Der schwarze Mustang

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Der schwarze Mustang
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KARL MAY
DER SCHWARZE MUSTANG

ERZÄHLUNG AUS DEM WILDEN WESTEN

Aus

KARL MAYS

GESAMMELTE WERKE

BAND 38

„HALBBLUT“

© Karl-May-Verlag

eISBN 978-3-7802-1318-1

Die Erzählung spielt Mitte der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts.

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

Inhalt

DER SCHWARZE MUSTANG

1. Der Mestize

2. Der schwarze Mustang

3. Am Erlenquell

4. Die Birkenschlucht

5. Trügendes Gold

DER SCHWARZE MUSTANG
1. Der Mestize

Ein schwerer Sturm peitschte den dicht strömenden Regen gegen die sich vor ihm beugenden Tannenwipfel des Hochwaldes; fingerstarke Wasserfäden flossen an den Riesenstämmen nieder und vereinigten sich an den Wurzeln zu erst kleinen, nach und nach aber immer größer werdenden Bächen, die in zahllosen Wasserfällen von Fels zu Fels in die Tiefe stürzten, um unten im engen Tal von dem hoch aufgeschwollenen Fluss aufgenommen zu werden. Es war Nacht geworden; von Minute zu Minute rollte ein zürnender Donner über die Tiefe hin, doch so hell und grell der Blitz jedesmal dabei leuchtete, fiel der Regen so dicht herab, dass man kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochte.

Der rasende Sturm traf oben den Hochwald und die Felsenklippen; seine Macht jedoch reichte nicht bis in die Tiefe, wo die Riesentannen im nächtlichen Dunkel unbeweglich standen; aber es war auch da nicht still, denn die Wasser des Flusses rauschten und brausten so erregt zwischen den Ufern dahin, dass nur ein ungemein scharfes Ohr hören konnte, dass zwei einsame Reiter flussabwärts geritten kamen; zu sehen waren sie nicht.

Wäre es Tag gewesen, so hätten sie gewiss den verwunderten Blick eines jeden Begegnenden auf sich gezogen, und zwar nicht etwa infolge ihrer Kleidung und Ausrüstung, sondern weil beide von einer wahrhaft Angst erregenden Länge waren.

Der eine war semmelblond und hatte einen bei seiner Höhe geradezu lächerlich kleinen Kopf. Mitten unter zwei gutmütigen Mäuseäuglein saß ein winziges, aufwärts gerichtetes Stumpfnäschen, das viel besser in das Gesicht eines vierjährigen Kindes gepasst hätte und in gar keinem Verhältnis zu dem ungeheuer breiten Mund stand, der sich fast vom einen Ohr bis zum andern zog. Einen Bart hatte der Mann nicht und dieser Mangel schien angeboren zu sein, denn über dieses frauenglatte Gesicht war gewiss noch nie ein Schermesser gegangen. Er trug ein ledernes Wams, das ihm wie ein kurzer Mantel faltenreich von den schmalen Schultern hing, dazu enge Lederhosen, die seine Storchenbeine fest umschlossen, halbhohe Schaftstiefel und einen Strohhut, dessen Krempe sich traurig herabneigte und den aufgefangenen Regen in ununterbrochenen Fäden rund um ihn niederströmen ließ. Auf seinem Rücken hing, die Mündung nach unten gerichtet, ein Doppelgewehr. Das Pferd, das er ritt, war ein kräftiger, starkknochiger Klepper, der gewiss schon fünfzehn Sommer hinter sich hatte, aber alle Lust zu besitzen schien, noch weitere fünfzehn ebenso rüstig zu erleben.

Der andere Reiter hatte dunkles Haar, auf dem eine uralte Pelzmütze saß, ein sehr schmales und sehr langes Gesicht, und ebenso sehr schmal und sehr lang waren auch die Nase, der Mund und der fadenartige Schnurrbart, dessen Spitzen fast hinter den Ohren zusammengebunden werden konnten. Seine weit über zwei Meter lange Gestalt war, umgekehrt zu seinem Gefährten, oben eng und unten weit bekleidet, denn während er eine sehr weite, faltenreiche Hose trug, deren Enden in rindsledernen Halbstiefeln steckten, umschloss seinen Oberkörper eine lange Filzjacke so eng, als sei sie ihm angegossen worden. Auch er hatte ein Doppelgewehr. Dass beide außerdem noch Messer und Revolver besaßen, war ganz selbstverständlich. Er saß auf einem zuverlässigen Mustang, dessen Wiegenfest sich wenigstens ebenso oft wiederholt hatte wie dasjenige des anderen Pferdes.

