Der Talisman

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Der Talisman
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KARL MAY
DER TALISMAN

REISEERZÄHLUNG AUS LAPPLAND

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 23

„AUF FREMDEN PFADEN“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1308-2

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

DER TALISMAN

DER TALISMAN

Ein eigentümliches, röchelndes Grunzen weckte mich aus dem Schlaf. Oder war es nur das Schnarchen eines meiner Schlafgefährten gewesen? Es herrschte in der hermetisch verschlossenen Winterhütte eine Luft, die ganz zum Verzweifeln war. In dem engen Raum hatten acht Menschen und fünf Hunde Platz gefunden, aber man frage mich nur nicht, wie! Diese dreizehn Geschöpfe lagen mit ihren zweiundfünfzig Vorder- und Hinterbeinen so neben-, über-, unter- und durcheinander, dass die Entschlingung so zahlreicher und verworrener Gliedmaßen eine absolute Unmöglichkeit zu sein schien.

In der Mitte der aus Rentierfellen erbauten Zelthütte kohlten die Überreste eines riesigen Feuers, dessen stechender Rauch eine einzige undurchdringliche Wolke bildete, da die Abzugsöffnung zugedeckt worden war. Ich lag mit dem Kopf auf der fischtranduftenden Hüfte der guten Mutter Snjära, welcher Name zu deutsch ‚Maus‘ bedeutet; mein rechtes Bein steckte unter dem Leib des alten Onkel Sätte, welches Wort mit ‚Pfeil‘ übersetzt werden muss, und mein linker Fuß diente einem der Hunde als Kopfkissen. Vater Pent, d. i. Benedikt, der Gesegnete, hatte sich meinen Pelzrock aufgeknöpft, um sein teures Haupt auf die Gegend meines Magens zu betten, sodass der Schwanz des Hundes, dem er selber als Matratze diente, mir lieblich krabbelnd um die Nase strich. Zu diesen unschätzbaren Bequemlichkeiten kam die Hitze, die sich innerhalb meiner luftdichten Fell- und Pelzbekleidung entwickelte, und der aromatisch-diabolische Duft einer dreizehnfachen Trans- und Respiration nebst der Lebhaftigkeit jener kleinen, ritterlichen Geschöpfe, die in solcher Hundenähe unvermeidlich sind und von denen der alte, lustige Fischart gesungen hat: „Mich beizt neizwaz, waz mag daz seyn?“ Zieht man dazu alle diatonischen und chromatischen Herzensergießungen in Betracht, deren schnarchendes Fortissimo das Zelt erfüllte, so wird man es nicht unbegreiflich finden, dass ich mich für einen Augenblick dem weichen Arm des Schlafs entwand.

Doch nein, es war kein Schnarchen gewesen, das mich aufweckte, denn ich vernahm jetzt, da ich munter war, jenes grunzende Röcheln zum zweiten Mal. Es ertönte draußen in einiger Entfernung von der Hütte. Gleich darauf krachte ein Schuss und eine laute Stimme rief:

„Attje, tassne le tarfok – Vater, der Bär ist da!“

Im Nu waren alle zweiundfünfzig Extremitäten in schleunigster Bewegung und jene scheinbar unmögliche Entwirrung hatte sich in zwei Sekunden glücklich vollzogen. Die acht Menschen schrien und brüllten; die fünf Hunde bellten und heulten; das Feuer wurde vollends zertreten, während ein jeder nach seinen Waffen suchte und diejenigen eines anderen erwischte. Und doch befanden wir uns nach kaum einer Minute vor der Hütte und eilten nach der Gegend, in der noch immer Neete[1], der Sohn des alten Pent, um Hilfe rief. Er hatte mit Kakke Keira[2] die Wache, kam uns in höchster Aufregung entgegengesprungen und schrie aus Leibeskräften:

„Tarfok, tarfok le mesam – der Bär, der Bär hat mein Rentierkalb!“

„Wo ist er?“, fragte der Alte.

„Tuos, tuos, kwouto pluewai – dort, dort, auf dem Sumpf!“

„Nehmt eure Ski“, kommandierte Vater Pent, „eure Flinten, Messer und Spieße. Nehmt auch Stricke mit. Wir eilen ihm nach!“

Die Schneeschuhe lehnten alle am Zelt. Wir legten sie an und fort ging es, dem Sumpf zu, der sich in geringer Entfernung von der Lappenwohnung in die Ebene zog. Kakke Keira blieb bei der Frau und den drei Töchtern zurück. Wir anderen zählten fünf Personen: Pent, Onkel Sätte, Neete ich und ein zweiter Knecht, der Anda, d. i. Andreas, hieß.

