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Waldröschen IV. Matavese, der Fürst des Felsens. Teil 2

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Waldröschen IV. Matavese, der Fürst des Felsens. Teil 2
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Karl May

WALDRÖSCHEN IV. MATAVESE, DER FÜRST DES FELSENS. TEIL 2

1. Kapitel

Die Jacht dampfte nun dem Punkt der Küste entgegen, den der Kapitän bezeichnet hatte, und erreichte denselben binnen einer Viertelstunde. Da Sternau sich von den anderen die Spuren nicht verderben lassen wollte, stieg er allein aus, um den Ort sorgfältig abzusuchen, aber die Küste bestand aus hartem Korallenfelsen, und da gestern, als der Kampf stattgefunden hatte, gerade Ebbe gewesen war, so hatte die Flut inzwischen die Spuren verwaschen. Man mußte also unverrichteter Sache wieder abfahren.



Die Fahrt nach Verakruz war eine sehr schnelle und glückliche. Als man dort anlangte, wurde beschlossen, daß Sternau und Helmers die beiden Liebenden nach Mexiko begleiten sollten. Die Jacht blieb unter der Obhut der Matrosen zurück.



Da Mariano an so großer Schwäche litt, so war es unmöglich, zu Pferd zu reisen. Es wurde also die Postdiligence benutzt, die zwischen Mexiko und dem Hafen regelmäßig hin- und hergeht. Die drei Männer bewaffneten sich, versahen sich mit Proviant, da man in jenen Gegenden von unseren wohleingerichteten Restaurationen nichts weiß, und dann verließen sie die Hafenstadt.



Eine Fahrt mit der mexikanischen Diligence ist nichts Bequemes und Erfreuliches. Ein solcher Wagen ist für zwölf bis sechzehn Personen eingerichtet und wird von acht halbwilden Maultieren gezogen. Vorn sind zwei, in der Mitte vier und an der Deichsel wieder zwei angespannt. Die Tiere weiden Tag und Nacht im Freien und müssen vor dem Gebrauch immer erst mit dem Lasso eingefangen werden. Sie lassen sich das Geschirr nur mit höchster Widerspenstigkeit anlegen, aber einmal im Zug, sind sie auch kaum aus ihrem rasenden Galopp herauszubringen.



Die Gegend, die man durchfährt, ist beinahe ganz unbevölkert, der Weg geht durch öde Felsenstrecken, tiefe Schluchten, finstere Urwälder, und selten bemerkt man einmal eine einsame, armselige Indianerhütte, die von einem herabgekommenen Nachkommen der einstigen Beherrscher des Landes bewohnt wird. Kein Europäer kann sich einen Begriff von den Hindernissen machen, die der Reisende zu überwinden hat! Oft ist die Straße weiter nichts als das ausgetrocknete, mit Felsbrocken bedeckte Bett eines im Frühjahr reißenden Bergstroms, oft führt sie an Abgründen vorüber, in die man beim geringsten Fehltritt stürzt. Und dabei braust die Diligence in einem rasenden Galopp immer weiter. Der Kutscher sitzt auf dem Dock, die sechzehn Zügel in der Hand, und neben ihm sein Adjutant, der Mauleselbube.



Dieser hat keine Minute Ruhe. Er springt mitten im Galopp vom hohen Bock, um die Tiere zu richten oder den Wagen zu halten, dabei sammelt er sich die Taschen voller Steine, springt mitten im Lauf wieder auf, ohne daß dem Tempo im geringsten Einhalt getan wird, und bombardiert nun mit seinen Steinchen diejenigen Tiere, die sich faul oder unlenksam zeigen.



Dies ist die Schule, durch die er gehen muß, um später Kutscher werden zu können. Ein guter Diligencekutscher ist eine geschätzte Persönlichkeit, und zwar mit Recht. Er wird von jedermann »Señor« genannt. Wenn er die Strecke zwischen Mexiko und Verakruz versieht, so bezieht er eine Gage von hundertzwanzig Peseta pro Monat, das sind nach unserem Geld ungefähr fünfhundert Mark. Dabei wird er beköstigt und hat am Ende des Jahres, wenn er kein einziges Mal umgeworfen hat, noch Anspruch auf eine Extrabelohnung von tausend Mark zu machen. Er steht sich also besser als ein deutscher Postillion.



