Der Held

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Erste Auflage Frühjahr 2020

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Bildnachweis Umschlag: © markaumark | 123rf.com Bildnachweis Autorenporträt: © Franz Noser

Design E-Book: Clara Cendrós

ISBN Book: 978-3-906304-63-2

ISBN E-Book: 978-3-906304-74-8



Prolog

Das Flugzeug ist ein zitternder Punkt, der gegen das Blassblau des Himmels ankämpft, sich langsam nach vorne drängt, als möchte es sich aus einer zu engen Jacke herausschälen. Es hüpft auf und ab, versucht in der Mitte zu bleiben, will auf keinen Fall aus dem Bildschirm herausfallen. Die Fernsehkamera zoomt es näher heran, das Wappen ist ein Farbklecks auf der blauen Leinwand. Noch kann man das Flugzeug nicht hören, es schwebt ohne Gewicht und ohne Hast – das Zittern hört nur langsam auf, nun sieht man nicht länger einen Film, sondern ein Gemälde, fast ein Stillleben, nur die Stimme des Fernsehkommentators nervt, sie ist ein stumpfes Messer, das altes Papier aufreißt, ohne Respekt und ohne Geduld.

Dann öffnen sich die Klappen unter den Tragflächen, die Räder fallen zeitlupenlangsam heraus, beinahe scheu, als streckte das Flugzeug der Schwerkraft vorerst bloß die Fingerspitzen entgegen, bevor es die Kontrolle endgültig an sie übergibt. Ein Geräusch, ein aufdringliches Jaulen schnellt heran, ein Schrei, hell und scharf. Das Flugzeug hat die Landebahn erreicht, es schwebt darüber, schwankt leicht, als wäre es noch unschlüssig, ob es die Leichtigkeit des Fliegens wirklich aufgeben sollte. Schließlich gibt es nach, sinkt, richtet ein letztes Mal die Nase auf, schnuppert in den Vormittagshimmel, dann landet es überraschend sanft, als hätte es jemand vonHand vorsichtig und liebevoll auf den Boden gesetzt. Die Triebwerke heulen auf, als ob das Flugzeug es bereits bereute, sich zur Landung überreden zu lassen, doch sogleich bremst es ab, lässt los, rollt ein wenig weiter, bremst erneut, kommt beinahe zum Stehen, dreht sich bedächtig zu den Wartenden hin, nimmt sie in Augenschein, schätzt sie ab, bevor es auf sie zuzurollen beginnt. Noch einmal werden die Triebwerke laut, dann erstirbt das Heulen wie ein verlegenes Räuspern. Kein Wunder bei so viel Prominenz, der Spott ist unvermeidlich, der Pomp muss selbst für die Präsidentenmaschine neu sein: Die Staatspräsidentin und der Regierungschef sind da, der Verteidigungsminister und eine Abordnung der Armee, die Orden an den Uniformen glänzen mit den Blasinstrumenten des Militärorchesters um die Wette, alle stehen einträchtig beisammen, die Politiker in ihren fotogenen Anzügen und die Offiziere in ihren Paradeuniformen, und für einen Moment könnte man beinahe vergessen, wie sehr sie einander hassen. Oder ist es vielmehr so, dass sie einander nicht trauen?

Das Gericht hatte fünf Jahre gebraucht, um den General freizusprechen.

Während die Maschine heranrollt, erzählt der Reporter eine nur zu gut bekannte Geschichte aus dem Krieg. Und dass der General ein genialer Stratege sei.

Das Flugzeug ist inzwischen am Ende des roten Teppichs angekommen, der Reporter spricht nunlauter, seine Stimme ist dünn, ein Rinnsal gegen den mächtigen Strom der Bläser. Das Militärorchester stimmt einen Marsch an, die Zuschauer hinter der Absperrung schwenken wild ihre kleinen Fahnen, wer keine hat, hält ein Foto des Generals in die Höhe. Die Präsidentin und der Regierungschef schreiten zum Flugzeug und stellen sich in einer Reihe mit den Armeeoffizieren auf.

Noch ist keine Treppe da, es sieht aus, als erwarteten sie, dass der General herunterspringt. Der Regierungschef schaut ernst drein und nestelt an seiner Krawatte, die Präsidentin lächelt. Hat sie eigentlich dazu beigetragen, dass der General nun hier ist? Sie wird die Ankunft auf jeden Fall als ihren eigenen Erfolg einstreichen.

