Glasmurmeln, ziegelrot

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Aus der Reihe: rüffer&rub literatur #2
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Glasmurmeln, ziegelrot
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rüffer & rub literatur

Erste Auflage Herbst 2018

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 by rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch

Bildnachweis Umschlag: © byunilho | pixabay.com Bildnachweis Autorenporträt: © Franz Noser

E-Book: Clara Cendrós

ISBN 978-3-906304-42-7

ISBN e-book: 978-3-906304-48-9

1

Das kleine Haus auf der Anhöhe, in dem das Kind mit seiner Mama wohnte, war mal ein Schloss mit dicken Mauern, mal eine schwebende Feenburg, dann wieder eine uneinnehmbare Festung aus in den Boden gerammten Baumstämmen, die von kriegsbemalten Indianern vergeblich angegriffen wurde. Das Radio war ein Roboter, der sang oder Geschichten erzählte, meistens in Sprachen, die das Kind umso faszinierender fand, je fremder sie waren.

Mama spielte in vielen Geschichten mit. Sie war die Königin oder die Oberfee, der Ritter oder der Indianerhäuptling, manchmal das Pferd des Häuptlings, selten der Drache, kaum je die böse Kriegerin. Sie kannte unzählige Geschichten, und wenn dem Kind die eine oder andere Wende oder der Schluss nicht gefiel, zauberte sie mit leichter Hand einen anderen Verlauf herbei.

Einmal weckte sie das Kind und erzählte ihm unter Tränen, dass ein Mann namens Kennedy getötet worden sei. Das Kind war genauso traurig wie sie. Dieser Kennedy musste ein wichtiger Drachentöter oder Raumfahrer sein, auf jeden Fall ein Verbündeter, und es war schlimm, dass Mama und das Kind ihn verloren hatten. Und für den Fall, dass irgendwann wieder ein Kennedy getötet wurde und Mama Trost brauchte, wünschte sich das Kind eine Schwester als Verstärkung. Aber Schwestern kamen in keiner Geschichte vor, und das Kind beschloss, Geduld zu haben.

Das Kind saß am liebsten unter dem Tisch, im Bunker tief unter der Erde, im kleinen Boot weit draußen im Ozean, im Raumschiff mit vielen Fenstern, aber ohne Türen. Niemand konnte zu ihm herein, nicht die Königin und auch nicht die Oberfee.

Immer wieder kamen Männer ins kleine Haus. Sie trugen Schnurrbärte und Hüte, und sie stellten Mama seltsame Fragen, manchmal in der Sprache, die das Kind mit ihr teilte, manchmal in jener, in der alle anderen redeten. Wenn sie wieder gegangen waren, hatte Mama kalte Hände und ihre Gutenachtgeschichten waren sehr kurz.

Das Kind beschloss, die Sprache der Männer nicht zu verstehen, das war einfach. Dann stellte es sich vor, ihre Sprache doch zu verstehen, aber es versah ihre Wörter mit neuen Bedeutungen. »Pflicht« hieß in Wirklichkeit »Fahrrad«, weil es so schnell und schnittig klang. »Asyl« war ein besonders leckeres Eis, das einem, wenn man zu langsam war, über die Finger rann. »Zugeständnis« konnte nur ein Zug sein, der immer wieder stehen blieb. »Verhaften« war eigentlich »verwöhnen«, und »wegbringen« hieß »beschenken«. Immer wieder sprachen die Männer das Wort »zwecklos« aus, und das Kind beschloss, dass dies eigentlich »ziegelrot« hieß, seine Lieblingsfarbe.

Das Kind erfand immer neue Bedeutungen, und nun freute es sich fast auf die schnauzbärtigen Männer. Nur Mama kriegte nach den Besuchen immer noch kalte Hände, und ihre Geschichten wurden von Mal zu Mal kürzer.

Einmal kamen die Männer sehr früh und hämmerten gegen die Tür. Sie sagten, das Kind und seine Mama würden verwöhnt, dann beschenkt. Danach sagten sie nichts mehr, und das Kind musste sich ihre Worte selber denken und ein neues Spiel anfangen. Eines, das von da an ohne Mama auskommen musste.

