauert, das Steuern auf destillierte Anis-, Wacholder- und Fenchelwässer erhob, die als alkoholische Getränke verkauft wurden. Im Unterschied dazu enthielt die 1583er-Version dieses Dekrets noch keine Besteuerung ­jener Wässer. Das lässt den Schluss zu, dass diese ab 1606 nicht länger einzig als Medizin oder Heilmittel, sondern als mehr oder weniger stark konsumiertes Genussmittel angesehen wurden.

Richtigstellung

In vorherigen Abschnitten wurde ausführlich darüber berichtet, wer alles auf verschiedenste Weise Einfluss auf die Entwicklung des Genevers hatte. An dieser Stelle möchten wir auf zwei Namen eingehen, denen fälschlicherweise bis in die jüngste Vergangenheit hinein die Erfindung des Genevers zugeschrieben wurde.

Franciscus de le Boë (Franciscus Sylvius)

Franciscus de le Boë wurde 1614 in Hanau (bei Frankfurt/M.) als Sohn von Isaac de le Boë und Anne Vignet geboren. Als sein Geburtsdatum wird gemeinhin der 15. März angegeben, was jedoch inkorrekt ist, da sein Eintrag im Taufbuch der französisch-reformierten Gemeinde von Hanau vom 10. März datiert (siehe Abb. S. 24). Seine wohl­habende Familie war schon vor seiner Geburt aus religiösen Gründen aus der nieder­ländischen Provinz Cambrai (Nordfrankreich) in die ­Gegend von Köln geflohen.


Franciscus de le Boë


Taufeintrag (markiert), Franciscus de le Boë, Hanau, 10. März 1614

Seine erste schulische Bildung erhielt er an der Akademie von Sedan, studierte anschließend an der Universität in Leiden Medizin und nach weiteren Zwischenstationen in Jena und Wittenberg promovierte er 1637 an der Universität Basel zum Doktor. Er bewarb sich um eine ­Stelle als Professor an der Uni Leiden, bekam jedoch keine und ging daraufhin nach Amsterdam, wo er eine lukrative Arztpraxis eröffnete.