Die Triebwerke verstummen, man hört das Orchester und die Jubelrufe deutlicher. Die Tür wird ein wenig nach innen gezogen, in der Flugzeugseite klafft unvermittelt ein Loch und erinnert an eine Schusswunde. Eine Frau in blauer Uniform erscheint in der Türöffnung, drückt die Tür zur Seite und zieht sich gleich wieder in die Dunkelheit zurück. Zwei Uniformierte schieben mit hektischer Betriebsamkeit eine kurze Treppe an die Maschine heran und rutschen wie von einer Windbö gedrückt zur Seite. Nichts rührt sich, alle blicken zur Tür hinauf, auch der Reporter scheint den Atem angehalten zu haben. Endlich, während das Orchester die ersten Takte jenes patriotischen Gassenhauers anstimmt,über den man schon herrlich böse Witze gemacht hat, endlich also erscheint er: der General, der große Held, der Stratege, der Sieger im heroischen Vaterländischen Krieg, das Symbol des militärischen Triumphes und der wiedererkämpften Ehre des Vaterlandes. Er duckt sich leicht, tritt durch die Türöffnung, bleibt ein paar Sekunden stehen, winkt kurz den jubelnden Zuschauern zu und steigt langsam die Treppe hinunter. Er ist in Zivil, in den vergangenen Wochen war er oft in den Medien zu sehen gewesen, und da trug er immer seine Uniform. Aber heute schaut auch die Weltpresse zu, das voreingenommene Ausland, immer auf der Suche nach einer noch schrilleren Pointe, und so ist der dunkle Anzug ein passenderes Symbol. Andere Zeiten, andere Anzüge. Die Präsidentin lächelt, schüttelt dem General die Hand, spricht enthusiastisch auf ihn ein, er lächelt etwas säuerlich zurück, beugt sich leicht zu ihr hinunter, nickt, erwidert etwas, sie lächelt breiter, nickt ebenfalls, dann erst lässt sie seine Hand los. Der General geht zu einem absurd schmalen Rednerpult, zieht ein Papier aus der Innentasche seines Jacketts und streicht es mit der Handkante glatt. Dann hebt er den Blick.

Guten Abend, meine Damen und Herren.

Zunächst die wichtigste Meldung des Tages: General Modoran ist wieder zu Hause. Er kam heute um 10.30 mit der Präsidentenmaschine aus Den Haag an. Am Flughafen wurde er von Präsidentin Grobnik und einer Abordnung der Staats- und Armeeführung sowie einer unüberschaubaren Menschenmenge mit großer Herzlichkeit begrüßt. In seiner Rede betonte General Modoran, dass der Freispruch für ihn zugleich ein Sieg für alle freiheitsliebenden Menschen in unserem Land sei. Nach einem weiteren begeisterten Empfang auf dem Platz der Republik reiste der General in sein Haus an der Küste weiter.

Die Aufzeichnung der Rede können Sie in voller Länge im Anschluss an die Nachrichten hören. In einer Sondersendung erinnern wir außerdem an die Kriegsjahre des Generals und an seine Zeit in der Untersuchungshaft in Den Haag.

Die Fernbedienung ist nicht kaputt, dabei habe ich sie ziemlich heftig gegen die Wand geschmissen. Der Fernseher ist nicht länger ein Fenster, nur noch ein schwarzes Loch in der Wand, das alle Farben und Geräusche verschluckt, auch die Rede des Generals. Sie war ziemlich unergiebig, dünn, mürrisch, unwillig. Er ist kein Schwätzer, das wissen wir alle, und er mag den Rummel nicht. Und doch dachte ich, hoffte ich …

Wohin mit der Wut?

Lieber Freund,

ich bin nun seit zwei Wochen hier in meinem Häuschen, der schlimmste Rummel ist vorbei, auch wenn ich immer noch Journalisten abwimmeln muss und Lokalpolitiker immer wieder um einen »Termin« ansuchen, um sich mit mir fotografieren zu lassen.