2

Das Kind wurde in ein großes Haus gebracht, in ein Schloss mit hochgeklappten Falltüren, die sich nur von außen öffnen ließen. Die anderen Kinder schauten stumm zu, wie dem Kind ein Bett zugewiesen und ein blauer Kittel in die Hand gedrückt wurde, der Harnisch, das Kettenhemd, das gleiche, wie es alle anderen Ritter trugen. Sie sprachen die Sprache der schnauzbärtigen Männer, jene, die das Kind auch dann schlecht verstand, wenn es sie gut verstehen wollte. Das Kind sah sich nach einem Tisch um. Es fand keinen, der weit genug vom Ufer und tief genug unter der Erde gewesen wäre. Ein anderer Ritter im blauen Kettenhemd kam hinzu, schlug dem Kind kurz ins Gesicht und ließ es stehen.

Mit der Zeit verstand das Kind immer besser, was es verstehen wollte, und es wurde immer seltener von den anderen Rittern geschlagen. Die Schlossherrin, eine böse Zauberin mit unruhigen Augen und schweren Händen, stellte das Kind immer wieder auf die Probe und ärgerte sich, wenn es den Test im Knien auf Maiskörnern oder den Ohrfeigentest ohne Tränen und ohne Klagen bestand. Sie mochte es nicht, wenn das Kind etwas in seiner Sprache sagte, in der es mit Mama gesprochen hatte. Alles, was das Kind in dieser Sprache sagte, war ein Zauberspruch, mit dem es der Schlossherrin Angst machen konnte. Im Gegenzug versuchte sie, dem Kind Angst zu machen, aber es gelang ihr nicht.

Der kleine Ritter lernte, dass es wichtig war, Worte zu haben, die von anderen nicht verstanden wurden. Dank seinen Zaubersprüchen war er in jeder Geschichte unbesiegbar.

3

Eines Tages kamen andere schnauzbärtige Männer und holten das Kind ab. Die Schlossherrin wollte sich verabschieden und redete auf das Kind ein. Aber das Kind hatte beschlossen, ihre Worte und auch jene der schnauzbärtigen Männer nicht zu verstehen. Draußen wartete ein Auto. Das Kind musste sich hinten zwischen die beiden Männer setzen und seine Tasche auf den Schoß nehmen. Es schloss die Augen und sah zu, wie die schwere Kutsche über den Waldweg schaukelte, vorbei an keulenschwingenden Räubern, die es nicht wagten anzugreifen, vorbei an verschwitzten Bauern, die nur zu gern gewusst hätten, welcher berühmte Edelmann in der großen Kutsche saß, und vorbei an dunklen Drachenhöhlen, aus denen dünne Rauchschwaden aufstiegen und sich oben in den Baumwipfeln auflösten. Das Kind hatte keine Angst. Es hatte genug geheime Worte und Geschichten und konnte mit jedem fertig werden, der sie nicht verstand.

Die Kutsche holperte eine Weile auf immer schmaleren Wegen. Schließlich bog sie ächzend auf einen Hof ein und kam zum Stehen.

Die beiden Männer und der Fahrer stiegen aus und befahlen dem Kind, im Auto zu bleiben. Sie verschwanden in einem kleinen Haus aus ziegelroten Backsteinen. Irgendwo bellte laut ein Hund. Auf der Dachrinne drängten sich gurrend unzählige Tauben. Die Männer kamen lange nicht zurück. Das Kind schloss die Augen und versuchte, aus Gerüchen und aus dem Ticken des sich abkühlenden Metalls eine neue Geschichte zu knüpfen. Es kurbelte das Fenster herunter und ließ noch ein paar Gerüche und Geräusche mehr ins Auto herein. Dann legte sich das Kind auf den Rücksitz und machte die Augen auf. Durch die hintere Fensterscheibe sah es die Wolken. Sie zogen langsam wie Segelschiffe vorbei. Wer saß wohl darin und richtete die Segel aus? Die Engel? Eben wurde eine Wolke von einer anderen überholt. Veranstalteten die Engel ein langsames Rennen? Das Kind fand die Vorstellung lustig und überlegte, ob man eigentlich über die Engel lachen durfte.

Plötzlich schob sich ein Gesicht ins Fenster, und die Segelschiffe verschwanden. Das Gesicht gehörte einer alten Frau. Sie hatte eine große Nase, zwei kleine Augen und tiefe Furchen um den Mund. Sie trug ihre weißen, langen Haare offen. In ihrem Mundwinkel hing eine Zigarette. Die Frau zog schwach daran, paffte ein paar Rauchwolken in die Luft, dann lächelte sie zuerst mit den Augen, dann mit dem Mund. Sie richtete sich auf und öffnete die Tür. Das Kind stieg aus dem Auto und ging an den Männern vorbei. Die alte Frau legte ihm die Hand auf die Schulter. Mit einer Kopfbewegung wies sie auf das kleine ziegelrote Haus. Das Kind folgte ihr, ohne sich umzusehen.

