Sonnenscheinchen

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Sonnenscheinchen
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KARL MAY
SONNENSCHEINCHEN

ERZGEBIRGISCHE

DORFGESCHICHTE

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 43

„AUS DUNKLEM TANN“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1329-7

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

Sonnenscheinchen

Sonnenscheinchen

Der Herr Major fuhr durch das Dorf. Die Frau Major saß neben ihm. Und auch das ,Majörle‘ war dabei, das kleine.

Man kannte den Herrn Major im ganzen Ort, und jedermann, einen Einzigen ausgenommen, hatte ihn lieb. Er gehörte zu jenen im Dienst unnachsichtig strengen Offizieren, die aber, sobald sie den Zivilrock tragen, gegen alle Menschen mild und freundlich sind. Und heut war er in Zivil! Der weiche Felbelhut saß ihm hinten im Nacken, sodass das braune Gesicht mit der hohen Stirn, unter der die hellen Augen nach allen Seiten lachten, ganz zu sehen war.

Die Frau Major war eine schöne, schlanke, aber blasse Frau. Den Schleier hatte sie trotz des Sonnenscheins, der rundum licht auf den Fluren lag, zurückgeschlagen, um die gesunde, reine Bergluft frei einatmen zu können. Ihre Augen hatten fast die Farbe der Veilchen, die sich schon hier und da im Gras sonnten; sie schaute so sinnend, so eigentümlich träumerisch in die Welt hinein. Was für Augen waren das wohl? Diese Frage wusste der Herr Lehrer am besten zu beantworten. Er war in den vorigen Ferien in der Hauptstadt gewesen und hatte bei Majors mitspeisen dürfen. Da hatte er mit der Frau viel gesprochen und dann nach seiner Rückkehr im Dorf berichtet: „Sie ist hochgebildet und sehr ideal; darum fasst sie alles von der poetischen Seite auf. Ja, sie macht sogar Gedichte!“

Das ,Majörle‘, das im Wagen rückwärts saß, war nicht in Zivil. Seine elfjährige Gestalt steckte in der schönen, bunten Uniform, die ihm zu Weihnachten vom Christkindlein beschert worden war. Daheim durfte sie nur im Zimmer gertragen werden; auf der Straße war es verboten. Aber hier im Dorf, das war etwas ganz anderes! Das ,Majörle‘ hatte rundweg erklärt, es werde diese Reise in das Gebirge nicht mitmachen, wenn es die Uniform nicht anziehen dürfe, und dieser militärisch feste Wille war nach langen, elterlichen Gegenreden schließlich mit der schuldigen Achtung begriffen und ausgeführt worden. In der Rangliste der Kinderzeit steht das ,Majörle‘ über dem Major. Man hat ihm zu gehorchen!

Heut war ein warmer, einzigschöner Frühlingstag. Die Luft schien stillzustehen, doch fühlte man den Hauch des jungen Lebens, der aus dem Mund des Lenzes geht, wenn dieser der Natur leise verkündet, dass es nun wieder blühen und duften werde. Die Sonne hatte den Mittagspunkt noch nicht erreicht, schien aber schon so warm wie sonst im Mai. Es war, als habe sie die Leute sogar aus der Kirche gelockt. Der Sonntags-Frühgottesdienst war zu Ende, und die Leute kamen, die Gesangsbücher in den Händen, aus dem breiten Kirchentor, um sich heimkehrend im Dorf zu verteilen. Diejenigen von ihnen, die dem Wagen des Majors begegneten, grüßten mit jener warmen Höflichkeit, der man es ansieht, dass sie aus dem Herzen kommt. Der Major dankte, indem er den Hut abnahm. Frau Major nickte freundlich. Das ,Majörle‘ legte das Zeige- und Mittelfingerchen an die betresste Mütze und machte dazu eine Miene, als ob es gar keinen höheren Rang über ihm gäbe. Das war so eine selbstbewusste Art, die wahrscheinlich von seinen vielen vornehmen Ahnen stammte.

Warum schauten die Dorfbewohner, nachdem sie freundlich gegrüßt hatten, mit so bedenklicher Miene hinter dem Wagen her? Das hatte seinen Grund, und jeder kannte ihn. Draußen vor dem Ort lag der Pachthof, der dem Major gehörte. Der alte Pächter, der ihn stets gut bewirtschaftet hatte, lebte nicht mehr, und sein Sohn war leichten Sinns und liebte die Arbeit weniger als das Vergnügen. Er war unverheiratet. Ein rechter Bauer aber braucht eine brave, arbeitsame Bäuerin, die scharfe Augen hat und alles wohl zusammenhält. Wer sich auf fremdes Gesinde verlässt, der kann leicht rückwärts, selten vorwärts kommen, zumal wenn er das Wirtshaus mehr als seine Felder, oder Kartenspiel und Trunk mehr als die Arbeit liebt. Und leider war dies bei dem Pachthofer der Fall.