Die beiden Reiter kümmerten sich weder um den Weg noch um den strömenden Regen. Den Ersteren zu suchen und zu finden, das überließen sie ihren scharfsinnigen und erfahrenen Pferden, und aus dem Letzteren machten sie sich aus dem Grunde nichts, weil er ihnen ja doch nicht tiefer als bis auf die Haut gehen konnte.

Sie unterhielten sich trotz des unaufhörlichen Donnerns und Blitzens und trotz der gefährlichen Nähe des an seinen Ufern wühlenden und zerrenden Flusses so unbefangen miteinander, als ritten sie im hellen Sonnenschein über eine offene Prärie. Aber wer sie hätte sehen können, dem wäre wohl aufgefallen, dass sie einander trotz der Dunkelheit sehr aufmerksam beobachteten, denn sie kannten sich erst seit einer Stunde und im Wilden Westen ist ein anfängliches Misstrauen stets am Platz. Sie hatten sich kurz vor Einbruch der Nacht und dem Beginn des Gewitters oben am Fluss getroffen und da erfahren, dass sie beide heute noch nach Firwood-Camp[1] wollten; da war es wohl selbstverständlich gewesen, dass sie miteinander ritten.

Nach ihren Namen und Verhältnissen hatten sie sich nicht gefragt und ihre Unterhaltung war bisher so allgemein gewesen, dass sie Persönliches nicht berührte. Jetzt ertönte ein mehrfacher, krachender Donnerschlag und wiederholte Blitze zuckten blendend über die enge Tiefe hin. Da meinte der blonde Stumpfnäsige: „Bless my soul! Ist das ein Gewitter! Grad wie daheim bei Timpes Erben!“

Der andere hielt bei den beiden letzten Worten unwillkürlich sein Pferd an und öffnete bereits den Mund, um eine schnelle Frage auszusprechen, besann sich aber eines andern und schwieg, während er sein Pferd weitertrieb. Er erinnerte sich daran, dass man westlich vom Mississippi nicht unvorsichtig sein durfte.

Die Unterhaltung wurde fortgesetzt, natürlich ziemlich einsilbig, wie es die Örtlichkeit und Lage mit sich brachte. Es verging eine Viertelstunde und noch eine. Da machte der Fluss eine scharfe Biegung nach der Seite, wo sich die beiden Reiter befanden; er hatte das hier erdige Ufer unterwaschen; das Pferd des Blonden konnte nicht schnell genug wenden, es geriet auf die haltlose Scholle und brach ein, glücklicherweise nicht tief; der Reiter riss es empor und herum, gab ihm die Sporen und war mit einem kühnen Satz wieder auf festem Boden.

„Good God!“, rief er dann aus. „Ich bin schon nass genug vom Regen, wozu also noch ein solches Bad? Hier konnte ich ertrinken! Beinahe so wie damals bei Timpes Erben!“

Er nahm sichere Entfernung vom Fluss und ritt dann weiter. Sein Gefährte folgte ihm eine Weile schweigend und fragte dann: „Timpes Erben? Was ist das für ein Name, Sir?“

„Wisst Ihr das nicht?“, lautete die Antwort.

„Nein.“

„Hm! Sonderbar! Alle meine Bekannten und Freunde wissen es!“

„Ihr vergesst, dass wir uns vor wenig über einer Stunde zum ersten Mal gesehen haben.“

„Richtig! Da könnt Ihr freilich noch nicht wissen, wer Timpes Erben sind. Ihr werdet es aber vielleicht erfahren.“

„Vielleicht?“

„Ja, wenn wir nämlich länger beisammen bleiben.“

„Wenn ich es aber jetzt erfahren möchte, Sir?“

„Jetzt? Warum?“

„Weil ich Timpe heiße.“

„Was? Wie? Ihr heißt Timpe? Timpe ist Euer Name?“

„Ja.“

„Wonderful! Ich suche nach Timpe seit langen Jahren überall, auf den Bergen und in allen Tälern, im Osten und im Westen, bei Tag und bei Nacht, bei Sonnenschein und bei Regen, und nun, da ich es längst aufgegeben habe, ihn zu finden, da reitet er hier in diesem Wetter an meiner Seite und lässt mich beinahe in diesem schönen Fluss ersaufen, ohne mir zu sagen, wer er ist!“