Im Hauseingang war es dunkel und es roch nach altem Holz und frischer Seife. Die Frau öffnete eine weitere Tür und sie betraten ein kleines Zimmer, in dem ein Tisch, eine Bank, ein gelblicher Schrank, ein Holzofen und eine große Holzkiste standen. Auf deren Deckel lag ein Lammfell. Das Kind setzte sich darauf und befühlte das Fell mit den Fingern. Draußen wendete das Auto umständlich, dann fuhr es weg.

Die Frau ging hinaus. Als sie wieder hereinkam, trug sie einen Hammer und einen Nagel in der Hand. Sie gab beides dem Kind und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, es solle aufstehen. Dann öffnete sie die Kiste, auf der das Kind gesessen hatte, nahm ein Stück Holz heraus und legte es auf den Boden. Das Kind ging in die Hocke, hielt den Nagel ans Holz und schlug mit dem Hammer darauf, zuerst vorsichtig, dann immer stärker. Als der Nagel fast zur Hälfte im Holz war, begann er sich leicht zu verbiegen. Das Kind schlug noch einmal drauf, dann legte es den Hammer weg. Die Frau nahm ein Stück Schnur aus der Schürzentasche und band das eine Ende um den Nagel. Das andere drückte sie dem Kind in die Hand.

»Dein Pferd«, sagte sie in der fremden Sprache, aber das Kind beschloss, sie zu verstehen. Es nahm das Pferd und zog es hinter sich her, hinaus, auf die Weide.

 

Die Großmutter kam später nach. Wir setzten uns ins Gras und schauten stumm dem Pferd beim Grasen zu.

4

Das Pferd bekam den Namen Roy, wie der Held eines Comic-Bandes, den ich in Großmutters Haus entdeckt hatte und nach zwei Wochen auswendig kannte. Roy und ich ritten oft aus, meistens quer über die Wiese, die Prärie, und über den Bach, der eigentlich Rio Grande hieß und die Grenze zu Mexiko markierte. In Mexiko war ein großer Wald, und da durften wir nur mit der Großmutter hinein, denn da trieben sich bärtige Männer herum, denen nicht zu trauen war. Großmutter, unser Ranger und Sheriff und Indianerhäuptling, warnte immer wieder vor ihnen, den Hipsies, wie sie sagte. Man erzählte sich, dass sie lange Bärte trugen, sich nicht wuschen und dicke Zigaretten rauchten, von denen man komisch im Kopf wurde. Ich stellte mir vor, wie sie sich in den Baumkronen versteckt hielten oder wie Zecken in den laubgefüllten Senken, und wie sie ahnungslosen Cowboys und deren Pferden auflauerten, wenn diese mal leichtsinnig genug waren, ohne Großmutter in den Wald zu gehen.

Roy und ich wagten uns immer nur bis ans Ufer des Rio Grande, wo wir Mexiko vermuteten, setzten uns ins Gras und beobachteten den Wald. Wir hofften, irgendwo einen Hipsie zu sehen, vielleicht oben im Baum, von wo aus er nach Cowboys ohne Großmutter Ausschau hielt und dabei seine dicke Zigarette rauchte. Am liebsten ritten wir in der Dämmerung hin, denn da hätte es sein können, dass die Zigarettenglut den Hipsie verriet. Aber wir konnten keinen entdecken, so sehr wir uns auch anstrengten. Darum stellten wir uns vor, wie ein ganz besonders bärtiger, schmutziger und durchgeknallter Hipsie auf seinem Baum saß und uns beobachtete. Er wollte wohl sicher sein, dass die Großmutter nicht in der Nähe war. Es war völlig klar, dass er Angst vor unserer Großmutter haben musste, denn sie war die stärkste Großmutter der Welt, und wenn sie einen Revolver gehabt hätte, wäre niemand im ganzen Westen schneller als sie gewesen.

Auch mein Großvater nicht. Er hatte auch Angst vor der Großmutter und hätte es nie gewagt, sie herauszufordern. Nur wenn er getrunken hatte, getraute er sich laut zu reden, und wenn er viel getrunken hatte, konnte es vorkommen, dass er die Großmutter anbrüllte. Sie lachte dann nur und nannte ihn einen alten Trottel, worauf er schimpfend hinausstürzte und die Türe hinter sich zuschlug. Wir wussten, dass er nun von Haus zu Haus gehen und überall nach Wein oder Schnaps verlangen würde. Wenn wir wieder allein waren, drückte mich die Großmutter an sich und hielt mich ganz fest, so als müsste sie mich vor etwas beschützen, wovon nur sie wusste, dass es da war.