Am Flughafen kam ich mir wie ein Staatsgast vor. Der Empfang war laut, aufgebläht. Die Präsidentin und der Regierungschef waren da, irgendwelche Minister, natürlich auch eine Abordnung der Armeeführung. Ich schüttelte viele Hände und hörte unzählige Male die an sich alberne Beteuerung, dass ich zu Hause überaus willkommen sei. Dann musste ich eine Rede halten. Ich hatte mir im Flugzeug ein paar Notizen gemacht, die ich dann aber nicht verwendete, denn es war ohnehin klar, was die Leute hören wollten. Das konnte ich ihnen auch aus dem Stegreif geben. Als der Applaus verklang, wurde ich in ein großes Auto mit getönten Scheiben gesetzt und ins Stadtzentrum gefahren. Beinahe hätte ich überstellt geschrieben, man gewöhnt sich zu schnell an gewisse Wörter.

Auf dem Zentralplatz lieferte ich eine weitere Rede ab und bedankte mich damit bei allen, die in all den Jahren an meine Unschuld geglaubt hatten.

Vermutlich habe ich mein Publikum enttäuscht, sowohl am Flughafen wie in der Stadt. Meine Reden waren, gemessen an den Erwartungen, zu nüchtern, das konnte ich den Menschen ansehen. Am Flughafen hielten sie sich noch einigermaßen zurück, schwenkten bloß ihre Fähnchen und riefen meinen Namen. Auf dem Zentralplatz ging es etwas heftiger zu. Die Leute sangen patriotische Lieder, hielten Bilder von mir hoch, darunter auch solche, die selbst mir unbekannt waren, dazu gab es viele Fahnen und Wappen und Tafeln mit großspurigen Parolen. Die möchte ich Ihnen lieber ersparen, mein Freund, Sie können sich das ohnehin vorstellen, vielleicht konnten Sie das eine oder andere auch in den Fernsehnachrichten aufschnappen.

 

Meine Rede war kurz, am Ende sagte ich noch, dass ich mich auf ein ruhiges Leben in meiner geliebten Heimat sehr freue und dass Gott sie alle segnen möge. Das war vielleicht eine Spur zu pathetisch, aber so viel wollte ich diesen Menschen immerhin noch geben. Schließlich hatten sie stundenlang ausgeharrt, um mich zu begrüßen, ich wollte sie nicht noch mehr enttäuschen.

Seither habe ich viel darüber nachgedacht, was die Leute gerne von mir gehört hätten: Dass mein Freispruch ein Sieg für das ganze Volk sei, nicht nur für mich persönlich? Und dass mit der Gerechtigkeit, die ich nach so langer Zeit habe erfahren dürfen, auch jene geehrt würden, die für eine gerechte Sache gefallen seien. Auch habe der Freispruch bewiesen, hätte ich rufen können, dass ein Unschuldiger nie aufgeben dürfe, zumal er in seinem Kampf niemals alleine sei.

Sie sehen, ich kenne all die Phrasen und Floskeln, schließlich habe ich im Krieg die eine oder andere gebraucht, um meine Soldaten zu motivieren oder sie über Rückschläge hinwegzutrösten. Auch Sie werden das so erleben, wenn Sie, hoffentlich bald, auf einer improvisierten Bühne stehen und Ihr Volk Ihnen und sich selbst zujubelt. Wie viel Pathos werden Sie Ihren Zuhörern gönnen? Wie viel davon wird aufrichtig sein? Verzeihen Sie, ich merke gerade, wie selbstgefällig und arrogant meine Worte für Sie klingen müssen. Ich schreibe das alles nur, weil Sie der einzige Mensch sind, von dem ich weiß, dass er mich versteht und sich an meiner Stelle ähnlich fühlen würde.

Die Reden, die Begrüßungen, der ganze Rummel hatten mich angestrengt, ich bat, in mein Haus gefahren zu werden. Doch es hatte sich auch im Dorf herumgesprochen, dass ich an diesem Tag ankommen würde, sodass wir am Dorfeingang angehalten und vom Bürgermeister und den lokalen Kriegsveteranen begrüßt wurden. Die Begegnung mit den Veteranen war bewegend, sie sahen in mir in der Tat jenen Helden, als der ich in der Hauptstadt herumgereicht wurde, und sie waren entsprechend stolz, mich in ihrer Mitte zu haben. Der Bürgermeister ist zu jung, ihn interessiert seine politische Zukunft weitaus mehr als meine kriegerische Vergangenheit. Er wird die Fotos, auf denen er mit mir zu sehen ist, sehr wohl zu nutzen wissen.

