Des Kindes Ruf

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Des Kindes Ruf
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KARL MAY

DES KINDES RUF



ERZGEBIRGISCHE

DORFGESCHICHTE



Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 43

„AUS DUNKLEM TANN“



© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1330-3



KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL






Inhalt





Des Kindes Ruf









Des Kindes Ruf



Die Nachmittagsschule war aus, und die kleinen acht- bis neunjährigen Abc-Schützen rutschten fröhlich von ihren Bänken, um die unliebsame Gefangenschaft mit der goldenen Freiheit zu vertauschen.



Der Lehrer hatte sich an die Tür gestellt, um sich die schüchternen Händchen zum Abschied reichen zu lassen.



„Fährmanns Paul, deine Hand mag ich nicht!“, wies er einen strammen, schwarzäugigen Lockenkopf zurück, der ihm mit offenem Lächeln die Finger der ausgespreizten Rechten entgegenstreckte.



Der Kleine zog die Hand zurück und sah den Lehrer fragend an.



„Hast du dich heut gewaschen?“, fragte ihn dieser.



„Nein.“



„Gestern auch nicht?“



„Nein.“



„Wann denn?“



„Gar nicht.“



„Und gekämmt auch nicht?“



„Nein.“



Er schüttelte dabei langsam den Kopf und machte eine Miene, die deutlich besagte, dass er sich gar nicht erklären könne, warum irgendjemand gewaschen und gekämmt sein müsse.



„Sieh einmal deine Finger an, Paul; die kleben ja vor Schmutz; an deine Füße ist der Schlamm gebacken, und in den Haaren hängt Heu und Stroh. Schläfst du denn auch so?“



„Ja.“



„Im Bett?“



„Nein.“



„Wo denn?“



„Im Kuhstall und – und auf dem Heuboden.“



„Was! Der Fährmanns Paul schläft im Kuhstall?“



Der junge Mann konnte nicht begreifen, warum der reichste Junge im Dorf kein anderes und besseres Lager habe. „Und schau, wie deine Hosen zerrissen sind, und die Jacke auch! So darfst du mir nicht wiederkommen; so bist du ja der echte Struwwelpeter! Sag’s deiner Mutter! Sie soll dich reinlicher in die Schule schicken!“



Die roten Wangen des Getadelten färbten sich jetzt noch tiefer, und seine hellen Augen wurden feucht. Mit gesenktem Kopf schlich er auf die Straße, wo die anderen sich mit teilnehmender Miene um ihn scharten. Nur einer schien sich über den Verweis zu freuen.



„Der Fährmanns Paul ist der Struwwelpeter“, rief er, „er darf nimmer so in die Schule!“



Im nächsten Augenblick hatte der Beleidigte seine Schiefertafel auf die Erde gelegt, packte den Spötter, warf ihn zu Boden und gab ihm ein paar Ohrfeigen, dass es schallte.



„Da hast du deinen Lohn, du Galgendieb!“, meinter er dann ruhig, indem er seine Habseligkeiten wieder an sich nahm. „Du bist ein Schimpfmaul und darfst nimmer mit uns spielen!“



Der kleine Goliath erhielt weder Abwehr noch Gegenrede, und das hatte seine Gründe. Der Fährmanns Paul war gar hoch angesehen bei seinesgleichen; er fürchtete sich vor keiner Gans und vor keinem Hund; er riss sogar vor keinem Pferd aus, und was das Beste war, er konnte so unbeschreiblich schön spielen und ersann immer neue Dinge, an die selbst der Herr Lehrer gar nie gedacht hätte. Darum war er der Hauptmann von der Löffelgarde, und es gab kein größeres Unglück, als wenn er einem das Mittun verbot.



Heut ging es gar nicht so lustig wie sonst auf dem Nachhauseweg her. Der Paul war ganz tiefsinnig und gab fast gar keine Antwort auf die Reden seiner Kameraden. Erst am Tor seiner elterlichen Wohnung schien er sich auf das Versäumte zu besinnen.