5

Die Großmutter erzählte mir von ihrem Lieblingsbruder Stevo und seinem Traum:

»Wenn man klein ist, hat man große Träume, viel größer als man selbst und als der größte Baum, auf den man je geklettert ist. Wenn man wächst, werden die Träume kleiner, und dann rutschen sie hinter die Kommode oder unters Bett, oder sie rollen ins Mauseloch, oder jemand steht darauf, ohne es zu bemerken. Als mein Bruder Stevo und ich noch Kinder waren, spielten wir oft zusammen. Er war gut im Baumklettern. Ich blieb unten und sah ihm zu, wie er sich geschickt wie ein Affe von Ast zu Ast zog, in der Krone verschwand, dann wieder auftauchte, verschwand, um oben wieder hervorzukommen und mir lachend zuzuwinken. Er stellte sich auf den obersten Ast, schirmte die Augen mit der flachen Hand ab und sah in die Ferne.

›Siehst du das Meer?‹, rief ich ihm von unten zu.

›Oh ja, ganz deutlich.‹

›Wie ist es?‹

Er lachte. ›Blau und endlos. Die Wellen tragen weiße Kronen, die an den Schiffsseiten zerschellen. Hörst du es nicht?‹

Ich schloss die Augen und horchte angestrengt in die Richtung, in die er zeigte. Nach kurzer Zeit verwandelte sich das Blätterrascheln in den Wellenschlag, aus Spatzen wurden Möwen, und die Luft roch nicht mehr nach frisch gemähtem Gras, sondern nach heißen Klippen und nach Salz.

›Siehst du ein Land?‹, fragte ich und sah zu Stevo hinauf.

›Ja, klar‹, lachte er. ›Eine Insel. Da machen wir halt, essen mit den Eingeborenen Nusskuchen und trinken Schokolade, dann segeln wir am nächsten Tag weiter.‹

›Nach Amerika?‹, fragte ich.

›Nach Amerika‹, sagte Stevo und winkte jemandem zu, den nur er sehen konnte.«

6

An einem Vormittag stand eine Frau in der kleinen Küche. Sie beugte sich leicht vor, legte die Hände auf ihre Oberschenkel und lächelte das Kind an. Das Kind stellte sich schützend vor sein Pferd und wickelte die Schnur fester um die Hand. Die Frau war klein, sie hatte einen grünen Rock und eine Jacke mit sehr großen Knöpfen an. Bestimmt war sie eine Fee, aber das Kind konnte sich nicht entscheiden, ob sie gut oder böse war. Es stellte sich kurz auf die Zehenspitzen, um ihre Jacke besser zu sehen. Auf ihrem Oberarm lag ein wenig ziegelroter Staub. Ist sie durch die Mauer hereingeschwebt? Durch ziegelrote Mauern konnten nur gute Feen schweben, dachte das Kind und lockerte ein wenig die Schnur. Die Fee kam näher und legte ihm die Hand auf die Wange. Sie roch gut, fand das Kind, und ihre Hand war warm. Das Kind fragte sich, ob das wirklich Tränen waren, was es in ihren Augen sah. Vielleicht war es einfach nur die Sonne, die durch das winzige Fenster hereinfiel.

Die Großmutter kam herein, ihr Schatten fiel auf die Fee.

»Weißt du, wer ich bin?«, sagte die Fee. »Ich bin deine Mama.«

Das Kind verstand nicht. Sie sprach nicht in der Mamasprache, sie sah anders aus. Aber sie hatte ziegelroten Staub auf dem Oberarm, das genügte.

»Das ist mein Pferd«, sagte ich und zeigte auf Roy.

7

Wir nahmen den Bus in die Hauptstadt. Sobald der Bus losgefahren war, packte meine Mutter den Proviant aus. Wir aßen während der ganzen Reise und konnten gerade noch die Servietten in den Abfall werfen, bevor wir in die Straßenbahn umsteigen mussten. Die Straßenbahn war blau, hatte Latten auf dem Boden und keine Türen. Neben dem Eingang saß der Schaffner mit seinem Abrissblock. Die Straßenbahn fuhr erst an, wenn er auf einen großen, pilzförmigen Knopf drückte. Ich beschloss, Straßenbahnschaffner zu werden.