„Ihr sucht nach mir?“, fragte sein Begleiter verwundert. „Weshalb?“

„Na, wegen der Erbschaft! Weshalb denn sonst?“

„Erbschaft? Hm! Wer seid Ihr denn eigentlich, Sir?“

„Ich bin auch ein Timpe.“

„Auch einer? Woher denn?“

„Von drüben herüber.“

„Aus Deutschland?“

„Natürlich! Oder kann ein Timpe woanders geboren sein?“

„Allerdings, denn ich zum Beispiel bin hier in den Staaten geboren.“

„Aber von deutschen Eltern!“

„Mein Vater war ein Deutscher.“

„So seid Ihr wohl der deutschen Sprache mächtig?“

„Ja.“

„Nun, so redet doch, wenn Ihr einen Deutschen vor Euch habt, Deutsch, wie Euch der Schnabel gewachsen ist!“

„Na, Sir, nur sachte, sachte! Ich habe doch nicht gewusst, dass Ihr ein Deutscher seid!“

„Aber nun wisst Ihr es. Ich bin ein Deutscher, ein Timpe sogar, und verlange, dass Deutsche Deutsch mit mir reden.“

„Woher stammt Ihr?“

„Aus Hof in Bayern.“

„Da gehen wir einander nichts an, denn ich stamme aus Plauen im Vogtland.“

„Oho! Nichts angehen! Mein Vater stammt auch aus Plauen und ist von dort nach Hof verzogen.“

Der Dunkelhaarige hielt sein Pferd an. Der Regen hatte nach einem heftigen Donnerschlag plötzlich aufgehört und die Wolken waren vom Sturm zerteilt worden. Zwischen ihnen blickten helle, blaue Stellen des Himmels hernieder und die beiden Männer konnten ihre Gesichter erkennen.

„Aus Plauen nach Hof verzogen?“, fragte er. „Da ist es freilich nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass wir Verwandte sind. Was ist Euer Vater gewesen?“

 

„Büchsenmacher, und ich bin es auch geworden.“

„Das stimmt, das stimmt! Das ist ja ein merkwürdiges Zusammentreffen! Aber wir wollen uns nicht hier aufhalten; das Gewitter kann leicht zurückkehren und wir haben noch den schwierigsten Teil des Tales vor uns; da wollen wir das jetzige annehmbare Wetter benutzen. Wir können besser weitersprechen, wenn wir an Ort und Stelle sind. Also kommt, Sir, oder Vetter, wenn Euch das besser gefällt!“

Sie ritten weiter. Das Tal wurde bald so eng, dass nur wenig Raum blieb zwischen dem Fluss und der beinahe senkrecht aufsteigenden diesseitigen Felswand. Und dieser Raum bestand nicht etwa aus grasigem Boden, sondern es gab da eine Menge Gesträuch, durch das sich die Pferde oft geradezu drängen mussten. Hätte sich das Gewitter nicht verzogen und wäre es so finster wie vorher geblieben, so dürfte es unmöglich gewesen sein, hier vorwärts zu kommen.

Das hielt eine bedeutende Strecke an, bis das Tal sich wieder verbreiterte, um nach einer halben Stunde wieder eine sehr schmale Schlucht zu bilden, die aber nicht lang war, sondern sehr bald auf den Platz mündete, der Firwood-Camp genannt worden war, weil es hier nur Tannen gab, die in riesiger Größe zum Himmel aufstrebten.

Es kreuzten sich hier zwei Täler in beinahe rechtwinkliger Richtung, nämlich das Tal des Flusses, an dem die beiden Timpes herabgekommen waren, und ein anderes, worin die im Bau begriffene Eisenbahn die Höhe des Gebirges zu ersteigen strebte. Camp heißt Lager, und dass es hier ein solches, und zwar ein nicht unbedeutendes, gab, das sahen die beiden Reiter trotz der nächtlichen Dunkelheit sofort, als sie die Felsenenge vor sich hatten.

Es lag da eine Menge von Baumriesen, die gefällt worden waren, um aus den Stämmen Bretter und aus den starken Ästen Bahnschwellen zu bekommen; der Abfall lieferte das nötige Feuerholz. Die über den Fluss führende Brücke war beinahe fertig und in deren Nähe lag die fliegende Schneidemühle, deren Sägen die Holzmassen zu bewältigen hatten. Weiterhin gähnte schwarz ein tief in den Felsen gesprengter Steinbruch, der die Quadern zum Unterbau zu liefern hatte, und links zogen sich mehrere aus Balken und Brettern errichtete schuppenähnliche Bauten hin, die zur Unterbringung der Menschen, der Werkzeuge und der Vorräte dienten.