„Geht heim, und holt euch euer Vesperbrot“, befahl er. „Nachher kommt ihr nach dem Sandloch und bringt die Gewehre mit; wir spielen Räubers!“



Langsam, als sei der Weg ein schwerer für ihn, ging er nach der Stube. Das Gesinde saß beim Nachmittagskaffee; am Fenster arbeitete eine Näherin emsig an einem buntseidenen Rock, und inmitten des Zimmers standen zwei riesige Backtröge auf vier Stühlen. Die Bäuerin hatte übermorgen Hochzeit; darum gab es jetzt zu backen und so viel zu schanzen und zu schaffen, dass man den Schweiß, der ihr auf der Stirn stand, recht wohl begreiflich finden musste.



Sie war ein schönes Weib. Die dichten, pechschwarzen Flechten hatten sich gelockert und hingen ihr lang über den Nacken herab; das Gesicht war voll und frisch, wie das eines jungen Mädchens; die dunklen Augen blitzten mit lebhaftem Feuer unter den beredten Wimpern hervor; die kirschroten Lippen ließen beim Sprechen zwei Reihen kleiner, glänzend weißer Zähne erblicken, und wie sie hoch aufgeschürzt und mit emporgestreiften Ärmeln so vor dem Teig stand und gewandt und kräftig mit den schweren Gefäßen spielte, hätte selbst der schmuckste Jungbursche nicht so leicht das Auge von ihr wenden können.



„Mutter, ich hab Hunger“, bat schüchtern der Kleine.



„Hab keine Zeit für dich, du Strolch!“, antwortete sie in einem Ton, als habe ein fremdes Bettelkind sie angesprochen. „Wart bis zum Abend, und geh jetzt hinaus!“



Der Knabe warf einen langen Blick auf die großen Schüsseln voll Rosinen, Butter und sonstigen Backerfordernisse, die so appetitlich vor ihm standen, und sah dann sehnsüchtig nach dem Tisch hinüber.



„Komm her, Paul“, meinte leise eine der Mägde, „hier hast du ein Stückle Brot!“



Er nahm die trockene Schnitte mit dankbarem Lächeln in Empfang und schickte sich an, die Stube zu verlassen, kehrte aber noch einmal zögernd um.



„Mutter, der Herr Lehrer sagt, ich muss gewaschen und gekämmt werden. Auch das Kleid ist zerissen. Ich darf so nicht wiederkommen.“



„Was sagte der Lehrer?“, fragte sie, zornig aufblickend.



„Willst du gleich hinaus und dich von ihm selber balsamieren lassen! Mir fehlt es grad noch, dass ich mich mit dem Schmutzvolk abzugeben hab!“



„Ich bin auf der Gasse als Struwwelpeter geschimpft worden!“, wagte er hinzuzufügen.



„Das bist du auch richtig, du widerwärtiger Fink! Geh fort; ich schäme mich, wenn ich dich nur seh!“



Er blickte verlegen vor sich nieder und schlich sich dann zum Ofen, hinter dem der Kamm zu finden war.



„Was suchst du da hinten? Willst wohl auch noch den Kamm verschmutzen und zerbrechen? Mach dich nur schnell hinweg, sonst sorg ich für flinke Beine!“



Mit drohend erhobener Hand trat sie auf ihn zu. Er floh bis an die Tür, wo er im Gefühl des Unrechts, das ihm geschah, die mutige Bemerkung machte:



„So geh ich zur Großmutter. Die Lindenbäuerin wird mich waschen!“



Er kam nicht zur Tür hinaus. Sie war rasch auf ihn zugetreten und schlug ihm die vom Teig beklebte Hand in das Gesicht, dass er kopfüber zu Boden stürzte.



„Was willst du tun? Zum Lindenhof willst du gehn, zur alten Fährmannshexe, und dich von der schönen Minna streicheln lassen? Hier hast du eins; das ist genug für dich; nun leck den Teig ab; weiter bekommst du doch nichts zur Hochzeit! Und wenn ich höre, dass du wirklich dort gewesen bist, so nehm ich dich noch anders vor!“



Sie öffnete die Tür und stieß ihn hinaus, dass er an die gegenüberliegende Wand taumelte und auf die harte Steinplatte niederstürzte. Er raffte sich lautlos wieder empor und hinkte nach dem Stall, in dessen hinterster Ecke sich ein Lager von Strohgewirr befand, unter dem er seine Schulsachen verbarg. Nachdem er sein Stück Brot mit sichtlichem Hunger verzehrt hatte, zog er aus dem Stroh einen hölzernen Säbel, den er umgürtete, und eine Flinte hervor, schwang sie mit selbstbewusster, trotziger Miene auf die Schulter und marschierte dem Ort zu, nach dem er die Spielkameraden bestellt hatte.