Der Bahnhof kam mir riesig vor. Ich hatte noch nie einen solchen Ort gesehen und staunte über die vielen Menschen, die schwere Koffer schleppten, Proviant oder Bier kauften, lachten, einander umarmten oder aus dem Weg schimpften. Das Gebäude war mit Fahnen geschmückt, und in der Schalterhalle hing ein großes Bild, das von Blumen umrahmt war. Es zeigte einen ernsten, aber freundlich blickenden Mann mit vollem Gesicht und kurzem, nach hinten gekämmtem Haar. Er schien mich direkt anzuschauen, und es kam mir vor, als würde er nun doch ein bisschen lächeln. Ich ging drei Schritte zur Seite, aber sein Blick folgte mir. Ich stellte mich hinter meine Mutter, doch als ich nach ein paar Sekunden vorsichtig hervorlugte, traf mich wieder der Blick des Mannes auf dem Bild. Nun lächelte er wirklich.

Ich war sicher, dass sein Lächeln mir galt und dass sein Gesicht allen anderen genauso ernst vorkam wie noch vor wenigen Minuten mir.

Der Zug war überfüllt. Wir fanden Platz in einem Sechserabteil, in dem schon sieben Passagiere saßen. Meine Mutter packte den Proviant aus und bot auch den anderen Reisenden Brot, Speck und Käse an. Einige von ihnen griffen freudig zu und boten uns ihrerseits an, was sie eingekauft hatten. Ein Mann reichte eine Flasche herum, und die Leute tranken direkt daraus. Ich dachte, es sei Wasser, und streckte auch die Hand aus, aber meine Mutter sagte mir, das sei nicht gut für Kinder. Die übrigen Passagiere lachten sehr, und der Mann, dem die Flasche gehörte, klopfte mir auf den Rücken und kniff mich in die Wange.

»Du bist ein richtiger Pionier, was?«, rief er lachend und wischte sich den Mund mit dem Handrücken.

Ich sah zu meiner Mutter hoch und fragte, was das sei, ein Pionier, und ob der Mann auf dem Foto im Bahnhof auch einer sei. Zuerst wurde es still im Abteil, dann brüllten alle vor Lachen, und die dicke Frau, die mir gegenübersaß, streckte die Arme nach mir aus, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste mich schmatzend auf die Stirn.

»Der ist goldig, der Junge«, rief sie und bebte vor Lachen.

Ich begriff gar nichts und schaute fragend zu meiner Mutter hoch. Sie war rot geworden und sie lachte nicht. Als sich unsere Blicke trafen, strich sie mir übers Haar und flüsterte etwas, was ich im Gelächter der anderen nicht verstand.

8

Wir stiegen an einer kleinen Bahnstation aus. Über dem Eingang hing der Name des Ortes. Daneben war noch ein Schild in einer fremden Schrift. Die Bahnhofstür öffnete sich und ein kleiner Mann kam mit schnellen Schritten auf uns zu.

»Das ist dein Vater«, sagte meine Mutter. »Das ist dein neuer Vater.«

Ich schaute den Mann an. So sieht also ein Vater aus, dachte ich, und staunte, dass Väter so klein sein konnten. In Geschichten, die ich von meiner Mama in der Mamasprache gehört hatte, waren Väter groß und stark oder zumindest mächtig. Mein neuer Vater sah nicht mächtig aus. Aber als er in die Hocke ging und ich ihm ins Gesicht sehen konnte, fiel mir sein Lächeln auf, das irgendwie nicht zu seinen großen, traurigen Augen passen wollte. Väter sind nicht groß und stark, sondern traurig, wenn sie lächeln, dachte ich. Ich streckte die Hand aus und mein Vater ergriff sie. Sein Lächeln wurde breiter und sein Blick trauriger.

»Lass uns nach Hause gehen«, sagte er und griff nach meinem kleinen Koffer.

9

Der Weg war nicht weit, wir mussten nur die Bahngleise überqueren und einen schmalen, steilen Pfad hinuntergehen. Das Haus war größer als das der Großmutter, und die Fassade war nicht ziegelrot, sondern weiß. Der Vater ging schnell, die Mutter versuchte zunächst, mit ihm Schritt zu halten, aber dann blieb sie stehen und sah sich nach mir um.