Eine dieser hier Shops genannten Buden war außerordentlich lang und tief. Die vier Feueressen, die das Dach überragten, und die zahlreichen, jetzt erleuchteten Fenster ließen vermuten, dass der Shop den im Camp anwesenden Arbeitern Unterkunft zu gewähren hatte. Infolgedessen wendeten sich die beiden Ankömmlinge dorthin.

Schon von Weitem scholl ihnen ein lautes Stimmengewirr entgegen, und als sie näher gekommen waren, machte sich mit jedem Schritt mehr eine von Branntweindunst geschwängerte Luft bemerkbar. Sie stiegen ab, banden ihre Pferde an die wahrscheinlich zu diesem Zweck neben der Tür eingeschlagenen Pfähle und wollten eben eintreten, als ein Mann herauskam, der in das Innere zurückrief: „Der Bauzug muss gleich kommen; ich will ihn abfertigen, dann bin ich wieder da. Vielleicht bringt er Neuigkeiten oder gar Zeitungen mit.“

Der Mann sah auf, erblickte die Fremden, trat zur Seite, um sie in das aus der Tür fallende Licht kommen zu lassen, und betrachtete sie.

„Good evening, Sir“, grüßte der Blonde. „Wir sind bis auf die Haut durchnässt. Gibt es hier einen Platz, wo man trocken werden kann?“

„Ja“, antwortete er. „Es gibt sogar Plätze, um trocken schlafen zu können, nämlich falls ihr nicht zu derjenigen Sorte von Menschen gehört, die man lieber gar nicht eintreten lässt.“

„Keine Sorge, Sir! Wir sind ehrliche Westmänner, Gentlemen, die Euch nicht Schaden bringen, sondern alles, was sie bekommen, bezahlen werden.“

„Wenn eure Ehrlichkeit so bedeutend wie eure Körperlänge ist, dann seid ihr freilich die größten Gentlemen unter der Sonne. Na, geht hinein, links in den kleineren Room, und sagt dem Shopman, ich, der Engineer[2], hätte gesagt, ihr könntet bleiben. Wir sehen uns bald wieder.“

Er ging fort und sie befolgten seine Aufforderung.

Das Innere der Bude bildete einen einzigen großen Raum, von dem nur links ein kleiner Teil durch eine mannshohe Bretterwand halb abgeteilt war. Es gab da eine Menge primitiver Tische und Bänke, die in die Erde gerammt waren, und zwischen ihnen und an den Wänden hin Massenbetten, deren Füllung hauptsächlich nur aus trockenem Gras und Heu bestand. Vier Herde, auf denen hohe Feuer loderten, sorgten für eine wenig zulängliche Beleuchtung; Lampen oder Lichte gab es nicht und so kam es, dass bei dem Flackern der Flammen alle Personen und Gegenstände in gespenstischer Unruhe und Bewegung zu sein schienen.

An den Tischen saßen und auf den Lagern hockten wohl an die zweihundert Bahnarbeiter, kleine, langzöpfige Burschen mit gelber Gesichtsfarbe, hervortretenden Backenknochen und schief geschlitzten Augen, die sich erstaunt auf die beiden überlangen Gestalten richteten.

„Pfui Teufel! Chinesen! Das konnten wir uns denken, denn man roch es schon von draußen!“, meinte der Dunkelhaarige. „Kommt schnell in den kleinen Room, wo die Luft vielleicht genießbarer ist!“

In dieser Abteilung gab es auch eine Anzahl von Brettertafeln, woran aber weiße Arbeiter rauchend und trinkend saßen, derbe, wetterharte Männer, von denen wohl mancher eine bessere Vergangenheit hinter sich hatte, mancher aber auch nur deshalb hierhergekommen war, weil er sich im zivilisierten Osten nicht mehr sehen lassen durfte. Ihre überlaute Unterhaltung verstummte sofort, als sie die beiden Gäste sahen, denen ihre erstaunten Blicke bis hin zum Schenktisch folgten, hinter dem der Shopman bei zahlreichen Flaschen und Gläsern lehnte.

„Railroaders[3]?“, fragte er, indem er ihren Gruß nickend erwiderte.

„Nein, Sir“, antwortete der Blonde. „Wir haben nicht die Absicht, den hier sitzenden Gentlemen ihren Verdienst zu schmälern. Wir sind Westmänner und suchen ein Feuer, woran wir uns trocknen können. Der Engineer schickt uns zu Euch.“

„Könnt ihr zahlen?“, erkundigte sich der Shopman, während er die langen Gestalten mit einem scharf prüfenden Blick überflog.