Eine große Plage ist die Unsicherheit des Weges. Jeder Mexikaner ist mehr oder weniger ein Freibeuter, zuweilen tun sich mehrere zusammen, und so ist es kein Wunder, wenn man eine Reise nur wohl bewaffnet unternimmt. Und dennoch kommt es häufig vor, daß die Passagiere ihr Ziel nicht unberaubt, vielleicht auch gar nicht erreichen, weil sie getötet werden.



Am Abend gelangten unsere Reisenden an eine Art von Gehöft, wo sie gezwungen waren zu übernachten. Dasselbe bestand aus einer niedrigen, schmutzigen Hütte, an die eine Umzäunung stieß, die von stachligem Kaktus hergestellt worden war. Innerhalb dieser Umzäunung weideten einige magere Pferde und Maultiere. Die Hütte bewohnte der »Postmeister«, ein hagerer Mexikaner, der einem Raubmörder ähnlicher sah als einem ehrlichen Mann.



Er führte neben der »Posthalterei« einen Pulque-Schank, das heißt, er sammelte den Saft einer Agavenart, ließ denselben in schmutzigen Töpfen gären und verkaufte ihn gegen so hohes Geld an diejenigen Insassen der Diligence, die sich nicht ekelten, ihren Durst mit dieser Brühe zu stillen.



Amy behauptete, sich vor diesem Mann zu fürchten, sie scheute sich überdies vor dem gräßlichen Schmutz seiner Wohnung, und so wurde ihr in der Diligence ein Lager zubereitet. Die drei Männer wollten in der Nähe derselben im Freien schlafen.



Der Abend war ein herrlicher. Die Sterne leuchteten wie glühende Funken vom Himmel hernieder, und balsamische Lüfte fächelten die ruhende Erde. Amy und Mariano hatten sich von den anderen getrennt und wandelten unter dem Schutz der Umzäunung auf und nieder. Sie führten sich am Arm; das Herz war ihnen voll, und doch fanden sie keine Worte, um die Größe ihres Glücks zu beschreiben. Endlich sagte Amy mit leiser Stimme:



»Welch eine Zeit zwischen jetzt und Rodriganda!« – »Eine Zeit schwerer Trübsale für mich«, antwortete er. – »Und für mich eine Zeit bitterer Sorge um dich, mein Alfred.«



Da ließ er ihren Arm fahren, blieb stehen und sagte:



»Nenne mich nicht mehr Alfred, sondern Mariano, denn so ist mein Name.« – »Mariano?« – »Ja. Alfred de Lautreville war nur ein angenommener Name.«



Amy blickte überrascht zu ihm empor und sagte nach einer kleinen Pause:



»War es das, was dich so sehr bedrückte?« – »Ja, das war es. Komme, laß uns niedersetzen, ich muß wahr gegen dich sein.« – »Hat dies nicht noch Zeit, mein Geliebter?« – »Nein. Es lastet schwer auf meiner Seele, und diesen Druck will ich loswerden.« – »Aber du bist krank. Du wirst dich aufregen!« – »Trage keine Sorge, Amy. Das Bewußtsein, unredlich zu handeln, schadet mehr als die Erinnerung an eine Zeit, von der ich wünsche, daß sie nicht gewesen wäre.«



Ein Felsblock gab ihnen einen bequemen Sitz. Sie nahmen Platz, und nachdem Mariano einige Zeit lang trübe vor sich hingeblickt hatte, begann er:



»Du hast von Sternau einiges über meine mutmaßliche Abstammung gehört?« – »Ja, bereits in Rodriganda gab er mir einige Andeutungen, und später schrieb er mir darüber.« – »Nun wohl. Ich bin das Opfer eines Verbrechens, das aufzudecken meine Lebensaufgabe ist. Ich wurde meinen Eltern geraubt und kam in eine Räuberhöhle.«



Amy stieß einen Ruf der Überraschung aus.