Sie waren schon in voller Tätigkeit und hatten sich in Räuber und Soldaten geteilt. Die Verbrecher waren bisher im Nachteil gewesen, sodass sich die Mehrzahl von ihnen schon in Gefangenschaft befand. Als sie den Kommenden erblickten, jubelten sie ihm freudig entgegen.



„Jetzt ist der Hauptmann da“, rief einer, „der bringt die große Flinte und wird uns frei machen! Schieß, Paul! Dann reißen wir aus!“



„Bleibt nur immer ruhig stehn, bis ich sie alle zu Tod getroffen hab“, antwortete er. „Ausgerissen aber wird nicht vor dem Soldatenvolk. Das wäre die größte Schande für uns. Wer ist der oberste Korporal?“



„Ich!“, antwortete der Betreffende wichtig.



„So kommst du grad zuerst dran. Pass auf, wenn ich losdrücke, so musst du hinfallen und liegen bleiben, bis wir gewonnen haben!“



Hier gab es keine Widerrede. Das war schon hundertmal so gewesen, und der Fährmanns Paul litt keinen Ungehorsam. Er schoss die Soldaten alle tot und ließ sie erst wieder lebendig werden, wenn ein neues Spiel begann.



„Ich tu auch mit“, meinte ein neu Herbeigetretener.



Es war derjenige, der nach der Schule eine so schnelle Bestrafung gefunden hatte.



„Nein, du bleibst davon!“, wies ihn Paul zurück. „Mit dir ist’s aus für immer. Wer schimpft, der taugt zu keinem Soldaten, und zu einem Räuber vollends gar nicht. Ich mag dich auch gar nicht frei machen, wenn sie dich eingesteckt haben!“



„Du wärst auch der Richtige“, klang die geringschätzige Antwort! „Du kannst ja nicht einmal deinen Vater frei machen! Er hat die Truhe ausgeleert und sitzt nun im Zuchthaus. Schieß ihn doch heraus, wenn du kannst, Fährmanns Paul!“



Er hatte kaum ausgesprochen, so fuhr ihm die Flinte des kleinen Anführers an den Kopf.



„Da hast du noch eins, du böser Bub! Mein Vater ist der Beste im ganzen Dorf; er ist viel besser noch als deiner. Er hat das Geld nicht genommen; er ist unschuldig eingesteckt; die Großmutter sagt’s, und die Minna auch. Und wenn ich will, da bring ich ihn schon frei. Ich will dir’s gleich einmal zeigen!“

 



Er rief die Knaben alle herbei.



„Hört, wir spielen jetzt das Zuchthaus! Das ist noch nicht da gewesen und wird euch sehr gefallen. Ich bin einmal mit der Großmutter dort gewesen und hab’ alles gesehn. Dort ist das Haus; hier kommt die Mauer, und da geht es hinein in den Graben, wo das Kraut und der Salat wachsen. Da haben wir den Vater drin gesehn, als wir vorübergegangen sind. Sie schnitten Pflanzen heraus, und die Soldaten haben mit dem Gewehr dabeigestanden, damit keiner davonspringen konnte. Nun sollt ihr sehn, wie es geht! Macht euch auseinander! So! Ihr seid die Soldaten, und ihr müsst die Gefangenen machen; du bist der Vater. Ich werde gleich laden und alles niederschießen. Und wenn ich keine Kugel mehr hab, so schlag ich mit dem Kolben drein, wie’s der Vater gemacht hat, als er im Krieg gewesen ist. Der wartet auch gar nicht, bis ich gesiegt hab; er ist stärker als alle Soldaten und macht sich los, sobald er mich sieht. So musst du’s auch tun! Nun geht; es kann beginnen!“



Mit offenem Mund hatten sie der Erklärung des schönen neuen Spiels gelauscht, und jeder eilte jetzt auf seinen Posten. Die Flinte, die Paul von seinem Vater zum Geburtstag erhalten hatte, stand bei allen in großer Achtung. Man konnte wirklich mit ihr schießen, und so war ihr bei allen Spielen die erst

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