„Ja.“

„Dann könnt ihr alles haben, was ihr braucht, auch später ein feines, abgesondertes Lager zum Schlafen da hinter den Kisten und Fässern. Setzt euch an den Tisch am Herd; da gibt es Wärme genug, der andere ist für die Beamten und höheren Gentlemen.“

„Well! Ihr rechnet uns also zu den niedrigen Gentlemen. Das hätte ich Euch bei unserer Länge nicht zugetraut. Tut aber nichts. Bringt uns Gläser, heißes Wasser, Zucker und Rum! Wir wollen uns auch innerlich anwärmen.“

Sie setzten sich an den ihnen angewiesenen Tisch, der so nahe am Feuer stand, dass ihre nassen Anzüge bald trocknen konnten, bekamen das Verlangte und brauten sich einen Grog. Die weißen Arbeiter hatten gehört, dass sie keine Konkurrenz zu befürchten hatten; sie waren befriedigt und setzten ihr unterbrochenes Gespräch wieder fort.

An dem für Beamte und ‚höhere Gentlemen‘ bestimmten Tisch saß eine einzelne Person, ein junger, vielleicht nicht ganz dreißig Jahre zählender Mann, der wie ein weißer Jäger gekleidet war, aber der kaukasischen Rasse nicht angehörte, was sich aus der Farbe seiner Haut und der Bildung seines Gesichts schließen ließ. Er war jedenfalls ein Mestize, einer jener Mischlinge, die zwar die körperlichen Vorzüge, aber dazu leider manchmal auch die moralischen Fehler ihrer verschiedenfarbigen Eltern erben. Seine Glieder waren kräftig und geschmeidig wie diejenigen eines Panthers und seine Gesichtszüge intelligent, aber seine dunklen Augen lagen unter den tief gesenkten Lidern und Wimpern lauernd versteckt wie ein wildes Katzenpaar, das eine Beute belauert. Er schien die beiden Fremden gar nicht zu beachten, ließ jedoch seine Blicke oft und verstohlen zu ihnen fliegen und neigte den Kopf zur Seite nach ihnen hin, um zu hören, wovon sie sprechen würden. Er hatte Grund, zu ermitteln, welche Absicht sie in diese Gegend geführt hatte und ob sie bleiben oder nicht bleiben wollten. Zu seinem Leidwesen verstand er keines ihrer Worte, obgleich sie laut genug miteinander redeten, denn sie bedienten sich einer Sprache, die er nicht kannte, der deutschen.

Als sie ihre Gläser gefüllt hatten, tranken sie sich zu und leerten sie bis auf den Grund. Der Dunkelköpfige setzte das seine vor sich hin und sagte: „So, das war der Willkommen, den wir einander schuldig sind, und nun wieder zur Sache! Also, Sie sind eigentlich Büchsenmacher und Ihr Vater war es auch. Nehmen wir einmal an, dass wir wirklich Verwandte seien, so will ich Ihnen offen sagen, dass ich noch nicht weiß, ob ich mich auch verwandtschaftlich zu Ihnen verhalten darf.“

„Warum sollten Sie das nicht dürfen?“

„Wegen der Erbschaft.“

„Wieso?“

„Ich bin um sie betrogen worden.“

„Ich doch auch!“

„Ach, wirklich? Sie haben auch nichts bekommen?“

„Keinen Pfennig, keinen roten Heller!“

„Aber es ist doch eine so bedeutende Summe an die Erben drüben ausgezahlt worden!“

„Ja, an Timpes Erben in Plauen, jedoch nicht an mich, obwohl ich ein ebenso echter Timpe bin wie sie.“

„Erlauben Sie mir, diese Echtheit einmal zu prüfen! Wie ist Ihr vollständiger Name?“

„Kasimir Obadja Timpe.“

„Der Ihres Vaters?“

„Rehabeam Zacharias Timpe.“

„Wie viele Brüder hatte Ihr Vater?“

„Fünf. Die drei jüngsten sind nach Amerika gegangen. Sie glaubten, da schnell reich werden zu können, weil dort viele Gewehre gebraucht wurden. Die Brüder waren alle Büchsenmacher.“

„Wie hieß der zweite Bruder, der in Plauen blieb?“

„Johannes Daniel. Er ist gestorben und hat zwei Söhne hinterlassen, nämlich Petrus Micha und Markus Absalom, die jene hunderttausend Taler geerbt und aus der Stadt Fayette in Alabama geschickt bekommen haben.“

„Das stimmt, das stimmt abermals! Mit Ihrer Orts- und Personenkenntnis beweisen Sie, dass Sie wirklich mein Vetter sind.“