Gegen Abend war ich endlich in meinem Haus, die Leute blieben noch kurz auf dem kleinen Vorplatz stehen und riefen Willkommensparolen, dann zerstreuten sie sich, nicht zuletzt auf ein sanftes Drängen der beiden Polizisten hin, die zu meinem Schutz abgestellt worden waren. Sicher sollen sie mich nicht nur schützen, sondern auch kontrollieren. Auch das gehört vermutlich dazu, nicht wahr? Ein Held, der seine Ruhe haben will, ist ein potenzieller Unruhestifter. Ich bemühe mich nun, ob dieser etwas plumpen Überwachung nicht gekränkt zu sein.

Ich hatte noch vom Flugzeug aus meine Erlaubnis gegeben, dass sie das Haus herrichten. So fand ich den Kühlschrank gefüllt vor, das Bett war bezogen, alle Räume gelüftet, selbst die richtige Zigarettenmarke hatten sie besorgt. Draußen unter dem Lindenbaum steht ein neuer, etwas größerer Tisch. Darüber freue ich mich besonders. Sie erinnern sich ja, wie oft ich Ihnen vom Lindenbaum erzählt habe. Vermutlich zwei, drei Mal zu oft, wie Sie nun sicher im Stillen denken werden. Ich hoffe, dass wir eines Tages, in einer anderen und vernünftigeren Zeit zusammen an diesem Tisch sitzen werden, denn das ist der beste Ort der Welt.

Wie auch immer: Ich lebe mich allmählich ein und unternehme immer ausgedehntere Spaziergänge. Während eines solchen habe ich eine herrliche Stelle am Rande einer Lichtung entdeckt. Da liegt ein umgestürzter Baum, auf dem es sich sehr gut sitzen lässt, und gleich gegenüber wächst eine prachtvolle Eiche. Ihre Krone ist so breit und tief und dunkel, dass ich immer wieder den Wunsch verspüre, hinaufzuklettern und mich zu verstecken. Das habe ich als Kind oft getan, sehr zum Ärger meiner Mutter, die mich nicht sah, aber mich in der Krone des großen Nussbaumes vor unserem Haus vermutete und blind zu mir heraufschimpfte. Das belustigte mich. Die Schuldgefühle kamen erst mit ihrem Tod.

Meine beiden Polizisten sind nicht zu beneiden. Sie langweilen sich entweder in ihrem Auto oder auf der Terrasse des kleinen Cafés Adria, je nach Wetter und Tageszeit. Ich lud sie gestern auf ein Bier ein, und nun weiß ich, dass der Kleinere Toni und der Große, Schlaksige Dario heißt. Toni ist der Gesprächigere der beiden, er erzählte mir, dass die Leute sich mehrheitlich über meine Anwesenheit im Dorf freuen. Das »mehrheitlich« hat mir kurz zu denken gegeben, aber dann sagte ich mir, dass die Leute einfach gerne ihre Ruhe haben und dass der eine oder andere diese Ruhe durch meine Anwesenheit gefährdet sieht. Dario schwieg und starrte in sein Glas. Ich habe den Eindruck, dass ihn der Auftrag nicht restlos befriedigt. Noch kann ich nicht fordern, dass man die beiden von ihrer lästigen Pflicht entbindet. Ich werde noch eine, zwei Wochen warten und dann den Bürgermeister darauf ansprechen, der seinerseits in der Hauptstadt intervenieren wird. Ich möchte nicht, dass er sich übergangen fühlt, sein Wohlwollen ist mir wichtiger als jenes der Politprominenz in der Hauptstadt.

Aber eigentlich wollte ich Ihnen etwas anderes erzählen: Jemand hat an der Eiche ein sogenanntes Wildbienenhotel angebracht. Das sieht wie ein Vogelhaus aus, aber es besteht aus vielen kleinen Röhrchen. Die Wildbienen legen in den Röhrchen ihre Eier ab und versorgen die Larven mit dem Nektar, den sie den ganzen Tag lang unermüdlich sammeln. Bis zum Frühlingsbeginn sind es noch ein paar Wochen, sodass im Bienenhotel noch nicht allzu viel los ist. Im Moment sind es vor allem die Hummeln, die den Nektar sammeln, ihnen macht die Kälte weniger aus. Aber bald wird es wärmer, und dann kommen auch die übrigen Wildbienen heraus. Angeblich leben hierzulande an die sechshundert Arten, stellen Sie sich das mal vor.