»Komm, hab keine Angst«, sagte sie. »Es wird dir gefallen.«

Das Haus wirkte zu mächtig, das Dach mit einem kleinen Fenster in der Mitte erinnerte das Kind an die Geschichte vom einäugigen Ungeheuer, die Mama ihm einmal erzählt hatte. Das Ungeheuer hielt einen griechischen Helden gefangen, der behauptete, Niemand zu heißen. Der Held war sehr geschickt und schlau, und es gelang ihm, das Ungeheuer zu verletzen. Auf die Frage der anderen Ungeheuer, wer es verletzt habe, brüllte das Ungeheuer: »Niemand!«, und so eilte ihm keiner zu Hilfe.

Das Kind setzte den Weg fort, holte die Mutter ein und nahm ihre Hand. Sie gingen die letzten Schritte zusammen auf das Haus zu. Der Vater stand im Hauseingang und sprach mit einem hageren älteren Mann, der beim Reden die Arme herumwarf, als würde er mit einer unsichtbaren Bürste die Luft anstreichen. Als er das Kind sah, hörte er zu reden auf und ging in die Hocke.

»Ich bin Tomo«, sagte er. »Und du bist mein neuer Nachbar, nicht wahr? Willkommen zu Hause.« Er streckte dem Kind die Hand entgegen, das Kind ergriff sie und nannte leise seinen Namen, dann folgte es dem Vater die Treppe hinauf. Die Mutter blieb bei Tomo, das Kind sah, wie sich die beiden ein paar Schritte von der Tür entfernten. Tomo redete auf die Mutter ein und fuchtelte wieder mit den Armen. Als wäre er ein alter Vogel, dachte das Kind, der sich nicht damit abfinden konnte, dass ihn seine Flügel nicht mehr trugen.

10

Die Wohnung bestand aus einer kleinen Küche, die zugleich das Wohnzimmer war, und aus einem kleinen Schlafzimmer, in dem sich zwei Betten, ein doppeltüriger Kleiderschrank und ein mächtiges Sofa aneinanderdrängten. Ich legte mich auf das Sofa und schloss die Augen. Es roch nach Erde und Gras, das gefiel mir, ich glaubte, darin auch den Duft des großen Walnussbaumes hinter Großmutters Haus zu entdecken.

Als ich die Augen öffnete, sah ich im Fenster gegenüber der Tür den Himmel, der mich an ein gerahmtes Bild erinnerte. Ich freute mich darauf, dort am Abend den ersten Stern zu suchen.

11

Dem Kind war sofort aufgefallen, wie groß die Hände des alten Mannes waren. Dann bemerkte es den langen, weißen Schnurrbart und die buschigen Augenbrauen. Der Mann saß unverrückbar, die riesigen Hände auf die Knie gelegt, die schweren Stiefel fest auf dem Boden. Trotzdem glaubte das Kind, dass er jeden Moment aufspringen und durch die Tür auf der anderen Seite des Raumes verschwinden könnte. Wahrscheinlich ohne die Tür überhaupt erst zu öffnen. Der Mann war stark, und zwar auf eine neue, dem Kind aus keiner Geschichte bekannte Art. Das gefiel dem Kind nicht. Der alte Mann könnte es ansprechen, und das Kind wusste nicht, wie es mit ihm reden sollte. Doch der alte Mann sagte nichts. Er saß breitbeinig da, die Stiefel gegen den Fußboden gedrückt, und schaute das Kind an.

 

Das Kind senkte den Blick und suchte verzweifelt nach einer passenden Geschichte. Aber es wollte ihm keine einfallen. Da schlug sich der alte Mann mit den Handflächen auf die Knie, griff nach seinem Hut und stand auf. Das Kind sah, dass er nicht sehr groß war, er hatte im Sitzen größer gewirkt. Nur seine Hände waren immer noch riesig, und sein Schnurrbart auch. Er war ein Riese, aber ein kleiner, das Kind wusste es jetzt. Ein Riese mit Händen so groß wie Tischplatten, unter die man kriechen könnte, wenn einem Geschichten ausgehen sollten.

»Komm mit«, sagte der Riese. »Wir haben zu tun.«

Das Kind versuchte dem Riesen zu folgen. Das war nicht leicht, der Riese machte so große Schritte, dass es aussah, als würde er fliegen. Das Kind breitete die Arme aus und merkte, wie es leichter wurde, als würde es auch fliegen, zunächst nur ein wenig, dann höher und höher, bis es auf den Schultern des Riesen landete.