„Oh, ich kann es noch besser beweisen. Ich habe meine Papiere und Ausweise heilig aufgehoben; ich trage sie auf meinem Herzen und kann sie Ihnen sofort...“

„Jetzt nicht, jetzt nicht, vielleicht später“, fiel ihm der andere in die Rede. „Ich glaube Ihnen. Sie wissen doch auch, warum die fünf Brüder und ihre Söhne sämtlich solche biblische Namen haben?“

„Ja. Es war das ein uralter Gebrauch in der Familie, von dem keiner abgewichen ist.“

„Richtig! Und dieser Gebrauch konnte in den Staaten hier leicht beibehalten werden, weil der Amerikaner solche Namen auch bevorzugt. Mein Vater war der dritte Bruder, er hieß David Makkabäus und blieb in New York. Mein Name ist Hasael Benjamin. Die zwei Jüngsten gingen weiter ins Land und setzten sich in Fayette im Staate Alabama fest. Der Allerjüngste hieß Josef Habakuk, er starb dort kinderlos und hat das große Erbteil hinterlassen. Der vierte Bruder, Tobias Holofernes, starb in derselben Stadt; sein einziger Sohn, Nahum Samuel, ist der Schwindler.“

„Wieso?“

„Sehen Sie das nicht ein? Ich bin vollständig ahnungslos gewesen. Vater hat zwar in der ersten Zeit mit seinen zwei Brüdern in Fayette Briefe gewechselt, doch ist das nach und nach eingeschlafen, bis man einander schier vergessen hat. Die Entfernungen in den Staaten sind so groß, dass selbst Brüder sich nach und nach aus den Augen kommen. Nach Vaters Tod führte ich das Geschäft fort, schlecht und recht, ohne viel mehr als das Leben herauszuschlagen. Da traf ich in Hoboken mit einem Deutschen zusammen; er war Einwanderer und kam aus Plauen im Vogtland. Ich erkundigte mich natürlich nach meinen dortigen Verwandten und erfuhr zu meinem Erstaunen, dass sie bare hunderttausend Taler von dem Onkel Habakuk in Fayette geerbt hatten. Und ich nichts! Ich glaubte, der Schlag werde mich treffen! Ich hatte meinen Anteil auch zu verlangen und schrieb wohl zehn und noch mehr Briefe nach Fayette, bekam aber keine Antwort. Da verkaufte ich kurz entschlossen mein Geschäft und reiste hin.“

„Ganz recht, ganz recht, lieber Vetter! Nun, und der Erfolg?“

„War gar kein Erfolg, denn der Vogel hatte sich unsichtbar gemacht; er war ausgeflogen.“

„Welcher Vogel?“

„Das können Sie sich doch nun denken! Man hatte in Fayette geglaubt, der alte Josef Habakuk sei nur in guten Verhältnissen gestorben; dass er so reich gewesen war, hatte man nicht geahnt. Wahrscheinlich hat ihn sein Geiz abgehalten, es zu zeigen. Sein Bruder Tobias Holofernes war sehr arm vor ihm gestorben und er hatte dessen Sohn, seinen Neffen Nahum Samuel, zu sich in das Geschäft genommen. Dieser nun ist der Betrüger. Er hat zwar nicht umhin gekonnt, die hunderttausend Taler nach Plauen zu schicken, mit dem übrigen Geld aber hat er sich aus dem Staub gemacht, auch mit den hunderttausend Talern, die mir zufallen mussten.“

 

„Und mit den meinigen wahrscheinlich auch?“

„Jedenfalls!“

„Der Schurke! Vater zog von Plauen fort, weil er sich wegen der Konkurrenz mit dem Bruder arg verfeindet hatte. Diese Feindschaft wuchs trotz der Entfernung mehr und mehr, sodass keiner mehr etwas von dem andern wissen und hören wollte. Darüber ist Vater gestorben, sein Bruder in Plauen auch. Später schrieben mir dessen Söhne, sie hätten von dem Oheim Josef Habakuk in Amerika hunderttausend Taler geerbt. Ich fuhr sofort nach Plauen, um mich zu erkundigen. Da ging es freilich sehr hoch her. Die beiden Vettern wurden nicht anders als Timpes Erben genannt; sie hatten ihr Geschäft aufgegeben und lebten wie die Fürsten. Ich wurde sehr gut aufgenommen und musste einige Wochen bei ihnen bleiben. Von der alten Feindschaft wurde kein Wort gesprochen, aber ebenso wenig konnte ich etwas Näheres und Sicheres über den Onkel Josef Habakuk und seine Hinterlassenschaft erfahren. Die Vettern ließen mich ihren Reichtum sehen, aber meinen Anteil schienen sie mir nicht zu gönnen. Da machte ich es kurz entschlossen wie Sie: Ich verkaufte mein Geschäft, ging nach Amerika und begab mich von New York natürlich sofort direkt nach Fayette.“