Es war vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, aber wir konnten dennoch recht gut sehen, denn am Himmel stand ein Nordlicht, wie ich es in dieser Pracht und Herrlichkeit noch niemals beobachtet hatte. Es war nicht jenes sich leise ausbreitende und wieder zusammenfallende, milde Farbenspiel, auch nicht jene groß und ruhig am Firmament stehende Erscheinung, sondern es war ein ununterbrochenes, gewaltiges Emporschleudern strahlender Farbenbüschel, die in die Unendlichkeit hinauszusprühen schienen, ein Wirbeln von tausend hintereinander mit immer größeren Radien sich drehenden Feuerrädern, ein ununterbrochenes Kämpfen, Ringen, Jagen und Haschen von allen möglichen Gluten, Lichtern, Farben und Nuancen, ein Schauspiel, das wahrhaft überwältigend auf mich gewirkt hätte, wenn nicht der Jäger in mir erwacht wäre.

Die Spur des Bären war in dem tiefen Schnee ganz deutlich zu erkennen, und nach kurzer Zeit sahen wir ihn selbst als dunklen, sich rasch fortbewegenden Punkt auf der weißen Fläche des Sumpfes erscheinen. Es musste ein gewaltiges Tier sein, da es im Stande war, bei einem so raschen Lauf das Rentierkalb mit sich fortzuschleppen.

Dennoch brauchten wir uns vor ihm nicht zu fürchten. Der lappländische Bär ist noch weniger gefürchtet als der Wolf; er besitzt nicht im Entferntesten die Furchtbarkeit, die z. B. den nordamerikanischen Grizzly so gefährlich macht, und wagt sich nur dann an den Menschen, wenn ihn die Notwehr dazu treibt. Die Lappen waren alle sehr gewandte Schneeschuhläufer. Wir flogen mit der Schnelligkeit eines Eilzugs über die Fläche dahin, aber dies schien dem alten Pent noch immer nicht genug zu sein.

„Schneller“, rief er, „sonst erreicht er den Hügel und versteckt sich hinter den Felsen, wo wir ihm nur schwer folgen können!“

Wir griffen weiter aus, aber es war, als habe der Bär die Worte des Anführers vernommen. Er bog plötzlich nach links ab. Das Tier musste seine Verfolger bemerkt haben und trottete nun dem Hügel zu, der den Vorläufer des Fjälls bildete, der mit seinem vom Schnee bedachten Tannendunkel auf das Sumpfland niederblickte. Wir suchten dem Flüchtling den Weg abzuschneiden, aber es gelang uns nicht; er war aus unserem Auge entschwunden, noch ehe wir den Hügel erreichten.

„Hier ist die Spur“, meinte Onkel Sätte, „sie führt gerade an den bösesten Stellen empor. Legt die Ski ab! Sie taugen hier nichts mehr.“

Wir hängten die Schneeschuhe über und stiegen die steile Lehne in die Höhe. Der Schnee lag mehrere Fuß tief, was den Aufstieg sehr beschwerlich machte. Wir gaben uns alle mögliche Mühe, sodass wir unter unserer schweren Kleidung in Schweiß gerieten, kamen aber doch nur langsam vorwärts. Endlich erreichten wir die Kuppe des Hügels, mussten uns aber mit der Spur des Bären begnügen; er selbst hatte einen bedeutenden Vorsprung gewonnen.

Das Gelände war hier außerordentlich zerrissen. Wir mussten uns zwischen scharfen, halb verschneiten Felstrümmern hindurchwinden, bald rechts, bald links, bald vorwärts, bald wieder zurück. Es war, als habe sich der Bär einen besonderen Spaß daraus gemacht, uns recht in die Irre zu führen. Und dabei durften wir die Vorsicht keinen Augenblick außer Acht lassen, da es hinter jedem Stein möglich war, auf ihn zu stoßen.

Endlich erreichten wir eine kleine Erhöhung, wo er sich eine kurze Rast gegönnt hatte. Wir hatten es wirklich mit einem ganz ungewöhnlichen Schlaukopf zu tun. Er hatte sich für diesen erhöhten Standpunkt entschieden, weil er von hier aus unser Nahen bereits von weitem bemerken konnte, und war zugleich so klug gewesen, die ihm gewordene Frist zu einem schnellen Imbiss zu benutzen. Er hatte im allerhöchsten Fall zehn Minuten dazu übrig gehabt, aber während dieser kurzen Zeit war doch das Kalb beinahe ganz verschwunden.

„Wuoike – o weh!“, rief Vater Pent. „Dieser Partne pahakase[3] hat uns nur die Haut und die Füße übriggelassen. Hautesn so mon kalkap lapmet — ich werde ihn zu Tode prügeln!“

Er schwang das Schaufelende seines Spießes drohend über dem Kopf und nahm die Spur von neuem auf. Sie führte in einer steilen Schlucht zum Fjäll empor. Der hohe Schnee war uns außerordentlich hinderlich; wir glitten fast bei jedem Schritt wieder abwärts und es dauerte lange Zeit, bis wir die Höhe des Waldes erreichten. Es war von Vorteil, dass die Tannen hier sehr licht standen; zahlreiche Felsen lagen zerstreut zwischen den Stämmen, die Spur war deutlich zu sehen.

Immer einer hinter dem andern, schritten wir lautlos vorwärts. Da, eben als wir auf eine Lichtung treten wollten, blieb Pent, der an der Spitze ging, hinter dem letzten Baum stehen.