Nun schreibe ich ausführlich von mir und den Bienen und habe Sie noch gar nicht nach Ihrem Befinden gefragt. Unser Abschied in Scheveningen fiel kurz aus, überhaupt ging alles schneller, als ich es mir in den langen Monaten davor ausgemalt hatte. Gerne hätte ich Ihnen noch gesagt, wie viel mir unsere Spaziergänge, Gespräche und auch unser gemeinsames Schweigen bedeutet haben. Sie immer noch hinter den Mauern zu wissen bedrückt mich, und daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Öffentlichkeit hierzulande meine Freilassung im Lichte Ihrer Gefangenschaft für noch bedeutender erachtet. Die Menschen verstehen so wenig von Schuld und Unschuld, sie sind nur begierig, ein Urteil zu fällen, eine Meinung zu haben. Hauptsache, man teilt der Welt mit, wo man steht. Ob das auch ein guter Ort ist, interessiert kaum jemand. Auch das habe ich an Ihnen immer geschätzt: Ihre Weigerung, sich in Meinungen und Urteile zu hüllen. Sie sind ein Pragmatiker, das ist unbestritten. Aber Sie wissen, dass eine zu schnell fabrizierte Meinung das Labyrinth, in dem unsere Gedanken herumirren, nur noch hoffnungsloser macht.

Ich hoffe sehr, dass Sie Ihren Humor nicht verlieren werden und dass Ihr Anwaltsteam fleißig am Entwurf Ihrer Berufung arbeitet. Schreiben Sie mir, wenn Sie dazu kommen, ich würde mich sehr freuen, von Ihnen zu lesen.

Herzlich, Ihr M.

Später hörte ich mir die beiden Reden noch einmal an. Nach den Nachrichten, in ganzer Länge, unkommentiert. Ich wusste ja, was er sagen würde, wünschte mir trotzdem eine Überraschung. Wenn du bei mir gewesen wärest: Hättest du mich am Ende getröstet oder ausgelacht?

Miro erzählte, wie sein Lehrer am Morgen vor der Fernsehübertragung den Ablauf der Entscheidungsschlacht mit farbigen Folien erklärt hatte. Wie ein Brettspiel, sagt er, blaue und rote Pfeile, Dreiecke und Kreise, und am Ende hatte jemand verloren. Ich wusste nicht, was sagen, und so lachte ich nur und gab ihm, unbeholfen und verlegen, recht. Dann erzählte er, wie ein Junge den Lehrer gefragt habe, ob es auf unserer Seite Tote gegeben habe. Verluste, habe der Lehrer gebrüllt. Das heiße Verluste! Und ja, unsere Verluste hätten 198 Mann betragen. Das sei nichts, habe er gesagt. Nichts! Miro war ratlos, schaute mich erwartungsvoll an, aber ich saß nur da, die Hände flach auf dem Tisch, und wieder wusste ich nichts zu sagen.

Verluste statt Tote? Kommt es auf das Wort an? Wird alles besser, wenn wir für schlimme Dinge gute Wörter finden?

Mein lieber General,

Sie sind also gut in Ihrem Häuschen angekommen. Das freut mich. Entweder haben Sie das mit dem Empfang, den Fahnen, Ansprachen und Parolen tatsächlich mit einer bewundernswerten Geschwindigkeit hinter sich gebracht. Oder Sie haben alles sehr gerafft erzählt, weil Ihnen der ganze Trubel peinlich ist. Ich hoffe nur, dass Sie sich nicht kurzfassen, weil Sie mich schonen wollen. Erstens weiß ich ja, als was Sie in Ihrer Heimat gelten. Und zweitens kann ich mir lebhaft vorstellen, was ich in meiner Heimat wäre, wenn man mich freigesprochen hätte. Sie können also ganz offen schreiben, ich werde weder blass vor Neid noch rosa vor Schadenfreude. Zwar musste ich schmunzeln, als ich mir Sie inmitten der begeisterten Massen vorstellte. Sie hatten mir ja erzählt, wie sehr Ihnen diese Heldenverehrung zuwider ist. Ich habe es Ihnen zwar nie wirklich abgekauft, aber behauptet haben Sie es trotzdem immer wieder. Nun ja, leider brauchen unsere beiden Völker sowohl ihre Helden wie auch ihre Schurken. Praktischerweise sind es manchmal dieselben Menschen, die von der einen in die andere Rolle fallen oder gehoben werden.