»Ist‘s möglich! In eine Räuberhöhle?« – »Ja. Ich bin ein Brigant, ein Räuber.«



Das hatte Amy allerdings nicht erwartet, das stürmte mit voller Wucht auf sie ein. Sie holte tief Atem, aber sie vermochte nicht, ein Wort zu sprechen.



Er bemerkte das mit unendlichem Schmerz, rückte von ihr fort und sagte:



»Du schweigst. Du verachtest mich. Das war es, was ich fürchtete.«



Da faßte sie ihn bei der Hand und fragte:



»Du konntest nicht dafür, daß du an diesen schauerlichen Ort kamst?« – »Nein, denn ich war noch ein Kind.« – »Und du wurdest ohne deine Schuld als Brigant erzogen?« – »Ich lebte unter den Briganten, aber ich wurde nicht als solcher erzogen. Ich habe nie das Geringste getan, was mich mit dem Gesetz hätte in Konflikt bringen können.« – »Gott sei Dank!« sagte sie. »Da ist ja alles gut. Aber wie konntest du unter den Räubern der Mann werden, der du geworden bist?« – »Weil der Kapitän höhere Absichten mit mir verfolgt zu haben scheint. Er ließ mich ganz nach dem Stand erziehen, dem ich eigentlich angehöre. Das einzige Unrecht, das ich beging, war, daß ich in Rodriganda einen falschen Namen trug.« – »Du konntest nicht anders, mein Mariano.«



Es war das erste Mal, daß sie diesen Namen aussprach. Er preßte ihre Hand an sein Herz und erwiderte:



»Ich danke dir, mein Leben! Du machst mir das Herz leicht, und nun habe ich auch den Mut, dir alles, alles zu erzählen, was mich so lange und so schwer bedrückte.«



Er zog sie nun an sich, legte leise ihr Köpfchen an seine Brust und begann zu erzählen. Er berichtete von den Erinnerungen an die ersten Tage seiner Kindheit, von seinem Leben unter den Briganten, und von allem, was später gekommen war. Es dauerte lange, ehe er fertig wurde, aber als er geendet und ihr dann auch all die scharfsinnigen Kombinationen Sternaus berichtet hatte, da schlang sie die Arme um seinen Hals, küßte ihn und sagte:



»Ich danke dir für deine Offenheit! Nun ist alles, alles gut, denn nun weiß ich, daß du meiner würdig bist. Gott wird alles zum Besten lenken.« – »Aber dein Vater…?« fragte er. – »Trage um ihn keine Sorge! Er ist gerecht und mild und liebt mich von ganzem Herzen; er wird tun, was ihm seine Liebe gebietet.«



Sie saßen noch eine ganze Weile beieinander, versunken in Hoffnung und Glück, dann aber kehrten sie zu den anderen zurück, um sich zur Ruhe zu begeben. Amy schlief in dem Wagen, und die anderen lagen, in ihre Decken gehüllt, neben demselben.



Am anderen Morgen wurde die Reise fortgesetzt. Das fürchterliche Fahren griff Mariano bei seinem geschwächten Zustand außerordentlich an, und als sie Mexiko erreichten, war er fast noch kränker als vorher, aber Sternau beruhigte das besorgte Mädchen und sagte, daß einige Wochen der Erholung hinreichen würden, Mariano seine Kräfte und seine Gesundheit zurückzugeben.



Amy wollte, daß ihre drei Begleiter sofort mit nach dem Palast ihres Vaters fahren sollten, aber Sternau schlug dies ab.



»Wir bleiben im Hotel«, sagte er. »Ihr Vater kennt uns noch nicht persönlich, und was Sie ihm von uns erzählt haben, das reicht nicht hin, so ohne weiteres seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.« – »Aber Sie haben mir so große Dienste geleistet und mich sicher nach Mexiko gebracht.«

 



Sternau lächelte und antwortete:



»Miß Amy, wollen Sie unseren Freund Mariano so ganz ohne alle Einleitung Ihrem Vater als ihren Verlobten vorstellen?«



Sie errötete und antwortete:



»Sie mögen recht haben. Steigen Sie einstweilen im Hotel ab, aber versprechen Sie mir auch, daß Sie sich nicht zurückziehen werden, wenn mein Vater wünscht, daß Sie bei uns wohnen sollen.« – »Das verspreche ich gern, Miß. Ich bin nach Mexiko auch in der Absicht gekommen, um diesen Cortejo kennenzulernen, und das wird leichter sein, wenn ich bei Ihnen wohne. Vielleicht finden wir hier den Schlüssel zu dem Rätsel, dessen Lösung unsere Aufgabe ist.«



2. Kapitel

Die Diligence brachte zunächst die drei Männer nach dem Hotel, wo sie abstiegen, und dann Amy nach dem Palast ihres Vaters.