„Was siehst du?“, fragte Onkel Sätte laut.

Ich ging hinter Pent und hatte gerade wie er einen Mann gesehen, der links von uns in schnellem Lauf zwischen den Bäumen hervorkam. Als er aber die Stimme des Onkels hörte, eilte er schnell wieder in das Halbdunkel des Waldes zurück.

„Wer war das?“, fragte ich leise.

„Ich habe ihn nicht erkannt, Herr“, antwortete der Alte. „Was hat ein Mann zu dieser Zeit hier zu suchen!”

„Du bist ja wohl der Einzige, der in dieser Gegend wohnt?“

„Ja. Sollte es ein Mann sein, der auf dem Aito[4] geht?“

„Das glaube ich nicht. Er würde uns den Gruß nicht verweigert haben. Er ist geflohen, sein Weg muss also ein Weg des Unrechts sein.“

„Herr, meinst du dies wirklich?“

„Ja.“

„So muss man ihm folgen!“

Diese Worte waren in einem hastigen, sorgenvollen Ton gesprochen, den ich mir nicht gleich erklären konnte. Darum fragte ich:

 

„Denkst du, dass es ein Rentiermörder ist?“

„Nein, ich denke etwas anderes, Wäljam[5]. Ich muss sehen, wer es ist. Folgt ihr unterdessen dem Bären!“

„Du darfst nicht allein gehen!“, warnte sein Sohn Neete.

„Was weißt du, Knabe! Geht! Ich brauche keinen Menschen, der bei mir bleibt!“

Diese Worte waren in einem so befehlenden Ton gesprochen, dass wir ihnen ohne Widerrede gehorchten. Es war sicher nicht ohne Gefahr, sich hier im Wald und bei diesem Schnee mit einem Fremden zu befassen, der sich so verdächtig benommen hatte. Er musste einen ganz besonderen Grund haben, allein zu bleiben, wo eine Begleitung doch so notwendig erschien. Wir ließen ihn gehen und verfolgten die Fährte des Bären weiter. Unsere Anstrengung sollte sehr bald belohnt werden. Die Spur führte uns bereits nach kurzer Zeit zu einem freien Plätzchen, das von Steingewirr bedeckt war. Hier lag das Tier versteckt, denn als wir den Ort umgingen, fanden wir, dass die Fährte nicht wieder herausführte.

Die Hunde waren bis jetzt bei uns gewesen, jeder mit einer Schnur an seinen Herrn gebunden. Nun aber, als wir den Platz umstellt hatten, wurden sie losgelassen. Sie schossen zwischen die Steine hinein und bald vernahm ich neben ihrem wütenden Gebell ein tiefes und unmutiges Brummen. Der Lärm stand eine Zeitlang still und bewegte sich dann nach der mir entgegengesetzten Seite. Der Hund des Lappen benimmt sich, während er dem Wolf sofort an die Kehle geht, dem Bären gegenüber vorsichtig; er lockt ihn aus dem Lager, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben, und so war auch heute nicht zu hören, dass einer unserer Hunde einen Schlag erhielt. Dagegen aber fiel sehr bald darauf ein Schuss und gleich darauf ein zweiter. Dann erhob sich von Seiten der Meute ein triumphierendes Geheul, dem man sofort anmerkte, dass der Bär erlegt worden war.

„Neete, ist er tot?“, rief Anda, der rechts von mir stand, über die Lichtung hinüber.

„Mije lepe winsam – wir haben gesiegt!“, antwortete der Gefragte herüber. „Wiesodake le tarfok – der Bär ist tot. Kommt zu uns, Kratnatjeh[6]!“

Wir eilten dem Rufenden zu; der Bär lag leblos am Boden. Der junge Neete hatte ihn bis auf zwei Schritte an sich herankommen lassen, ihm dann den Lauf seines Doppelgewehres in den geöffneten Rachen gesteckt und zweimal losgedrückt.

„Er hat es gewusst, dass das Kalb mir gehört, das er gefressen hat“, meinte er sehr gleichmütig, „und darum ist er zu mir gekommen, um sich von mir töten zu lassen.“

Bei den Lappen hat nämlich jedes Familienmitglied seine eigenen Tiere bei der Herde und für diese auch sein eigenes, bestimmtes Zeichen. Bereits bei der Geburt schenkt der Vater dem Kind ein Rentier; bei der Taufe erhält es ein zweites; wer den ersten Zahn bei ihm entdeckt, muss ihm ein drittes schenken. Auch das Gesinde erhält seinen Lohn und seine Extrageschenke in Rentieren, weshalb ein Knecht, der eine Magd heiratet und seine Tiere mit den ihrigen vereinigt, sehr leicht eine Herde zusammenbringt, die ihn zum selbständigen Mann macht. Daher gibt es eine eigentliche Armut bei den Lappen nicht, außer wenn einer durch die Seuche oder einen schneelosen Frost seine Herde verliert. In diesem Falle können die Tiere das Moos, das ihre Winternahrung bildet, nicht von dem harten Eis befreien und müssen vor Hunger und Elend zu Grunde gehen.

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