Erzählen Sie mir mehr von Ihren ersten Wochen in der Freiheit Ihrer Klause und auch von den Wildbienen in dem Waldhotel. In der Enge meines Röhrchens im Hotel Scheveningen kann ich mir das Larvenleben vielleicht besser vorstellen, als Sie denken.

Heute war es beim Spaziergang im Hof sehr einsam. Ich habe versucht, mir ein Gespräch mit Ihnen vorzustellen, aber ich glaube, ich muss das erst noch üben. Auch das Knie will nicht so recht, das ist ärgerlich. Unser braver Dr. Froebe hat mir ein neues Medikament gegeben, das ich nun morgens und abends schlucke. Auch hat er mich gebeten, Ihnen seine Grüße auszurichten.

Herzlich, Ihr Bartok

Der General dort oben am Dorfrand, in seinem Haus mit dem großen Lindenbaum, er hat seine Schlachten geschlagen, seine Ängste sind ausgestanden.

Man sagt, der General sei mutig gewesen, als alle Angst hatten, entschlossen, als alle zweifelten. Er habe das Richtige getan, als alles um uns herum wie ein großer Fehler aussah. Und nun ist er hier, eine kurze Radfahrt von mir entfernt, genießt die Ruhe und die Genugtuung, dass er und mit ihm alles, wofür er gekämpft hat, von einem internationalen Gericht freigesprochen worden ist.

Auf deinen Freispruch warte ich immer noch, seit zwölf Jahren, eine Revision wird immer wieder abgelehnt, vor allem in meinen dunklen Stunden, aber auch jetzt, wenn ich mich eigentlich freuen sollte.

Nicht bitter, nicht ungerecht, nicht selbstgerecht, nicht urteilen, keine Meinung haben. Und doch steigt die Wut unaufhaltsam, sie kommt in Wellen, jene Wut, die mir in all den Jahren vertraut geworden ist, sie befällt mich, wenn ich sie am wenigsten gebrauchen kann, blind und richtungslos, eine Wut, die sich ein Ziel sucht, damit sie sich nicht im Kreis dreht. Nicht bitter, nicht urteilen, nicht verurteilen, nicht gerecht, nicht ungerecht, nicht selbstgerecht, keine Fragen, an niemand, keine Meinung, zu nichts.

Der General ist dort oben, vielleicht unter der großen Linde hinter dem Haus, darunter haben sie für ihn, so erzählt man sich, einen Tisch und zwei Bänke hingestellt. Er hat sicher viele Bücher, einen gut gefüllten Weinkeller, eine beeindruckende CDSammlung, vielleicht auch eine leidlich gut ausgestattete Werkstatt und einen Garten. Miro hat in der Schule gehört, dass der General auch Polizeischutz bekommen soll, unauffällig und nur auf Zeit, nur für den Fall.

»Für welchen Fall?«, fragt Miro. »Hat der General Feinde?«

»Alle Helden haben Feinde«, antworte ich, »sie werden zwar von den meisten verehrt, von vielen geliebt, von manchen gefürchtet, aber von einigen wenigen auch gehasst.«

»War Papa auch ein Held?«

 

Ich nicke nur, schaue aus dem Fenster, fahre ihm mit gespreizten Fingern durchs dichte Haar, wische mir über die Augen. Nicht bitter, nicht urteilen, nicht verurteilen. Freitod statt Selbstmord.

Lieber Freund

Heute früh habe ich meine Wildbienen besucht. Sie haben sich in ihrem Zuhause so gut eingelebt, wie ich es mir für meines nur wünschen kann. Bei meinem ersten Besuch vor einer Woche waren die meisten Röhrchen entweder verschlossen oder noch leer, nun herrscht überall reger Betrieb. Die Wildbienen leben alleine, bilden keine Staaten, pflegen nur ihr eigenes Nest. Und doch – oder gerade darum? – sind sie nicht aggressiv und gehen allem aus dem Weg, was sie als Gefahr sehen.

Vorgestern war ich in Beregovo und habe mir ein Buch gekauft: »Die Letzten ihrer Art« von Douglas Adams. Es geht um Tiere, die vom Aussterben bedroht sind, ein trübseliges Thema, könnte man meinen. Aber das stimmt nicht, das Buch ist sehr unterhaltsam. Je mehr man darin liest, desto unglaublicher kommt es einem vor, dass diese Tiere überhaupt je gelebt haben. Ich schicke Ihnen auch ein Exemplar, ich bin ziemlich sicher, dass es Ihnen gefallen wird.