Dieser hatte keine Ahnung gehabt, daß seine Tochter so schnell zurückkehren werde, und war daher im höchsten Grade erstaunt sie bei sich eintreten zu sehen.



»Amy!« rief er, sich von seinem Arbeitssessel erheben. »Ist das möglich!« – »Oh, Papa, es ist sogar wirklich«, lachte sie. »Wenigstens hoffe ich, daß du mich nicht als einen Geist ansiehst!« – Aber du kannst ja gar nicht in Jamaika gewesen sein.« – »Freilich war ich dort. Ich werde dir dies beweisen, indem ich dir die Antwort des Gouverneurs überreiche.«



Sie zog ihr Portefeuille und legte ihm die Skripturen vor.



»Wahrhaftig!« meinte der Lord. »Aber wie ist das zugegangen?« – »Das hast du nur den Herren zu verdanken, die mich begleiteten, Pa.« – »Welchen Herren?« – »Nun, vor allen Dingen Herrn Sternau.« – »Herrn Sternau?« fragte er abermals verwundert – »Ja, Herrn Doktor Sternau.« – »Alle Tausend! Du meinst doch nicht etwa jenen famosen Doktor Sternau, von dem du mir erzählt hast und den du in Rodriganda trafst?« – »Gerade den meine ich.« – »Der hat dich nach Mexiko gebracht?« – »Erst nach Jamaika und dann nach Mexiko. Er ist in Begleitung zweier Herren hier. Ich werde dir das erklären, nachdem du die Antworten des Gouverneurs gelesen hast. Bis dahin habe ich Zeit gefunden, meine Reisetoilette abzulegen.«



Erst jetzt fanden Vater und Tochter Zeit, sich durch eine Umarmung zu begrüßen, dann verließ sie ihn, um sich von den Spuren der Reise zu befreien.



Nach einer Stunde befand sie sich abermals bei ihm. Sie saß an seiner Seite und erzählte, wahr und aufrichtig, wie es einer Tochter geziemt. Er hörte ihr mit sehr ernster Miene zu. Das, was er hörte, klang ja abenteuerlicher als ein Roman und machte ihm schwere Sorgen. Amy war seine einzige Tochter, er hatte weitgehende Pläne mit ihr gehabt, und nun teilte sie ihm auf einmal mit, daß sie – einen spanischen Räuber liebe.



Als sie geendigt hatte, wartete sie vergebens auf Antwort. Er erhob sich und schritt wortlos im Zimmer auf und ab. Endlich aber blieb er vor ihr stehen und sagte mit milder Stimme:



»Amy, mein Kind, ich habe immer nur Freude an dir erlebt, heute aber ist es das erste Mal, daß du mich betrübst.«



Da sprang sie empor und schlang die Arme um seinen Hals.



»Verzeih mir! Ich will dich nicht betrüben«, sagte sie, »aber Gott hat diese Liebe in mein Herz gelegt, und nun kann ich nicht anders.«



Er schob sie leise von sich und fragte:



»Und du glaubst an alles das, was du mir jetzt von diesem Mariano erzählt hast?« – »Ja, ich glaube es sicher und fest.« – »Und du liebst wirklich diesen – diesen Zögling eines Räuberhauptmanns?« – »Ich liebe ihn«, sagte sie, indem sie den Vater offen anblickte, »ich liebe ihn so, daß ich ohne ihn nie glücklich werden kann!« – »Und an mich, deinen Vater, denkst du nicht?« fragte er, beinahe traurig. – »Doch, Pa, ich denke auch an dich.« – »Und dennoch sprichst du von dieser – abenteuerlichen Liebe!«