Für kurze Zeit, nach seines Vaters Tod, war es wohl gegangen. Da hatte er einen fleißigen Knecht, der sich des Hofs annahm, als ob es zu seinem eigenen Vorteil sei. Das war der Felber Fritz, der beim Militär gestanden und dort gelernt hatte, pünktlich und treu und arbeitsam zu sein. Seit dieser aber ganz plötzlich seinen Dienst verlassen und sich mit einer gewaltigen Ohrfeige von seinem Herrn verabschiedet hatte, waren die Erträgnisse des Pachthofs von Jahr zu Jahr zurückgegangen. Man sprach davon, dass die Zinsen schon seit längerer Zeit nicht bezahlt worden seien. Der Major hatte bei dem Gemeindevorstand brieflich Auskunft eingeholt, und als er nun heut nach dem Tod des alten Pächters zum ersten Mal wieder im Dorf erschien, verstand es sich ganz von selbst, dass er gekommen war, um persönlich nachzusehen, wie es um sein Eigentum stand.

Der Pachthof lag am oberen Ende des Dorfes. Der Major ließ aber den Wagen schon früher halten, um auszusteigen. Man wollte überraschen. Das ,Majörle‘ ging hinter seinen Eltern. Es nahm den Säbel hoch in den gekrümmten Arm und kniff das eine Auge vornehm zu, als ob es ein Einglas trüge. Man sah das Tor von weitem. Es gab über ihm eine Sonnenuhr, die jedenfalls von einem schon längst verstorbenen Dorfkünstler gemalt worden war. Sie stellte einen Engel dar, von dem sehr schön gelbgefärbte Strahlen ausgingen. Seine Wangen glühten wunderbar zinnoberrot, und die Augen waren ganz ausgesprochen himmelblau. Die Stundenziffern standen auf den beiden Flügeln.

Vor diesem Bild stand in der Mitte des Weges ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt. Über sein sauberes Sonntagskleidchen hingen zwei dicke, lange, goldblonde Flechten, geschmückt mit einem blauseidenen Band. Die Wangen glühten vor Gesundheit, wenn auch das kleine, holde Wesen so vertieft war, dass es die drei Herankommenden gar nicht bemerkte. Die Frau Major blieb überrascht stehen.

„Welch ein schönes Kind!“, sagte sie in gedämpftem Ton. „Wie schmuck und rein! Da kann man wohl schon freundlich auf die Mutter schließen.“

Der Major nickte beistimmend. Das ,Majörle‘ aber ging stracks auf das Mädchen zu, ließ den Säbel rasselnd fallen, stemmte beide Fäuste in die Hüften und fragte: „Wer bist du? Und warum stehst du hier vor unserem Tor?“

Das Kind drehte sich zu ihm herum und betrachtete ihn mit großen, klaren Augen. Etwas so Schönes wie diese seine Uniform hatte es noch nie gesehen. Dennoch klang seine Stimme vollständig furchtlos, als es antwortete: „Ich bin das ,Sonnenscheinchen‘. Dieses Tor ist nicht euer, sondern unser. Wer bist du denn?“

„Ich bin das ,Majörle‘“, sagte er. „Mama nennt mich so. Und dieses Tor war schon unser, als ich noch das ganz kleine Hauptmännle war. Der da drin wohnt, ist unser Pächter. Wir sind reich, sehr reich!“

Er richtete sich bei diesen Worten so hoch auf, wie er konnte. Sie aber entgegnete, ohne sich einschüchtern zu lassen: „Euer Pächter? Das ist nichts! Er hat von meinem Vater eine Maulschelle bekommen. Das weiß das ganze Dorf. Mein Vater war der Oberknecht. Das ist mehr als ein ,Majörle‘. Und reich sind wir auch. In meiner Sparbüchse sind schon dreizehn Pfennig. Willst du sie sehn, so komm! Ich zeig’ sie dir!“

„Ja“, nickte er, mehr aus Höflichkeit als aus Hochachtung. „Wir müssen aber erst mit dem Pächter reden. Wo wohnst du denn?“

„Wo es am schönsten ist: ,Im Sonnenschein‘. So nennt man unser Haus. Willst du, dass ich an der Straße auf dich warte?“

„Ja.“

„Gut! Aber erst muss ich essen. Wir haben heut Klöße mit Sauerkraut, weil Sonntag ist. Da bleibt nichts übrig. Aber Kaffee kannst du nachher mit trinken. Da sitzen wir vor der Tür. Leb wohl!“

Sie reichte ihm die Rechte und sah ihm dabei freundlich lächelnd in die Augen. Da vergaß das ,Majörle‘ alle seine Ahnen; es bückte sich nieder, drückte seine Lippen auf das Kinderhändchen und erklärte:

„So küsst man der Dame auf die Hand, wenn sie einem gefällt. Ich bin dir gut und komme ganz bestimmt!“

Das Kind wollte gehen, da strich ihm die Frau Major über das reiche, blonde Haar und sprach: „Du bist also das Sonnenscheinchen. Wer hat dich so genannt?“

„Das weiß ich nicht“, lautete die Antwort. „Vielleicht der liebe Gott!“

„Das wird wohl richtig sein. Nun geh zu deiner Mutter! Es ist fast Essenszeit. Sie wird auf dich warten!“

Dann fuhr sie, zu dem Major gewendet, fort:

„Nicht nur ein schönes, sondern auch ein kluges Kind. Weit über sein Alter entwickelt. Bedächtig und entschlossen. Ein lebendiges Frühlingsgedicht!“

Er nickte nur. Der Anblick des Pachthofs hatte seine bisher heitere Stimmung verscheucht. Nun öffnete er das Tor; sie traten ein. Das Sonnenscheinchen aber lief in großer Eile in das Dorf hinab und an der Kirche vorüber, bis dahin, wo links der Gasthof lag und rechts an der Lehne des Berges ein hellgestrichenes Häuschen stand, dessen Schornstein gastlich rauchte. Auf der Bank vor der Tür saßen ein junger Mann und eine ältere Frau, des Kindes Vater, der Felber Fritz, und dessen Schwiegermutter, die Botenfrau, die die Verbindung des Dorfes mit der zwei Wegstunden entfernten Stadt unterhielt. Eine Eisenbahn gab es damals noch nicht. Als sie das Kind kommen sahen, rief ihm die Großmutter entgegen:

„Sonnenscheinchen, wir haben dich gesucht! Wo bist du gewesen?“

 

„Beim Uhrenengel war ich nur! Ich wollte ihn fragen, ob wir bald essen werden“, lautete die Auskunft.

„Was hat er denn gesagt?“

„Er meinte, es sei noch gar nicht eilig. Der schwarze Strich ging noch nicht gerade herunter. Ich wollte darauf warten; da aber kam das ,Majörle‘; das denkt, wir haben kein Geld. Ich werde ihm aber meine Sparbüchse zeigen. Darf ich, Großmutter? Ich hole sie mir gleich.“

Hierauf verschwand das Kind, ohne die Antwort abzuwarten, im Innern des Hauses.

„Das ,Majörle‘! So also wird der Junge genannt!“, setzte die Botenfrau das unterbrochene Gespräch mit ihrem Schwiegersohn fort. „Hast du ihn vorhin, als sie vorbeifuhren, zum ersten Mal gesehen?“

„Nein“, antwortete er. „Als Offiziersbursche seines Vaters wurde ich sehr oft zur Aushilfe des Kindermädchens befohlen. Er war damals ungefähr ein Jahr alt und wurde das ,Hauptmännle‘ geheißen. Inzwischen ist sein Vater befördert worden, der Knabe natürlich mit.“

„Ob der Major dich wohl noch kennt?“

„Möglich, obgleich er mich seitdem nicht mehr gesehn hat.“

„Auch nicht, als du auf seinem Pachthof dientest?“

„Nein. Er war während dieser Zeit niemals hier oben. Ich hab mich des Hofes redlich angenommen, erstens aus Pflichtgefühl, und zweitens auch um des Majors willen, der mir ein guter Herr gewesen ist. Ich wollte verhüten, dass sein Besitztum so weit heruntergebracht wurde, wie es nun doch geschehen ist. Da aber kam jene Ohrfeige, die ich jetzt wohl fast bereuen möchte.“

„Bereuen?“, fragte sie verwundert. „Wie kannst du es bereuen, deine damalige Braut und jetzige Frau gegen einen so zudringlichen Menschen in Schutz genommen zu haben? Das war ja deine Pflicht!“

„Ich hätte aber doch besonnener sein können, wenigstens nicht gleich zuschlagen sollen. Deine Tochter, die Paule, war ein hübsches, braves Mädchen. Sie ist noch jetzt die hübscheste und beste Frau im ganzen Dorf. Der Pachthofer wollte sie haben. Sie wies ihn ab. Schon das musste ihn kränken. Als er erfuhr, dass sie mich, seinen Knecht, lieber habe als ihn, da war das eine Beleidigung, die ihn ergrimmen musste. Er hatte getrunken, als er mich mit ihr traf. Er war berauscht. Darum versuchte er es, auf mich einzuschlagen. Er hatte vergessen, dass ich viel stärker bin als er. Meine Ohrfeige warf ihn sofort nieder. Ich ließ ihn liegen, holte meine Sachen und ging vom Hof ab. Hätte ich mich damals beherrscht, so wäre ich bei ihm geblieben und müsste mir jetzt nicht vorwerfen, schuld zu sein, dass er und der Pachthof nun so weit heruntergekommen sind.“

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