Unten in Beregovo soll im Spätsommer das Große Patriotische Fest zum zehnten Jahrestag des Sieges stattfinden. Wie ich höre, soll Major Kolar gleich nach der Staatspräsidentin der zweite Hauptredner sein. Sie kennen ihn ja. Es ist Ihnen kaum verborgen geblieben, wie wenig ich von ihm halte. Damals, als er noch Hauptmann in meinem Stab war, versuchte ich gelegentlich, ihm mit kleinen Späßchen Mut zu machen. Das war, um es mal vorsichtig auszudrücken, ziemlich oft nötig. Doch dann musste ich einsehen, dass er sowohl völlig humorlos wie auch unglaublich begriffsstutzig war, sodass ich damit aufhörte. Ich überließ ihn seiner Angst, nährte sie manchmal sogar, das gebe ich zu, und das machte mir umso mehr Spaß, als ich sah, dass auch meine Soldaten ihn durchschaut hatten. Ich schritt nur ein, wenn die Disziplin in der Truppe ernsthaft gefährdet war, keine Minute früher. Er hat mir das sicher nie verziehen, der tumbe Kolar, der an der Feier zum Jahrestag des Großen Sieges seine große Rede halten soll. Seine Stimme wird zittern, seine Augen flackern, seine schweißnassen Hände werden Flecken auf dem Manuskript hinterlassen. Und der naivere, also der größere Teil des Publikums wird das für Ergriffenheit halten, für Emotionen, die in einem solchen Moment nicht einmal ein Held des Großen Vaterlandskrieges unter Kontrolle halten kann.

Ich weiß nicht, ob er seine Rede schon geschrieben hat, bis zum Fest dauert es ja noch eine Weile. Doch in seinem Kopf, dessen bin ich mir sicher, ist die Rede so gut wie fertig. Und ich kenne den Inhalt, glauben Sie mir: Ich könnte Ihnen alles genau aufsagen. Aber keine Sorge, ich tue es nicht. Ich will nicht fluchen, will weder Sie noch mich ärgern, und so höre ich am besten mit Major Kolar auf. Nur noch dies: Ich frage mich, wie so oft, ob sie am Fest eher den eigenen Sieg oder die fremde Niederlage feiern werden. Unsere Völker haben seit jeher das Scheitern anderer mehr geschätzt als den eigenen Erfolg. Als wüssten sie mehr damit anzufangen, als könnten sie daraus mehr herausholen.

Wie geht es Ihnen? Ich hoffe, dass das neue Medikament gegen Ihr Knieleiden wirkt und Sie wieder längere Spaziergänge unternehmen können. Das ist etwas, was mir hier oft fehlt: unsere Spaziergänge. Und wie Sie gelegentlich stehen bleiben, in den Himmel schauen und dann eine Bemerkung über das Wetter machen. Als hätte das Wetter irgendwelche Bedeutung für uns gehabt. Selbst Ihrer Arthrose war es gleichgültig, ob es am Nachmittag regnen wird oder nicht. Aber Sie schauten immer wieder zwischen den Mauern hoch, die den Himmel zu einer Geometrieaufgabe formten, und dann teilten Sie mir mit, was für ein Wetter wir am Nachmittag bekommen würden.

Sehr freundlich, dass Dr. Froebe mich grüßen lässt. Er ist ein guter Mann, wenn auch manchmal etwas gar zu schweigsam.

Ich grüße Sie herzlich, von meinem Bienenhotel in das Ihre.

M.

Etwas ist anders, seit der General wieder in seinem Haus ist. Ich schlafe anders, bin anders wach, meine Gedanken sind fahriger, meine Traurigkeit hat den Ort verlassen, an dem ich sie verstaut hatte, damit sie mir nicht wehtut. Ich verspüre einen seltsamen Druck, einen glimmenden Hunger, eine drängende Unruhe. Mein Krieg ist nicht zu Ende, es herrscht kein Friede, bloß Waffenstillstand. Meine Fragen und meine Ängste drehen sich seit Jahren im Kreis, nun gehen sie aufeinander mit erhobenen Fäusten und gefletschten Zähnen los, sie belauern, beschnuppern sich, jeden Augenblick zum Angriff bereit.