Da trat sie einen Schritt auf ihn zu und fragte:



»Vater, du gönnst es mir, glücklich zu sein?« – »Gewiß! Und eben weil ich wünsche, daß du glücklich seist, tut es mir so weh, dein Herz in diesen Fesseln zu wissen.« – »Prüfe Mariano, Pa, prüfe ihn. Und wenn du dann noch sagst, daß er meiner unwürdig sei, so werde ich dir gehorchen und ihn nie wiedersehen.«



Es lag ein großes, kindliches Vertrauen in diesen Worten. Der Lord fühlte das, und daher klärten sich seine Züge auf.



»Ich danke dir für dieses Wort, Amy!« sagte er. »Du sollst dich in deinem Vater nicht täuschen. Gehe jetzt und ruhe von deiner Reise aus, ich werde unterdessen nachdenken, was ich tun kann, um dich glücklich zu sehen.«



Er küßte sie mit väterlicher Zärtlichkeit, und dann wandte er sich seiner Arbeit zu, aber nur scheinbar, denn als Amy ihn verlassen hatte, erhob er sich wieder von seinem Sessel und wanderte ruhelos im Zimmer auf und ab. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.



»Es gibt nur einen, an den ich mich in dieser schlimmen Angelegenheit wenden kann«, sagte er zu sich selbst. »Das ist kein anderer als jener Sternau, der ein wahrer Held an Geist und Körper zu sein scheint. Ich kenne ihn zwar persönlich nicht, aber was ich von ihm gehört habe, das ist genug, um ihm mein volles Vertrauen zu schenken.«



Er klingelte seinem Diener und ließ sich zum Ausgehen ankleiden. Heute aber machte er von seiner Equipage keinen Gebrauch. Zwar ist es in Mexiko fast eine Schande, sich als Fußgänger auf der Straße sehen zu lassen, aber der Lord zog es dennoch vor, nach dem Hotel zu gehen, das ihm als Absteigequartier der drei Herren von seiner Tochter bezeichnet worden war.



Als er dort angekommen, erkundigte er sich bei dem Wirt nach Señor Sternau.



»Er ist in seinem Zimmer«, lautete die Antwort. »Wollen Sie ihn sprechen?« – »Ja.« – »Wen soll ich melden?« – »Einen Herrn, der ihn unter vier Augen zu sprechen verlangt.«



Sternau wunderte sich allerdings, als er so kurze Zeit nach seiner Ankunft hörte, daß ihn bereits ein Fremder zu sprechen wünsche, noch dazu unter vier Augen, doch gewährte er sofort diese Bitte. Als der Lord eintrat und nun die beiden Männer sich gegenüberstanden, maßen sie sich zunächst mit forschenden Blicken. Sternau erkannte sofort, daß er keinen gewöhnlichen Mann vor sich habe, und das Auge des Lords wiederum hing mit sichtbarem Wohlgefallen an der Riesengestalt und dem offenen Angesicht des Deutschen.



»Sie haben mich zu sprechen verlangt?« fragte der letztere in wohlklingendem Spanisch. – »Allerdings«, antwortete der erstere. »Vielleicht ist es Ihnen lieber, wenn wir uns der deutschen Sprache bedienen?« – »Ah, Sie sind ein Deutscher?« – »Nein, ein Engländer. Mein Name ist Lindsay.«



Sternau machte eine Gebärde der Überraschung.



»Lindsay, Sir? Sie sind vielleicht gar Lord Lindsay, der Vater von …?« – »Allerdings bin ich der, mein Herr.« – »Dann bitte ich dringend, Platz zu nehmen, Sir. Ich konnte nicht ahnen, daß ich einen so unerwarteten Besuch bei mir sehen würde.« – »Unerwartet ist dieser Besuch allerdings«, sagte Lindsay, indem er sich setzte. Aber Sie werden dennoch den Grund desselben ahnen.« – »Vielleicht«, antwortete Sternau mit einer ernsten Neigung seines Hauptes. – »Lassen Sie sich zunächst Dank sagen, Herr Doktor, für die Freundlichkeit und Aufmerksamkeit, die Sie meiner Tochter erwiesen haben.« – »O bitte! Ich tat nichts anderes, als was jeder gebildete Mann tun würde.« – »Und sodann erlauben Sie mir, mich in einer sehr ernsten Sache an Sie zu wenden.«



Sternau hielt es für seine Pflicht, dem Lord entgegenzukommen.