„Ah, also auch! Wie fanden Sie es dort?“

„Ganz wie Sie, nur dass man mich auslachte. Man sagte mir, dass die dortigen Timpes niemals wohlhabend gewesen seien.“

„Unsinn! Verstanden Sie damals Englisch?“

„Nein.“

„So hat man Sie dort als Deutschen an der Nase geführt. Was haben Sie dann angefangen?“

„Ich wendete mich nach St. Louis, wo ich bei Mr. Henry, dem Erfinder des berühmten fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzens, Arbeit nehmen und so viel wie möglich von seiner Kunst lernen und profitieren wollte, kam aber in der Stadt Napoleon am Arkansas und Mississippi in die Gesellschaft einiger Präriejäger, denen ich als Büchsenmacher recht war. Sie ließen mich nicht weiter und veranlassten mich, mit ihnen nach den Felsenbergen zu gehen. So bin ich ein Westmann geworden.“

„Und sind Sie zufrieden mit diesem Wechsel?“

„Ja. Lieber freilich wäre es mir, wenn ich meine hunderttausend Taler erwischt hätte und in dulci jubilo leben könnte, so wie Timpes Erben.“

„Hm! Das kann vielleicht noch werden.“

„Schwerlich! Mir ist später auch der Gedanke gekommen, dass der alte Josef Habakuk doch so reich gewesen und sein Neffe Nahum Samuel mit dem Geld entwichen sein könne. Ich habe nach ihm gesucht, mehrere Jahre lang, doch vergebens, wie ich Ihnen schon sagte.“

„Ich auch, und ebenso vergebens, doch nur bis vor kurzer Zeit, denn nun habe ich seine Spur.“

„Sei – ne – Spur? Wie – wa – wirk – lich?“, rief Kasimir, während er so schnell von seinem Sitz aufsprang, dass die Anwesenden aufmerksam wurden und ihre Blicke auf ihn richteten.

„Still, ruhig!“, warnte Hasael. „Man darf sich nicht so bald aufregen lassen. Ich habe aus ganz untrüglicher Quelle gehört, dass ein gewisser Nahum Samuel Timpe, früher Büchsenmacher und nun ungeheuer reich, jetzt in Santa Fe wohnt.“

„In Santa Fe da drüben? Da müssen wir hin, unverzüglich hin, wir beide, Sie und ich!“

„Bin damit einverstanden, Vetter. Es war natürlich meine Absicht, ihn aufzusuchen und zur Herausgabe des Geldes nebst Zinsen zu zwingen. Dass dies schwer, sehr schwer sein wird, habe ich mir nicht verhehlt, und darum freut es mich, Sie getroffen zu haben, denn zweien muss es leichter werden. Wir treten in einer solchen Weise vor ihn hin, dass er vor Schreck seine Schandtat eingesteht und das Geld augenblicklich aufzählt. Wir sind Westmänner und drohen ihm mit dem Gesetz der Prärie. Nicht?“

„Selbstverständlich, ganz und gar selbstverständlich!“, stimmte Kasimir höchst eifrig bei. „Welch ein Glück, dass ich Sie getroffen habe, Sie – Sie – Sie? Ist es nicht eine Dummheit, Vetter, uns Sie zu nennen, da wir so nahe Verwandte und Schicksalsgenossen sind?“

„Kommt mir auch so vor.“

„Also Brüderschaft machen, du sagen, nicht wahr?“

„Mir recht. Hier ist meine Hand; schlag ein! Wir füllen die Gläser wieder und leeren sie auf unser Wohl und auf das Gelingen unseres Vorhabens. Da, stoß an!“

„Prosit, Vetter, oder vielmehr: Prosit, lieber Hasael!“

„Prosit! Aber Hasael? Weißt du, man ist in den Staaten möglichst kurz, besonders mit den Namen. Man sagt Jim, Tim, Ben und Bob und spricht nicht alle Silben aus, wenn eine einzige genügt. Mein Vater sagte stets Has anstatt Hasael und ich habe mich daran gewöhnt. Mach du es ebenso!“