Sie flogen über Hügel aus aufgeworfener Erde, in denen schwarze, kurzbeinige Ungeheuer lebten, sie sahen bunte Drachen, die aufgeschreckt hochflatterten und vom Wind zur Seite gedrückt wurden, sie überflogen einen langen, schmalen Wald, an dessen Rändern rote, erdbeerähnliche Früchte wuchsen, so groß wie Kürbisse.

Dann blieben sie stehen. Vor ihnen lag ihr lang gezogener Schatten. Das Kind hielt die Arme immer noch ausgestreckt. »Wir sind ein Baum«, sagte das Kind zum Riesen. »Der größte Baum der Welt.« Seine Äste bewegten sich leicht im Wind.

12

Der Riese nahm das Kind von den Schultern herunter. Er ging in die Hocke und sah dem Kind in die Augen.

»Ich bin dein Großvater«, sagte er. »Aber du sollst mich von nun an Dede nennen, verstehst du? Ganz einfach Dede.«

Ich nickte. Dede war ein gutes Wort, rund und hell und stark. Und es fühlte sich wie etwas an, was man gerne auf einen Baum mitnahm.

»Warte hier, ich komme gleich wieder«, sagte Dede und verschwand im kleinen Schuppen hinter dem Holzzaun. Als er zurückkam, trug er in der einen Hand einen Spaten und in der anderen ein Bäumchen. Er hielt mir den Baum hin.

»Halt ihn mal«, sagte er. »Ich grabe ein Loch.«

Dann lehnte er den Spatengriff kurz an seine Brust, spuckte in die Hände und begann zu graben. Zuerst rammte er den Spaten in die Erde, stieg mit dem Stiefel darauf, drückte das Blatt tiefer, zog den Stiel zur Seite und brach ein Stück Erde heraus, das aussah wie ein Stück Schokoladentorte. Er grub sehr schnell. Nach einigen Minuten war das Loch groß genug. Dede stellte das Spatenblatt quer und hackte damit auf die Schokoladentortenstücke wie mit einem Beil, bis sie ganz klein wurden.

»Komm, halt den Baum über die Grube«, sagte er. Ich streckte den Arm aus und hielt den Baum knapp unterhalb des zarten Wipfels fest. Dede schob die Erde mit dem Stiefel zurück in die Öffnung und verteilte sie mit dem Spaten um die Wurzeln herum. Dann drückte er sie mit der Stiefelspitze fest und trat einen Schritt zurück.

Ich ließ den Baum los und trat ebenfalls zurück. Wir standen schweigend da und betrachteten unser Werk.

»Das ist dein Baum«, sagte Dede. »Ihr werdet zusammen wachsen, und eines Tages wirst du auf ihn klettern, und die Welt wird so klein sein, dass du keine Angst vor ihr haben musst.«

Ich stellte mir vor, wie ich ganz oben in der Baumkrone sitzen und auf die Erdhügel mit kurzbeinigen Ungeheuern, die bunten Drachen und den langen, schmalen Wald hinunterschauen würde.

»Darf ich wieder auf deinen Schultern reiten?«, fragte ich.

Und dann flogen wir zurück ins Haus. Die Großmutter hatte Kaffee geröstet, der Duft quoll durch den Türspalt heraus.

13

In einer Schachtel hinter dem Sofa fand ich vergilbte Zeitschriften mit farbigen Fotos auf der Titelseite und schwarz-weißen Bildern im Inneren. Einige Texte konnte ich ziemlich gut lesen, Mama hatte mir im Haus auf der Anhöhe die Buchstaben erklärt. In den Zeitschriften gab es einige Buchstaben, die ich nicht kannte, aber ich fand heraus, dass es um Kinofilme und Reisen ging. Manche Texte befassten sich mit Büchern, die man auf jeden Fall lesen oder meiden sollte. Warum die einen so wichtig und die anderen so schädlich waren, verstand ich nicht. Ich nahm mir vor, meine Mutter zu fragen, mit geschriebenen Geschichten kannte sie sich am besten aus.

Einige wenige Zeitschriften waren in der fremdartigen Schrift gedruckt, die ich über dem Eingang zur Bahnstation gesehen hatte. Ich konnte die Texte nicht lesen, aber die Bilder sahen sehr ähnlich aus wie in den anderen Heften, und so vermutete ich, dass es auch hier um Filme und Reisen ging. Und auch um Bücher, die man entweder lesen musste oder nicht durfte.