»Sie meinen den Freund, der bei mir ist?« fragte er. – »Ja. Ich meine das Verhältnis dieses Herrn zu meiner Tochter.« – »So hat Miß Amy Ihnen sofort erzählt …?« – »Sofort! Ich konnte das auch gar nicht anders von ihr erwarten. Sie ist gewöhnt, ihrem Vater zu vertrauen. Sie kennen diesen Freund genau, Herr Sternau?« – »Ja.« – »Und auch seine Vergangenheit?« – »Ja.« – »So ist Ihnen dieselbe also kein Rätsel?« – »Nein.« – »Aber Amy sagte doch, daß er sich in Verhältnissen befinde, die eine geradezu abenteuerliche Entwicklung derselben erwarten lassen.« – »Wollen Sie mich nicht falsch verstehen, Sir!« bat Sternau. »Sie fragten mich, ob ich die Verhältnisse meines Freundes kenne, und ich bejahte diese Frage, weil ich die Lage meinte, in der er sich gegenwärtig befindet. Er ist – um kurz zu sein – ein entsprungener Räuberzögling, der auf Gottes weiter Welt nichts, gar nichts sein eigen nennt. Das ist, was ich über ihn zu sagen habe.«



Der Lord sah den Sprecher fragend und ungewiß an. Dann sagte er:



»Aber dieser Zögling der Räuber hat wohl eine Zukunft?« – »Höchstwahrscheinlich.« – »Und welche?«



Sternau zuckte die Schultern. Er kannte den Lord nicht, er wußte nicht, mit welchen Hintergedanken derselbe gekommen sei, und verhielt sich daher zurückhaltend.



»Sie sind sehr reserviert, Herr Sternau«, versetzte Lindsay. »Lassen Sie sich sagen, daß ich nichts so sehnlich wünsche, als daß mein Kind glücklich sei. Sie werden aber einsehen, daß ein vorsichtiger Vater keineswegs das Glück seines Kindes in einer Verbindung mit einem Mann gesichert sieht, von dem er nichts anderes weiß, als daß derselbe ein Räuber war.« – »O bitte, Mariano war nicht Räuber, Sir!« – »Gut, ich will das zugeben. Sie werden jedoch meinen Wunsch begreifen, etwas Näheres über diesen Mariano zu erfahren. Und da Sie mir als ein Ehrenmann geschildert worden sind, so hielt ich es für das einfachste, Sie um Aufklärung zu bitten. Wird diese Bitte eine Fehlbitte sein?«



Diese Worte waren in einem so offenen und herzlichen Ton gesprochen, daß Sternau sich besiegt fühlte. Er antwortete:



»Mylord, was ich weiß, das sollen Sie erfahren. Fragen Sie!« – »Man vermutet, daß Mariano das geraubte Kind des Grafen Emanuel de Rodriganda sei?« – »Ja.« – »Und was halten Sie selbst von dieser Vermutung?« – »Ich halte sie für sehr begründet. Ja, ich bin sogar derjenige, dem diese Vermutung zuerst gekommen ist.« – »Darf ich Sie um die Gründe bitten, die Sie auf einen ebenso seltsamen wie kühnen Gedanken gebracht haben?« – »Gewiß! Wenn es Ihnen Ihre Zeit erlaubt, werde ich Ihnen meine Erlebnisse erzählen.« – »Ich ersuche Sie darum. Zwar hat mir meine Tochter bereits einige Mitteilungen gemacht, doch sind diese noch so lückenhaft, daß ich auf die Ihrigen förmlich gespannt sein muß.« – »So hören Sie!«



Sternau erzählte nun auf das ausführlichste alle seine Erlebnisse und Gedanken, von seiner Ankunft in Spanien an bis auf die gegenwärtige Stunde. Der Lord hörte mit immer mehr wachsender Spannung zu. Sternaus Worte trugen das Gepräge der nüchternsten Wahrheit, und die Schlüsse, die er zog, ruhten auf so sicheren Gründen und Voraussetzungen, daß der Lord sich schließlich ganz überzeugt fühlte.