„Has? Hm! Dann müsstest du zu mir auch Kas sagen anstatt Kasimir?“

„Warum nicht?“

„Klingt das nicht sehr dumm?“

„Dumm? Unsinn! Es klingt, sage ich dir; mir gefällt es, und wie es andern klingen mag, das ist mir gleichgültig. Also nochmals prosit, lieber Kas!“

„Prosit, lieber Has! Aufs Wohl von Kas und Has, den neuesten Erben Timpes!“

Sie stießen still begeistert und nur leise ihre Gläser zusammen, um nicht die Aufmerksamkeit der andern Zecher auf sich zu ziehen. Dann meinte der dunkelköpfige Has: „Also auf nach Santa Fe! Aber das ist nicht so leicht und schnell ausgeführt, denn wir werden zu einem weiten Umweg gezwungen sein.“

„Warum?“, fragte der semmelblonde Kas.

„Weil wir durch das Gebiet der Komantschen müssten, wenn wir den kürzesten Weg einschlagen wollten.“

„Ich hörte doch nicht, dass diese Roten jetzt das Kriegsbeil ausgegraben haben!“

„Ich auch nicht; aber die Indsmen sind selbst im tiefsten Frieden kriegerisch und stets den Bleichgesichtern feind. Zudem traf ich gestern mit einem Pedlar[4] zusammen, der von ihnen kam. Du weißt, dass die Indsmen einem Pedlar fast niemals etwas Böses tun, weil sie ihn notwendig brauchen. Der sagte mir, dass der große Kriegshäuptling Tokvi Kava[5] jetzt nicht bei seinem Stamme sei, sondern sich mit einigen seiner besten Krieger entfernt habe, ohne zu sagen, wohin.“

„Tokvi Kava, der Jägerschinder? Das lässt allerdings vermuten, dass er wieder auf eine seiner Grausamkeiten sinnt. Ich fürchte mich wahrlich vor keinem Roten, aber sei man noch so mutig, besser ist es immer, einem solchen Burschen gar nicht zu begegnen. Darum schlage ich vor, lieber den Umweg zu machen und eine Woche später in Santa Fe anzukommen. Unser Nahum Samuel wird uns wohl nicht grad jetzt zum zweiten Mal davonlaufen.“

„Und wenn er liefe, wir haben seine Spur und würden ihn gewiss...“

Er wurde unterbrochen, denn der Engineer kam zurück und brachte noch zwei Männer mit. Kas und Has hatten im Eifer ihres Gesprächs das wiederholte Pfeifen einer Lokomotive überhört. Der Arbeitszug war angekommen, der Engineer hatte ihn abgefertigt und wurde nun bei der Rückkehr von seinem Aufseher und dem Magazinverwalter begleitet. Er nickte den beiden Westmännern grüßend zu und dann setzten sich die drei zu dem Mestizen an den für ‚Beamte und höhere Gentlemen‘ bestimmten Tisch. Sie ließen sich auch Grog geben und dann erkundigte sich der Mischling:

„Nun, Sir, sind Zeitungen angekommen?“

„Nein“, antwortete der Engineer, „die werden morgen erst eintreffen; aber Nachrichten habe ich erhalten.“

„Gute?“

„Leider nicht. Wir werden von jetzt an sehr wachsam sein müssen.“

„Warum?“

„Es sind in der Nähe der Rückstation Spuren von Indianern gesehen worden.“

Es war, als ob die halb unter den Lidern verborgenen Augen des Mischlings boshaft aufleuchteten, doch klang seine Stimme ganz gelassen, als er sagte:

„Das ist doch kein Grund, ungewöhnlich wachsam zu sein!“

„Ich denke doch!“

„Pshaw! Kein Stamm hat jetzt den Tomahawk des Krieges ausgegraben, und wenn es wäre, so darf man von einigen Fußstapfen nicht gleich auf Feinde schließen.“

„Freunde lassen sich sehen. Wer sich versteckt hält, der hat keine guten Absichten; das kann ich mir sagen, obgleich ich kein Scout und Westmann bin. Nun, Ihr seid ja ein tüchtiger Pfadfinder und in dieser Gegend bekannt; ich habe Euch angestellt, dass Ihr die Umgebung wachsam durchstreift.“

Durch die geschmeidige Gestalt und über das Gesicht des Mestizen ging ein leises Zucken, als ob er zornig auffahren wollte, doch beherrschte er sich wieder und antwortete in ruhigem Ton: „Ich werde es tun, Sir, obgleich ich weiß, dass es nicht nötig ist. Indianerspuren haben nur zur Kriegszeit böse Bedeutung. Und noch eins: Die Roten sind oft bessere und treuere Menschen als die Weißen.“