»Die einen Bücher sind gut«, sagte meine Mutter, als ich sie darauf ansprach, »weil sie direkt und unverhohlen erzählen, dass wir auf dem Weg in eine wunderbare Zukunft sind. Die anderen sind schlecht, weil sie verdeckt und hinterhältig behaupten, dass man anderswo bereits in einer wunderbaren Gegenwart lebt.«

»Und das stimmt nicht?«, fragte ich. »Das mit der wunderbaren Gegenwart?«

»Das weiß ich nicht«, sagte meine Mutter. »Vielleicht fährst du eines Tages hin und findest es heraus. Dann schreibst du selbst ein Buch, das alle lesen müssen, obwohl es nicht von der Zukunft, sondern von der Gegenwart handelt.«

14

Das Gewitter hatte uns alle überrascht. Mein Cousin und ich drückten die Nasen ans Fenster und warteten kribbelig vor Angst auf den nächsten Blitz. Wenn er kam, lachten wir und stritten darüber, wer von uns stärker zusammengezuckt war.

Die Erwachsenen saßen um den Tisch und schwiegen. Hatten sie so große Angst vor dem Gewitter, dass es ihnen die Sprache verschlagen hatte? Selbst Dede schwieg, der sonst vor nichts und niemandem Angst hatte, nicht einmal vor Pedro, dem ewig zornigen Hahn und Herrscher des Hühnerhofs. Wenn es donnerte, erzählte mein Großvater, sei das Sankt Elias, der im Himmel auf einem Pferdewagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern über holprige Straßen fuhr, und die Blitze waren Funken, die aus den Steinen stoben, wenn der Radrand sie streifte. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber ich glaubte es, denn Dede erzählte nur wahre Geschichten, selbst wenn sie erfunden waren. Doch nun saß er da, die Hände auf den Knien, und gab keinen Kommentar zu Sankt Elias’ Fahrweise ab.

»Ich sage euch, es wird nicht dabei bleiben«, sagte ein Nachbar und fuhr sich mit gespreizten Fingern über den Schädel, als wollte er seine Haare kämmen. Das machte er oft, und mein Cousin und ich lachten heimlich darüber, denn der Nachbar war kahl wie eine Walnuss. Mein Cousin knuffte mich in die Seite und erwartete wohl, dass auch ich im stillen Einverständnis kichern würde. Doch die Geste des Nachbarn wirkte eher verlegen als lustig und auf eine seltsame Art bedrohlich.

Das Kind spitzte die Ohren.

»Sie werden sich nicht mit der Tschechoslowakei begnügen. Und was können wir machen, wenn sie an unserer Grenze stehen?«

Der Kahlkopf blickte in die Runde. Niemand schaute auf.

»Nichts können wir machen, gar nichts«, sagte er eine Spur zu laut und fuhr sich erneut mit der Hand über die Glatze. »Sie sind stark, und wir sind allein. Helfen wird uns sowieso keiner.«

Es donnerte wieder, der himmlische Pferdewagen schien in einer Kurve ins Rutschen gekommen zu sein, die Steine rollten und schlugen gegeneinander, purzelten dann Funken sprühend den Hang hinunter.

Das Kind wusste nun, dass nicht der rasende Elias die Tafelrunde in so tiefe Sorgen versetzt und ihnen die Sprache verschlagen hatte. Ein fremdes Ritterheer stand offenbar an der Grenze des kleinen Königreichs. Oder es wird sich zumindest bald dahin begeben.

Nun meldeten sich auch die anderen Ritter der Tafelrunde, und einer nach dem anderen gaben sie dem Kahlkopf recht. Ja, das fremde Heer würde nun kaum umkehren, wo sie doch schon so nah seien. Warum sollten sie auch? Unser Königreich sei ihnen schon lange ein Dorn im Auge gewesen, nun sei es fällig, und es werde sich zeigen, dass der berühmte »Dritte Weg« eine Sackgasse sei. Wer es allen recht machen wolle, mache es schließlich niemandem recht, sagte ein kleiner, dicker Mann, der etwas abseits beim Ofen saß und die Hände vor dem Bauch gefaltet hielt. Er schaute zum Kind herüber und schüttelte den Kopf. Die anderen Ritter sahen ihn an, dann wanderten auch ihre Blicke zum Kind. Niemand sprach. Das Schweigen war schlimmer als vorher, als das Kind es noch Sankt Elias und seiner wilden Fahrweise zugeschrieben hatte. Nun galt das Schweigen nicht Elias, sondern ihm, als wäre er der Grund für das dumpfe Grollen im Himmel und für den Groll des geheimnisvollen Heeres an der Grenze.

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