»Aber das ist ja etwas ganz Außerordentliches!« rief er. »Das liest man ja auf diese Weise kaum in einem Roman!« – »Ich gebe das zu, Mylord«, erwiderte Sternau. »Aber Sie werden nicht glauben, daß ich Ihnen Unwahrheiten erzählte!« – »Keineswegs!« versetzte Lindsay schnell. – »Und ebensowenig werden Sie sagen, daß meine Berechnungen in der Luft ruhen!« – »Auch das nicht. Ich fühle mich im Gegenteil von der Schärfe Ihrer Schlüsse ganz fortgerissen und überzeugt. Also lassen Sie uns einmal die Summe ziehen: Dem Grafen Emanuel des Rodriganda wurde der einzige noch lebende Sohn geraubt …« – »So ist es.« – »Der Raub geschah mit Hilfe von Briganten, die den Knaben in ihrer Höhle verbargen. Der eigentliche Räuber aber ist Gasparino Cortejo.« – »Ich bin vollständig überzeugt davon.« – »In welcher Absicht geschah der Raub? Das ist eine hochwichtige Frage.« – »Um einen Sohn dieses Gasparino zum Grafen Rodriganda zu machen.« – »Und die Mutter dieses Kindes ist jene fromme Schwester Clarissa?« – »Ja.« – »Gut, so wollen wir weiter summieren! Der Pater Dominikaner kannte das Geheimnis und verriet es auf Veranlassung jenes Bettlers Pedro so ziemlich an den geraubten Knaben. Dieser erhielt dadurch eine Ahnung von seiner Abstammung. Er kam nach Rodriganda und wurde von Cortejo erkannt. Infolgedessen übergab dieser ihn dem Piratenkapitän, der ihn unschädlich machen sollte. Sie retteten ihn und bringen ihn nach Mexiko. Ist es so?« – »Vollständig.« – »Was aber beabsichtigten Sie mit Ihrer gegenwärtigen Reise nach Mexiko?« – »Zunächst will ich sehen, ob jene Marie Hermoyes, die das untergeschobene Kind nach Mexiko brachte, noch lebt, und ebenso jener Pedro Arbellez, der zur damaligen Zeit Inspektor des Grafen Ferdinando hier war. Und ferner dürfen Sie nicht vergessen, Mylord, daß ich vermute, daß Graf Ferdinando damals gar nicht gestorben ist. Jener Steuermann, der im Gefängnis von Barcelona starb, erzählte von einem Gefangenen, der nach Harrar verkauft worden ist.« – »Und Sie vermuten in jenem Gefangenen den Grafen Ferdinando?« – »Ja. Diese Vermutung mag Ihnen außerordentlich kühn erscheinen, aber wenn Sie bedenken, mit welchen Mitteln Cortejo operiert, so werden Sie keine Unwahrscheinlichkeit darin erblicken. Ich bin fest entschlossen, das Erbbegräbnis der Rodriganda hier in Mexiko zu öffnen, um zu sehen, ob sich die Leiche im Sarg befindet.« – »Ich werde Ihnen behilflich sein, die Erlaubnis der Behörde dazu zu erhalten.«

 



Sternau machte eine geringschätzige, verneinende Handbewegung und erwiderte:



»Ich danke Ihnen, Mylord. Ich sehe von aller behördlichen Hilfe ab.« – »Aber Sie begeben sich da in große Gefahr, Herr Sternau.« – »Pah, diese Gefahr fürchte ich nicht! Wenn ich Sie um etwas bitte, so ist es ein anderes.« – »Was?« – »Vielleicht ist es Ihnen möglich, mir die Bekanntschaft mit Pablo Cortejo zu erleichtern.« – »Das will ich Ihnen sehr gern zu Gefallen tun. Sie wollen ihn kennenlernen?« – »Ja; es ist dies durchaus notwendig.« – »Gut. Ich verkehre in Kreisen, in denen auch er zuweilen anwesend ist. Übrigens bin ich überzeugt, daß er ein Schurke ist. Er wollte mich kürzlich ah, da fällt mir ja gleich ein … Sie suchten den Aufenthalt des Pedro Arbellez?« – »Ja; ich sagte dies bereits vorhin.« – »Nun, da kann ich Ihnen Auskunft geben. Er ist jetzt der Besitzer der Hacienda del Erina im Norden des Landes. Cortejo wollte mich betrügen. Ich sollte diese Hazienda von ihm kaufen, obgleich sie Eigentum dieses Arbellez ist. – »So bin ich vielleicht gezwungen, diese Hazienda aufzusuchen.« – »Aber Herr Sternau, warum geben gerade Sie sich so große Mühe in der Sache?« – »Ich bitte daran zu denken, daß Condesa Rosa de Rodriganda jetzt meine Gattin ist. Mariano ist ihr Bruder, folglich mein Schwager.« – »Weiß er das?« – »Nein. Ich habe es vorgezogen, ihm dies noch zu verschweigen. Auch Miß Amy und meinen Begleiter Helmers bat ich, nicht davon zu sprechen. Er soll es erst erfahren, sobald wir vor sicheren Tatsachen stehen. Auf welche Weise kann man wohl ohne Auffälligkeit erfahren, wo das Erbbegräbnis der Rodriganda sich befindet?« – »Danach will ich mich erkundigen, mein Lieber. Eine Frage meinerseits wird kein Befremden erregen.« – »Ich danke Ihnen, Mylord, und bitte, möglichst schnell dabei zu verfahren, denn …«



Sternau wurde unterbrochen, denn die Tür öffnete sich, und Mariano trat herein. Als er einen Fremden erblickte, wollte er wieder zurücktreten, aber Sternau erhob sich schnell und winkte ihm, herbeizukommen.



»Treten Sie näher, mein Freund«, sagte er. »Sie stören uns nicht.«



Er wandte sich darauf zu dem Lord und erklärte ihm:



»Dieser Herr ist mein Freund Mariano.« Und sich zu dem letzteren wendend, sagte er »Und hier sehen Sie Lord Lindsay, den Vater der Dame, die zu begleiten wir die Ehre und das Vergnügen hatten.«



Als Mariano den Namen des Vaters seiner Geliebten hörte, errötete er, aber er kämpfte die in ihm aufsteigende Verlegenheit schnell nieder und verbeugte sich mit edlem Anstand vor dem Lord.



»Soeben haben wir von Ihnen gesprochen«, sagte dieser aufrichtig. »Ich wünschte Sie infolgedessen zu sehen, und Ihr Erscheinen erspart es mir, mich bei Ihnen melden zu lassen. Sie sind während der Rückreise meiner Tochter ein treuer Beschützer gewesen. Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank entgegen.«



Er reichte dem jungen Mann die Hand. Dieser ergriff sie und erwiderte: »O Mylord, mein Schutz hätte Miß Amy wohl von keiner Gefahr befreien können. Ich bin Patient, und als solcher war es mir unmöglich, der tapfere Ritter einer Dame zu sein.«



Sein müdes Auge hatte sich belebt, und über seine bleichen Züge flog eine leichte Röte. Man sah es ihm an, welch ein schöner Mann er in den Tagen seiner Kraft und Gesundheit gewesen sein müsse. Hatten die Auseinandersetzungen Sternaus dazu beigetragen, die Bedenken des Lords abzuschwächen, so war es jetzt das leidende Aussehen Marianos, welches das Mitgefühl des Engländers erweckte. Er behielt die abgemagerte Hand des Armen in der seinigen und sagte mild und freundlich:



»Sie bedürfen sehr dringend der Pflege und Erholung. Werden Sie diese hier im Hotel bei fremden Leuten finden?« – »Ich hoffe es, Mylord.« – »Ja, Sie hoffen es, aber diese Hoffnung wird eine vergebliche sein. Ein mexikanisches Gasthaus ist kein Aufenthalt für einen Kranken. Ich bitte Sie daher, mit meiner Wohnung vorliebzunehmen.«



Mariano blickte schnell auf. Es leuchtete ein Blitz des