Die Rückkehr des Generals hat eine neue Front eröffnet, ich weiß nur nicht, wer sich auf der anderen Seite eingegraben hat.

Mein lieber General,

das wird ein kurzer Brief, ich werde die nächsten Tage im Gerichtssaal verbringen, die Anklage hat neue Zeugen aufgeboten, ich muss mit meinem Anwalt die neuen Dokumente durchgehen.

Was ich Ihnen sagen wollte: Nicht Kolar, Sie sollten diese Rede halten, niemand anders. Wenn Sie es nicht tun, wird das auffallen, man wird es Ihnen – vorerst hinter vorgehaltener Hand – übelnehmen. Wer, wenn nicht Sie? Sie sollten es tun, und Sie werden es auch tun, da habe ich keine Zweifel. Es wird allerdings darauf ankommen, was Sie sagen werden: das, was alle erwarten und seit Langem verinnerlicht haben, oder das, woran sich alle noch lange erinnern werden?

Wer, wenn nicht Sie?

Herzlich, Bartok

Ich habe ihm geschrieben, einfach so, ich weiß nicht, warum, ich konnte nicht anders, ohne lange nachzudenken, spontan. Ich sei Ana Tironi, die Witwe von Marko Tironi, der General könne sich sicher an dich erinnern, du seist Leutnant in einer Sondereinheit gewesen, und du seist im Krieg gefallen. Ich sei glücklich, dass der Herr General freigesprochen worden sei, du wärest es sicher auch, du habest ihn sehr verehrt. Nun freuten mein Sohn Miro und ich uns, dass er sich in unserer Nähe niedergelassen habe, herzlich willkommen zu Hause, freundliche Grüße.

Du hättest das anders gemacht, klar, du hättest den General einfach so besucht, unbekümmert und laut, hättest mit ihm Schnaps getrunken und über den Krieg geredet, über Offensiven und Waffen, vielleicht auch über den Prozess in Den Haag, sicher über Dinge, die ich nie begreifen werde. Ich mache alles falsch, das sage ich mir immer wieder, egal ob ich zu viel oder zu wenig überlege. Meine Wut auf mich selbst kommt Hand in Hand mit der Traurigkeit, sie ist mir sehr vertraut, ich will sie nicht.

Kaum habe ich den Brief abgeschickt, bereue ich ihn. Du würdest nun schmunzeln und sagen, das sei typisch, du hast dich oft über meine spontanen Entschlüsse und das sofortige Bereuen lustig gemacht.

Vielleicht geht doch alles gut, sage ich mir. Vielleicht wirft der General den Brief weg und vergisst ihn sofort. Um mich abzulenken, lade ich Miro ins Kino ein. »Wallace und Gromit: Auf der Jagd nach dem Riesenkaninchen«. Lustig, spannend, entspannend. Auf dem Nachhauseweg erzählen wir uns ein paar Szenen nach und lachen, das ist schön. Später, alleine mit deinem Bild neben der kleinen Kerze, höre ich deine Stimme im Telefon wieder, damals, vor so vielen Jahren, dein Flüstern, meine Verzweiflung, weil ich dich nicht verstand.

Du bist nicht zurückgekehrt, und darum dauert mein Krieg immer noch an. Nun ist aber der General zurückgekehrt, vielleicht …

Worauf darf und worauf soll ich hoffen?

Zwei Tage später liegt eine Karte von General Modoran in meinem Briefkasten. Ich zeige Miro die Karte, er liest die Unterschrift, tut cool, aber ich merke, dass er beeindruckt ist. Der General lädt mich und Miro ein, ihn übermorgen am Vormittag in seinem Haus zu besuchen, er würde sich freuen, uns kennenzulernen. Miro fragt, ob er dafür die Schule schwänzen darf. Ich lache nur und verspreche, ihm alles zu erzählen.

Warum will der General uns sehen? Deinetwegen? Möchte er seinem gefallenen Untergebenen eine letzte Ehre erweisen, indem er dessen kleine Familie empfängt?

Du hast den General in deinem letzten Anruf erwähnt, flüsternd und eindringlich und für mich unverständlich. Wie soll ich mich nun verhalten?

Du antwortest nicht.

Miro ist sehr enttäuscht, weil er wegen der Schule nicht mitkommen kann, er gibt mir die Schuld und will gar nicht mit mir reden.

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